Führungen für Erwachsene in Museen – Standortbestimmung eines Formats
Einleitung
Neben Sammeln, Bewahren, Forschen und Ausstellen zählen auch Bilden und Vermitteln zu den Kernaufgaben, die Museen heutzutage definieren (Deutscher Museumsbund e.V./ICOM 2006; Deutscher Museumsbund/Bundesverband Museumspädagogik 2008; Nuissl et al. 1987). Die Vielfalt an museumspädagogischen Angeboten unterscheidet sich je nach Museumsgattung bzw. Sammlung, Zielgruppe, Methodik und zu vermittelndem Thema, und hängt u.a. davon ab, wie das Museum personal ausgestattet ist (Kunz-Ott et al. 2009; siehe: Matthias Hamann „Orte und Organisationsformen von Museen“; Doris Lewalter/Annette Noschka-Roos „Museum und formale Bildungsinstitutionen“). Obwohl Museen mit ihren vielfältigen Vermittlungsangeboten maßgeblich zu kulturellen Bildungsprozessen im Zuge des ‚Lebenslangen Lernens‘ beitragen (Haase 2008; siehe: Hannelore Kunz-Ott „Museum und Kulturelle Bildung“; Matthias Henkel „Museen als Orte Kultureller Bildung“), ist die Forschungslage zu Bildung und Vermittlung in Museen sehr heterogen (Hofmann 2015) und fokussiert u.a. primär Kinder und Jugendliche (Weschenfelder/Zacharias 1981; Donald 1991; Noschka-Roos 2012). Insbesondere sind bislang Untersuchungen aus einer erwachsenenorientierten Sicht ein Desiderat (Dufresne-Tassé 1995), vor allem solche, die das didaktische Arrangement von Museumsführungen in den Blick nehmen (Best 2012; Nettke 2010a; Tinio et al. 2010; Hofmann et al. 2013). Angesichts der offenkundigen Bedeutung von Museen als Lern- und Freizeitort für Erwachsene und weil das Format der Führungen als von erwachsenen BesucherInnen geschätzte Methode der Bildung, Vermittlung und Aneignung von Wissen anerkannt wird (Czech et al. 2014; Sachatello-Sawyer et al. 2002; Vieregg et al. 1994), ist dieses Defizit überraschend. Basierend auf anglo-amerikanischen und deutschen Studien zum Thema Führungen für Erwachsene in Museen gibt dieser Beitrag einen Überblick über das Format der „Museumsführung“ für erwachsene BesucherInnen, wie er sich aus akademischer Sicht aktuell methodisch und empirisch darstellt. Neben dem bisherigen Forschungsstand wird auch museumspädagogische Fach- und Ratgeberliteratur berücksichtigt.
Diesem Beitrag liegt das Verständnis von Vermittlung wie es in den Qualitätskriterien des Deutschen Museumsbunds und des Bundesverbands Museumspädagogik (2008:8) formuliert ist, zugrunde. Demnach sollen die verschiedenen Vermittlungsformen primär individuelle Auseinandersetzungen und Aneignungen mit den jeweiligen Museumsinhalten gewährleisten (Paetsch 2014). Die Kombination von „Wissensvermittlung und Teilnehmerorientierung mit dem Ziel der individuellen Aneignung“ (Nolda 2001:109) wird für diesen Beitrag folglich als maßgeblich angesehen (bzgl. Museen wird von Besucher- statt von Teilnehmerorientierung gesprochen (Kunz-Ott et al. 2009; Noschka-Roos 2012)).
Forschungsstand
Führungen sind national wie international das meistgenutzte Format ausstellungsbegleitender personaler Vermittlung für Erwachsene im Museum (Institut für Museumsforschung 1998, 2008; Specht/Semrau 2015; Noschka-Roos/Hagedorn-Saupe 2009; Nuissl et al. 1987). Sie werden als ein „optimal[es] Werkzeug der Wissensvermittlung“ (Czech et al. 2014:229) angesehen.
„The museum tour is one of the primary methods that museums use to deliver information and interpretive content to visitors […] [it] is an important vehicle for museums to mediate the interaction between their exhibitions and the general public.” (Tinio et al. 2010:37)
Führungen – eine Begriffsbestimmung
Führungen (im musealen Kontext) werden als Form der personalen und verbalen, an der BesucherIn orientierten Vermittlung von Wissen verstanden. Es sind zeitlich und inhaltlich strukturierte Interaktionen bzw. „Vermittlungsvorgänge“ (von Freymann 1988, 2004:112), bei denen die Dauer sowie die Beziehung zwischen vermittelnden MuseumsführerInnen und Besuchenden, ihr Rollenverständnis, durch den musealen und sozio-kulturellen Kontext vorgegeben sind (Pattison/Dierking 2013:118). Dabei werden „in einem pädagogisch strukturierten Setting […] innerhalb kurzer Zeit Informationen und Orientierung i[m] direkten Kontakt mit einer Besuchergruppe angeboten“ (Nettke 2013:437). Führungen zählen zudem „zur raumbasierten kommunikativen Gattung des Wissenstransfers“ (Nettke/Harren 2010:59). Über die sprachliche Vermittlung hinaus sind daher auch Aspekte wie Zeigen und Wahrnehmen sowie mobile (Führen+Folgen; Gehen) und stationäre (im Halbkreis, im Haufen usw. stehen) Phasen konstitutiv (Nettke 2010a, 2010b; Nettke 2016a). Thelma von Freymann (1988, 2004) spricht von Seh- und Hör- sowie Geh- und Steh-Erlebnissen, die eine Führung umfassen. Je nach Konzeption der Führung wird den Besuchenden ein Überblick über eine Ausstellung bzw. ein Museum gegeben oder es wird sich auf eine fachspezifisch-wissenschaftlich begründete bzw. zielgruppenorientierte Auswahl an Exponaten beschränkt (Czech et al. 2014:227; Rombach 2007 nach Lückerath 1993).
Das Format der Führung wurde in seinen Anfängen als traditionell monologische Führungsform verstanden. Heutzutage werden auch Führungen mit einem mehr dialogischen Charakter durchgeführt, in der VermittlerInnen u.U. die Rolle eines Moderators annehmen (Lielich-Wolf 2013; Schrübbers 2013; Tinio et al. 2010). „Dies entspricht einer modernen Auffassung weg vom Belehrenden hin zum Dialog mit den Museumsbesuchern, d.h. Vermittlung wird zur Verbindung zischen Museum und Besucher“ (Rombach 2007:88). In der Praxis sind die Grenzen zwischen (monologischer) Führung, Führungsgespräch und Dialog allerdings oft fließend (Czech et al. 2014:225). Generell erfreuen sich mehr dialogisch ausgerichtete Formate wie besucherzentrierte Moderationsformen, dialogische Führungen, Kunst- oder Bildgespräche zunehmender Beliebtheit. Auch Peer-to-Peer- und Living-/Oral-History-Ansätze kommen im Rahmen von Führungen zum Tragen (vgl. Nettke 2016b). Dass Führungen heutzutage nicht nur monologisch und für die Teilnehmenden rein systematisch-rezeptiv (siehe: Wiltrud Gieseke „Kulturelle Erwachsenenbildung“) sind, darauf weist eine Analyse von Ankündigungstexten von ausstellungsbegleitenden Bildungs- und Vermittlungsangeboten für Erwachsene aus 2014 der fünf museumspädagogischen Zentren in Deutschland hin (Specht/Semrau 2015). Diese zeigt, dass Führungen auch dialogisch-eigenaktive, sensorisch-haptische, selbsttätig-eigenaktive, aushandelnd-reflexive oder gedanklich-vorstellende Dimensionen, also aktive bzw. partizipative – nicht nur rezeptiv aufnehmende – Anteile für die teilnehmenden BesucherInnen umfassen können (Specht/Semrau 2016). Folglich werden Führungen heutzutage immer häufiger von handlungsorientierten Phasen der Eigentätigkeit, kurzen Übungen und Praxissequenzen unterbrochen (s. Nettke 2016a). Auch Katie Best (2012) weist in ihrer Studie zu Führungen und Audioguides darauf hin, dass diese oft keine reinen „pre-scripted monologues“ (ebd.:47) mehr sind.
Während einer Führung können verschiedene pädagogisch-didaktische Ansätze (entdeckend, forschend, spielerisch) Anwendung finden. Diese sind häufig anderen pädagogischen und/oder kommunikationswissenschaftlichen Disziplinen bzw. ihrer zugehörigen Fachdidaktik entliehen (Czech et al. 2014:198; Nettke 2016a:178). Die Bandbreite der Fülle würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, weswegen auf vier verschiedene und exemplarische Darstellungen verwiesen wird: Bei Nettke (2016a:170ff.) sind vier verschiedene pädagogische Lernformen und im europäischen Handbuch „Museen und Lebenslanges Lernen“ (Deutscher Museumsbund 2010:18ff.) vier allgemeinen Lern-Ansätze beschrieben. Auch Carmen Mörsch stellt auf ihrer Homepage zur Praxis der Kulturvermittlung drei verschiedene Lehr-Lern-Konzepte und fünf mögliche Partizipationsarten da, die in verschiedenen Methoden (bzw. Formaten) der personalen Vermittlung zum Tragen kommen können (http://www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung/v1/?m=0&m2=1&lang=d). Ferner findet man bei Czech et al. (2014:198ff.) einen Überblick, aus welchen Disziplinen und Fachrichtungen vermutliche welche methodischen Anregungen für die Vermittlungsarbeit im Museum abgeleitet wurden. Nicht auszuschließen ist zudem, dass in Zukunft ggf. performative (siehe: Malte Pfeiffer „Performativität und Kulturelle Bildung“) und inszenierende (siehe: Wolfgang Sting „Inszenierung“) Elemente die klassische personale Vermittlung im Rahmen von Führungen phasenweise ergänzen bzw. erweitern werden.
Führungen und ihre VermittlerInnen
VermittlerInnen sehen ihre Aufgaben häufig darin, dass Lernen von Besuchenden zu erleichtern, für sie eine angenehme Erfahrung zu ermöglichen, sie zum Austausch und einer aktiven Auseinandersetzung zu ermutigen und selbst das nötige Fachwissen zur Ausstellung bzw. zum Objekt zu besitzen (Sachatello-Sawyer et al. 2002:94ff.; Johnson et al. 2009:9; Taylor 2006).
Bei Führungen stehen VermittlerInnen insbesondere vor der Herausforderung auf oft sehr unterschiedlich zusammengesetzte Besuchergruppen eingehen zu müssen (von Freymann 1988, 2004). Diese Heterogenität entspricht dem allgemein eher heterogenen Besucherpublikum in Museen (Lewalter/Noschka-Roos 2010; Taylor 2006). Ein Vorteil gegenüber Audioguides ist, dass VermittlerInnen flexibel auf die teilnehmende Besuchergruppe reagieren und somit Menge und Art der vermittelten Information flexibel anpassen können (Camhi 2008; Tinio et al. 2010). Besonders effektiv um positive Führungserfahrungen zu ermöglichen, hat sich nach Dina Tsybulskaya und Jeff Camhi (2009) der Einbezug der sogenannten „entrance narratives“, der teilnehmenden Besucher/innen erwiesen. In ihrer Studie konnten sie belegen, dass es trotz Heterogenität möglich ist, individuelle Erfahrungen mit einem Führungsthema (hier: Bäume) zu erfragen (schriftlich und/oder mündlich) und in die Führung einzubauen. Gelang dies, so schätzen die Teilnehmenden anschließend ihre Führungserlebnisse auf verschiedenen Dimensionen (z.B. kognitiv, objektbezogen) deutlich höher ein, als in Führungen in denen die „entrance narratives“ nicht erfragt und eingebunden wurden. Eine Replikation und Validierung dieser Befunde zu anderen Themen und in anderen Museen steht allerdings noch aus.
Das Schlüsselelement einer jeden Führung ist nach Jeff Camhi (2008) die Präsentation eines Objektes. Zum Informationsfluss können diesbezüglich nicht nur die VermittlerInnen beitragen, sondern auch das Objekt und die BesucherInnen (vgl. auch Nettke 2016a). Camhi (2008) leitet u.a. aus Feldbeobachtungen und Sichtung von Fachliteratur sechs mögliche Interaktionswege zwischen VermittlerIn, Objekt und BesucherIn ab, die dazu beitragen können, die Präsentation von Objekten während einer Führung abwechslungsreicher und lebendiger zu gestalten:
- VermittlerIn zu Objekt,
- VermittlerIn zu BesucherIn,
- BesucherIn zu VermittlerIn,
- BesucherIn zu Objekt,
- Objekt zu VermittlerIn und
- Objekt zu BesucherIn (Camhi 2008:279ff.).
Häufig nutzen VermittlerInnen aber nur den unidirektionalen, in gewisser Weise formalen Weg von sich zu den Teilnehmenden (Camhi 2008). Über dieses didaktisierte Format hinaus mangelt es den Vermittelnden oft an einem breiteren Spektrum an möglichen Kommunikations- bzw. Interaktionswegen. Camhi geht außerdem davon aus, dass die unidirektionale (monologische) Form der Präsentation eher weniger dazu beiträgt, dass den individuellen Voraussetzungen („entrance narrative“), Interessen und Bedürfnisse der BesucherInnen Rechnung getragen wird. Ferner nimmt er in diesem Zusammenhang an, dass die BesucherInnen mit solchen Führungen zufrieden sind, weil sie nur monologische Führungen kennen und damit auch kein anderes Führungsformat erwarten. Empirische Belege für diese Annahmen gibt es bisher nicht.
Neben Zeigen und Wahrnehmen geschieht die personale Vermittlung in Führungen insbesondere über sprachliche Interaktion. Führungen sind daher anderen (non-formalen) Situationen der Wissensvermittlung insbesondere auf der sprachlichen Ebene strukturell ähnlich: Ein „Pädagoge kommuniziert mit einer Gruppe, wobei Vermittlung und Aneignung intendiert werden“ (Nettke 2010a:9). Die Sprache „schiebt sich in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Objekt und Betrachter“ (Weschenfelder/Zacharias 1981:202). Die Entschlüsselung der sprachlichen Interaktion kann somit wertvolle Hinweise zur Vermittlung und Aneignung liefern. Anhand seiner ethnomethodologischen Konversationsanalyse in Naturkundemuseen hat Tobias Nettke (2010a) so beispielsweise konkrete Führungsstile abgeleitet: Er unterscheidet den autokratischen und den partizipativen sowie den abstrakt-themenbezogenen und den konkret-objektbezogenen Arbeitsstil des Vermittelnden. Als Stile bezeichnet er „charakteristisch ausgeprägte Kombinationen von Praktiken, wie sie in einem Fall [einer Führung] oder in mehreren Sequenzen eines Falls regelmäßig auftreten. [Dabei] […] können innerhalb eines Falls mehrere Stile parallel auftreten oder sich phasenweise ändern“ (Nettke 2010a:452). Dass der Stil der VermittlerInnen bedeutsam für die Vermittlung und Aneignung innerhalb von Führungen ist, stellen auch Bonnie Sachatello-Sawyer et al. (2002) in ihrer breit angelegten Studie zu Bildungs- und Vermittlungsangeboten für Erwachsene in Museen im anglo-amerikanischen Raum heraus: „The docent’s teaching style and the content selected are critical factors in a tour’s success“ (ebd.:26). Ebenso belegen Pablo Tinio et al. (2010) mit ihrer Studie zu Führungen im Kunstmuseum, dass der Präsentationsstil, der Enthusiasmus und die Begeisterungsfähigkeit der VermittlerInnen für das Thema u.a. ausschlaggebend für die Teilnahme bzw. das Bleiben von Besuchenden bei einer Führung sind.
Hinsichtlich der Operationen, die durch VermittlerInnen während einer Führung bearbeitet werden, hat Nettke (2010a, 2010b) anhand seiner Konversationsanalyse zusätzlich drei Hauptaufgaben der VermittlerInnen während der Interaktion in einer Museumsführung (im Naturkundemuseum) identifiziert (Nettke 2010b:56f.):
- die Konstitution einer museumspädagogisch relevanten sozialen Ordnung, welche sich häufig in der Eröffnungsphase vollzieht,
- die Vermittlungsarbeit zu museumspädagogisch relevanten Inhalten durch Themen- und Raumarbeit, welche Nettke in der Kernphase einer Führung lokalisiert und
- das Lösen der museumspädagogisch relevanten Ordnung, am Ende einer Führung (Beendigungsphase).
Diese drei Hauptaufgaben gehören zum spezifischen Handlungsschema einer Führung (vgl. Johnson et al. 2009; Sachatello-Sawyer et al. 2002). Ein Handlungsschema wird von Nettke dabei als ein „Komplex von spezifischen Aktivitäten, mittels dessen Museumspädagogen und Teilnehmende eine Museumsführung interaktiv vollziehen“ (Nettke 2010a:350) definiert. Für die jeweilige Hauptaufgabe leitet er aus seiner Studie verschiedene Arbeitsschritte ab, die für die jeweilige Aufgabe kennzeichnend und in Tabelle 1 abgebildet sind.
Hauptaufgabe |
Kernaktivität |
Arbeitsschritte |
|
Eröffnungsphase |
Konstitution einer |
|
|
Kernphase |
Vermittlungsarbeit zu museumspädagogisch relevanten Inhalten durch Themen- und Raumarbeit |
Konstitution eines museums-pädagogisch relevanten Themenkorpus (Themenarbeit) |
|
Konstitution eines museums-pädagogisch relevanten Raums (Raumarbeit) |
|
||
Beendigungsphase |
Lösen der museumspädagogisch relevanten Ordnung |
|
Tabelle 1: Phasen, Kernaktivitäten und Handlungsmuster von Führungen nach Nettke (2010a:354ff.)
Als primäres Ziel der Wissensvermittlung bei Führungen können die „aktive Aneignung von faktischem Wissen und produktiven Erkenntnissen sowie weiterwirkender Motivationsimpulse“ (Zacharias 2013:8) determiniert werden. Schon seit der Öffnung der Museen für die breite Bevölkerung im Zuge der Aufklärung, war es Hauptaufgabe von Führungen kunsthistorisches, fachliches Wissen zu vermitteln sowie die BesucherInnen in die Wahrnehmung von ästhetischen Exponaten einzuführen. Entsprechend umfasst das Wissen, das vermittelt werden soll, hauptsächlich Wissen über KünstlerInnen, den Kontext, die Technik und das Material, die Funktionalität, den sozio-kulturellen Kontext der KünstlerInnen, die Bedeutung und Bekanntheit ihrer Werke usw. (Haberzeth 2009:68/74f.; Tripps 1994; Vieregg et al. 1994). Dass die BesucherInnen diese Art von Wissen bei Führungen hören möchten, belegen Free de Backer et al. (2015) in einer ihrer Studien zu pädagogischen Instrumenten in Kunstmuseen. Hier zeigt sich, dass die befragten BesucherInnen solche Bildungs- bzw. Vermittlungsangebote in Museen bevorzugen, die Informationen „about the making of, the artist’s purpose, the meaning of the artwork, the artist’s life, the material-technical side, the historical and social context, and the artwork’s position in the art movements“ (ebd.:160) vermitteln. Auch die Befunde von 28 Interviews mit Führungsteilnehmenden in einem Kunstmuseum von Tinio et al. (2010) unterstützen diesen Befund. Neben dem „Zuhören“ möchten Besucher/innen natürlich auch ihr eigenes und das Wissen der VermittlerIn anhand der Exponate nachvollziehen und entwickeln.
Die genannten Ziele, werden von Vermittelnden oft durch Operationen wie Beschreibung des relevanten Objekts, Vergleiche mit anderen Objekten, Herausstellung der Bedeutung und (ästhetischen) Schönheit des Objektes sowie der Einordnung des Objekts in seinen jeweiligen historischen und kulturellen Kontext konkretisiert (Camhi 2008:283f.). Die VermittlerInnen selegieren und organisieren dafür Informationen zu einem Objekt, KünstlerIn, einer Epoche usw. und präsentieren diese den Teilnehmenden einer Führung so, dass am Ende ein kohärentes Ganzes entsteht (Tinio et al. 2010). Das vermittelte Wissen kann von den Besuchenden dadurch stärker strukturiert angeeignet werden (Schwan 2015:68).
„Visitors emphasized the value of the expertise of the tour guide, the fact that the guide had already done the work of learning about the art and the artists, and that the tour guide could put all the information together in a fashion that made sense to the visitor. Visitors indicated that they probably could have accomplished this on their own, but the guide made it more readily available. Furthermore, there was less chance that something important might be missed.” (Tinio et al. 2010:44)
Neben dem Vermittelnden tragen selbstverständlich auch die Teilnehmenden durch Wortbeiträge, Fragen, Kommentare und/oder nonverbale Zeichen wie Gestik, Mimik zur Selektion und Präsentation von Inhalten bei. Insbesondere in dialogischen Konzepten nehmen die Teilnehmenden so Einfluss auf das Interaktionsgeschehen und den Führungsverlauf.
Damit die Teilnehmenden Orts-, Themen- und Objektswechsel während einer Führung folgen können, werden im Rahmen der sprachlichen Interaktion insbesondere Übergänge („transitions“, Johnson et al. 2009; Best 2012; „Überleitungen“, Nettke 2010a) sowie Aufmerksamkeitslenkungen (Zeigen) durch die VermittlerInnen bedeutsam (Nettke 2010a, 2016a, c). Nettke (2014:125) weist zudem auf verschiedene Fragetypen hin, die die Interaktion während einer Führung steuern können (z.B. Fragen nach dem Bekanntheitsgrad eines Objektes, Fragen nach der persönlichen Wahrnehmung usw.).
Führungen und ihre TeilnehmerInnen
Die Auseinandersetzung mit dem Präsentierten geschieht im Museum allgemein freiwillig, nicht linear, selbstbestimmt/-gesteuert, aktiv und konstruktiv im Sinne einer individuellen Aneignungspraxis (Falk/Dierking 1992, 2013; Hein 1998). Für öffentliche und freiwillig besuchte Führungen bedeutet dies, dass es den Teilnehmenden einer Führung frei steht dazu zu stoßen, zu gehen, nicht zu zuhören oder nicht hinzusehen.
BesucherInnen, die sich für die Teilnahme an einer Führung entschieden haben, wünschen sich in der Regel Informationen zum Museum, zur Ausstellung oder zu einzelnen Exponaten (de Backer et al. 2015). Das bedeutet, sie haben ein gewisses Erkenntnisinteresse (Tinio et al. 2010). Dass der Wunsch etwas zu lernen ein allgemeines Hauptmotiv für einen Museumsbesuch darstellt, darauf weisen zahlreiche Ergebnisse der Besucherforschung hin (zsf. Falk/Dierking 1992, 2013). Insbesondere die Vermittlung durch eine „reale Person“ wird bei Führungen von den Besuchenden wertgeschätzt, da es diese erlaubt Fragen zu stellen und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, was geschriebene Texte, Audioguides oder die Objekte selbst nicht vermögen (Tinio et al. 2010:42f.).
Spezifisch für Führungen kann zusätzlich davon ausgegangen werden, dass neben einem „Informations- und Orientierungsbedürfnis […] [BesucherInnen auch] Unterhaltung“ (Czech et al. 2014:229) sowie Zerstreuung, Entspannung und soziales Erleben suchen (Falk et al. 1998; Hood 1983; Moussouri/Roussos 2013; Packer/Ballantyne 2002). Auch „sinnlich-ästhetische Erfahrungen sowie unmittelbare, emotionalisierende Erlebnisse“ (Zacharias 2013:7) können Teil von Führungen sein. Dies hat Hofmann (2015) in seiner kunstpädagogischen Arbeit zu Bildgesprächen mit Kindern in Kunstmuseen herausgestellt. Als Resultat erweitert er das systemtheoretische Konzept der ‚pädagogischen Kommunikation‘ von Jochen Kade (1997) bezüglich möglicher Aneignungsprozesse mit ästhetischer Erfahrung (siehe: Fabian Hofmann „Vermitteln und aneignen lassen im Spiel der Differenzen. Pädagogische Kunstkommunikation in Schule und Museum“). Diese können – so seine konstruktivistische Perspektive – von den Vermittelnden lediglich angeregt, aber nie zielgerichtet herbeigeführt werden. Innerhalb eines Bildungsprozesses solle diesen „sinnlichen Anteile[n] der Wahrnehmungen und Empfindungen [der BesucherInnen, durch] Erkunden, Ins-bewusstsein-Rufen, Gewahrwerden […], Interpretieren, Deuten und Auslegen“ (Peez 2003:255) Sinn verliehen werden. Für dieses Bewusstmachen, Interpretieren, Deuten usw. bedarf es kompetenter VermittlerInnen, die diese affektiven und ästhetischen Erlebnisse weiterführen. Entsprechend argumentieren auch Vertreter des sogenannten „Bildgesprächs“ (Sprigath 1986; Faulstich 2008, 2012; Haberzeth 2009, 2014). Dieser aus der Erwachsenenbildung entwickelte, bis heute aber wenig beachtete, subjektwissenschaftliche Ansatz geht bei der Erschließung eines Bildes von einem Übergang zwischen sinnlicher Wahrnehmung zu systematischem Begreifen aus (Haberzeth 2009:319/327f.). Das Erschließen eines einzelnen Exponates erfolgt in diesem Zusammenhang aber erst mit Hilfe von Vermittelnden, die die erste sinnliche Erfahrung der BesucherInnen durch Auslegung, Ergänzung von Fach- und Kontextwissen sowie Schärfung von Wahrnehmungsmöglichkeiten hin zum tieferen Verständnis führen (Haberzeth 2014). Das Zugrundelegen einer individuellen Aneignungspraxis negiert daher in keiner Weise die Relevanz von Vermittlungstätigkeiten – im Gegenteil (vgl. Camhi 2008; Heimlich/Horr 2010; Tinio et al. 2010; Haberzeth/Kulmus 2011).
Fazit und Diskussion
Führungen sind – neben medialen Vermittlungsangeboten wie Labels, Audio- und Multimediaguide – die klassischen und verbreitesten Formen der personalen Vermittlung im Museum (Tinio et al. 2010; Nettke 2014). Dennoch zeigen die vorherigen Darlegungen, dass die Forschungslage zu diesem Format, insbesondere was erwachsene BesucherInnen angeht, in mancher Hinsicht defizitär ist. So finden sich zum Beispiel keine empirischen Studien, die die Seite der VermittlerInnen und ihre Operationen des Vermittelns, mit Blick auf mögliche (auch längerfristige) Wirkung bei den Teilnehmenden innerhalb dieses pädagogischen Settings, in den Blick nehmen (Taylor 2006, 2010). Dieses Desiderat zur Wirkungsforschung ist generell innerhalb der Kulturellen Bildung zu finden. Das Projekt „Forschungsfonds Kulturelle Bildung. Studien zu den Wirkungen Kultureller Bildung“ vom Rat für Kulturelle Bildung e.V. (vgl. http://www.rat-kulturelle-bildung.de/index.php?id=67 [27.09.2016]) verspricht diesbezüglich erstmals erfolgversprechende Befunde, auch wenn Erwachsene und Museumsführungen nicht Bestandteil sind. Zudem lassen sich kaum Untersuchungen finden, die das Interaktionsgeschehen während Führungen detaillierter analysieren (Best 2012). Die umfassendsten Arbeiten zu Kommunikations- und Interaktionsprozessen, beziehen sich bisher eher auf Gespräche, die zwischen Museumspersonal und Besuchenden, Familien und anderen Besuchenden während des Museumsbesuchs „nebenbei“ stattfinden (Leinhardt et al. 2002). Das am häufigsten vorkommende, pädagogische Kommunikations- und Interaktionsgeschehen einer Führung wurde – insbesondere für Erwachsene – bisher kaum berücksichtig (Ausnahme: Nettke 2010). Auch Studien in verschiedenen Museumsgattungen (außer Kunst- oder Naturkundemuseen) oder Vergleichsstudien finden sich kaum. Kurz: „Until now, the workaday practice of guided tours have been unexplored” (Best 2012:47).
Es gibt diverse Gründe für diesen Mangel: Beispielsweise ist nicht alles, was BesucherInnen aus einem Museumsbesuch „mitnehmen“, eindeutig messbar (Pekarik 2010; Stang 2010). Lerneffekt-Tests, wie sie im öffentlichen Bildungssystem eingesetzt werden, lassen sich in Museen in der Regel nicht durchführen (Donald 1991; Bell et al. 2009; Lewalter 2009; Deutscher Museumsbund 2010; Schwan 2015). Ferner ist die Trennung zwischen einzelnem Erlebnis (Führung) und ganzem Museumsbesuch bei Follow-up-Studien kaum zu gewährleisten. Hinzu kommt, dass Führungen mit Erwachsenen sehr unterschiedliche Gepräge haben können (z.B. Living-History-Führung, Expertenführung, Laienführung, Erlebnisführung usw.) und daher von sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Funktionen geprägt sein können (vgl. Nettke 2016a, 2016b). Da es sich – wie Nettke formuliert – bei der „Museumspädagogik weder um eine methodische Richtung, noch um eine genau umrissene Fachdisziplin“ (Nettke 2013:149; siehe auch Nettke 2016:178) handelt und sie als solche von unterschiedlichen Disziplinen und ihren methodischen Ansätzen geprägt wurde (z.B. von der allgemeinen Pädagogik, Erwachsenenbildung, Pädagogischen Psychologie, Spiel-/Theaterpädagogik, usw.), sollten Studien zu Museumsführungen folglich auch unterschiedliche Diskurse und Disziplinen berücksichtigen (Hofmann 2015; Tripps 1994; Weschenfelder/Zacharias 1981). Das bedeutet, es ist notwendig den Forschungsstand auch über Fachgrenzen hinaus mit einzubeziehen, was aber viele Ressourcen bindet. Zusätzlich werden je nach Fragestellung sowohl auditive als auch visuelle Daten benötigt, was den Erhebungs- und Auswertungsaufwand erheblich steigert (Nettke 2014). Diese und andere Gründe wie mangelnde Drittmittelfinanzierung, Teilnahmebereitschaft der Institutionen und Personen sowie Unterschiede in der musealen Aufarbeitung von Wissensständen tragen dazu bei, dass es wenig empirische Forschung zu Museumsführungen für Erwachsene gibt.
Umso bemerkenswerter sind die Arbeiten von u.a. Camhi (2008), Tsybulskaya und Camhi (2009), Tinio et al. (2010), Nettke (2010a), Best (2012) sowie de Backer et al. (2015), die erste Grundsteine für eine theoretisch-reflektierte Betrachtung der konstitutiven und spezifischen Elemente von Führungen, deren Funktion (Stichworte: Selektion, Organisation, Aufmerksamkeit, historische Einordnung) sowie der professionellen Praxis von Vermittelnden legen. So rekonstruiert Nettke beispielsweise Kernaktivitäten und Praktiken von Vermittler/inne/n (s. Tab. 1; vgl. Nettke 2014) und Camhi (2008) weist auf verschieden Interaktionswege hin, die während einer Führung genutzt werden können. Ebenso ist der flexible Umgang mit heterogenen Gruppen eine Herausforderung, die sich Vermittler/innen stellen müssen. Sie bedürfen Sach- und Vermittlungskompetenz sowie emotionale Präsenz (von Freymann 1998, 2004:122). Gleichfalls bedeutet ein Defizit innerhalb der empirischen Forschung nicht, dass Führungen nicht durchdacht, qualitativ hochwertig oder (pädagogisch) professionell gestaltet sind. Im Gegenteil, innerhalb der Praxis existieren umfassende Expertisen und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen (vgl. Standbein Spielbein, die einzige deutsche museumspädagogische Fachzeitschrift). Zum Beispiel das Handbuch von Fabian Hofmann et al. (2013), welches verschiedenste Beiträge zu Führungen, Workshops und Bildgesprächen aus der Museumspraxis vereint, gerade weil kaum „wissenschaftliche Studien über die konkrete Ausgestaltung und Wirkungen von Führungen“ (Hofmann et al. 2013:10) existieren. Dieses und andere Handbücher (vgl. Commandeur et al. 2016; Czech et al. 2014; Johnson et al. 2009; Cunningham 2004; Sachatello-Sawyer et al. 2002; Fast 1995; Vieregg et al. 1994; von Freymann 1998, 2004) spiegeln das umfassende praktische Wissen, welches sich über Generationen angesammelt hat, wieder. Dies zeigt sich auch in der Existenz, Publikations- und Tagungstätigkeiten diverser museumspädagogischer Fachverbände (z.B. Bundesverband Museumspädagogik (BVMP)). Oder in Hilfestellungen wie den Kriterien zur Beurteilung einer teilnehmerorientierten Ausstellungsführung (vgl. Schrübbers 2013:227). Folglich kann eine disparate Beziehung zwischen defizitärem Forschungsstand zu Museumsführungen für erwachsene BesucherInnen und umfassend praktischem Wissen, welches sich in der Professionalisierung pädagogischen Handelns (Nettke 2014, 2016b) zeigt, konstatiert werden. Ein in der Pädagogik bzw. Kulturellen Bildung generell bekanntes Theorie-Praxis-Dilemma.