Freie Gruppenimprovisation mit Erwachsenen im Spiegel von Musikschularbeit
Basisarbeit, Diversifizierung oder Bedrohung eines musikschulischen Kerns?
Abstract
Ausgehend von einer videographierten, experimentell ausgerichteten Improvisationsstunde mit Erwachsenen und darauf bezogenen Interviews beschäftigt sich dieser Beitrag mit der Frage, in welchem Verhältnis das hier gelebte und artikulierte Verständnis von musikalischer und musikpädagogischer Praxis zum Selbstverständnis der Institution Musikschule steht. Während aus der Perspektive der Gruppenmitglieder vor allem die Voraussetzungsoffenheit in Bezug auf instrumentale/gesangliche sowie allgemeinmusikalische Leistung und Kompetenz hervorgehoben wird, dokumentiert sich in den Lehrplänen deutscher und österreichischer Musikschulen ein intensives individuelles Üben am Instrument als Voraussetzung für erfülltes Musizieren. Die Rekonstruktion sowohl der Akteur*innen- als auch der Lehrplanperspektive führt zu der Frage, welchen Platz partizipative Gruppenmusizierangebote im Rahmen instrumental- und gesangspädagogischer Angebote einnehmen können. In diesem Zusammenhang wird zugleich erörtert, inwieweit die Implementierung derartiger Angebote mit dem habituellen Selbstverständnis musikschulischer Instrumental- und Gesangslehrkräfte vereinbar ist.
Musikschulen als Orte voraussetzungsoffenen Lernens?
Musikschulen in Deutschland und Österreich sind „öffentliche gemeinnützige Einrichtungen der Musikalischen Bildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene“ (VdM 2022a, siehe auch: Michael Dartsch „Außerschulische musikalische Bildung“); ihr Ziel ist es, „allen Schichten der Bevölkerung die Möglichkeit vertiefter musikalischer Bildung“ zu geben (KOMU 2007:10, siehe auch: Jürgen Oberschmidt „Facetten der Kooperation zwischen allgemeinbildenden Schulen und Musikschulen“). Obgleich die Forderung nach einer „offenen Musikschule“ bereits seit den 1990er Jahren immer wieder explizit formuliert wurde (vgl. Röbke 1994), so ist es doch vor allem die Inklusionsdebatte gewesen, durch die spätestens seit 2008 auch den Institutionen musikalischer Bildung die Entwicklung voraussetzungsoffener Angebote abverlangt wurde (vgl. VdM 2014).
Sieht man sich jedoch an, wie diese Verpflichtung zu Offenheit und Inklusion in den Leitbildern und Lehrplänen des Verbandes deutscher Musikschulen (VdM) und der Konferenz der österreichischen Musikschulwerke (KOMU) konkret ausbuchstabiert wird, wird man relativ schnell feststellen, dass eine umfassende Teilhabe immer wieder in Konflikt mit dem zugrunde liegenden musikpädagogischen Selbstverständnis gerät. Nicht nur, dass neue Zielgruppen (wie z.B. Erwachsene) mitunter eher additiv der eigentlichen Kernzielgruppe der Kinder und Jugendlichen hinzugefügt werden (vgl. VdM 2022a: „Die Offene Musikschule“, KOMU 2007:10), auch das Verständnis musikalischen Lernens scheint sich bei genauer Betrachtung weniger an individuell unterschiedlichen Bedürfnislagen des oder der Einzelnen als vielmehr an einem vorgegebenen Entwicklungsverlauf zu orientieren, der von den Lehrkräften „geführt“ werden muss (KOMU 2007:11) und dessen erfolgreicher Verlauf auf Seiten der Schüler*innen an „Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit“ geknüpft ist (KOMU 2007:11). Personen, die erfüllende Musiziererlebnisse suchen, aber der gewünschten Zielstrebigkeit nicht zu entsprechen scheinen, werden so automatisch zu Problemfällen.
Welche Rolle können innerhalb eines derartigen Selbstverständnisses Angebote spielen, die sich einer solchen Logik auf den ersten Blick zu sperren scheinen? Sind es bloße Zusatzangebote, die Musikschularbeit zwar bereichern, aber letztlich Fremdkörper darstellen? Oder lassen sie sich als essenzielle Träger musikalischer Bildungsprozesse begreifen, die eine Grundlage für instrumentales Lernen bilden und daher nach einer verstärkten Implementierung innerhalb der Musikschulen verlangen?
Wir gehen dieser Frage im Folgenden anhand einer Fallstudie nach, bei der Erwachsene mittleren und höheren Alters mit sehr unterschiedlichen instrumentalen Vorkenntnissen miteinander improvisieren und in Interviews über diese Praxis berichten. Konkret handelt es sich dabei um acht Teilnehmende einer Improvisationsgruppe, die sich seit zwei Jahren wöchentlich in einem Kulturhaus trifft. Unter der Anleitung von zwei mitmusizierenden professionellen Musikern und Musikpädagogen nutzen sie dabei ein vielfältiges Instrumentarium, dessen Beschaffenheit zu einem unmittelbaren musikalischen Umgang einlädt, ohne dass zwischengeschaltete Übeprozesse zwingend erforderlich wären. Unserer Untersuchung liegen der filmische Mitschnitt einer Improvisationseinheit sowie die Transkripte von Interviews zugrunde, die sowohl mit den Leitenden (einzeln, unmittelbar vor und nach der Einheit) als auch mit den Teilnehmenden (in Kleingruppen von zwei bis drei Personen, unmittelbar nach der Einheit) geführt wurden. Die Gespräche wurden als Leitfadeninterviews durchgeführt und nahmen die Perspektive der verschiedenen Gruppenmitglieder auf das regelmäßige gemeinsame Tun in den Blick.
Sowohl in Bezug auf die dokumentierte Improvisationspraxis als auch hinsichtlich der verbalen Stellungnahmen der Teilnehmenden gewährt das Material vielfältige Einblicke. Gegenstand einer Annäherung könnte eine Analyse der musikalischen Interaktion, ebenso aber auch ein systematischer Abgleich zwischen der musikalischen Praxis und den Urteilen, Wünschen und Überzeugungen sein, die die Teilnehmenden mit dieser Praxis verbal in Verbindung bringen. Die musikalischen Aspekte der Improvisationseinheit werden in diesem Beitrag nicht weiterverfolgt, hierzu planen wir eine ausführliche Darstellung in einem weiteren Text. Stattdessen soll es im Folgenden um die Frage gehen, in welchem Verhältnis die Selbstbeschreibungen der Gruppenmitglieder zu den Selbstbildern stehen, die deutsche und österreichische Musikschulen von ihrer instrumental- und gesangspädagogischen Arbeit zeichnen. Dazu werden wir zunächst die Erfahrungen und Intentionen der hier beobachteten Gruppe rekonstruieren (Abschnitt Selbstbeschreibungen der Gruppe). In einem zweiten Schritt fragen wir dann, wie sich diese Erfahrungen zu den Zielbeschreibungen verhalten, die in den offiziellen Verlautbarungen der Musikschulverbände bzw. -werke zum Ausdruck kommen (Abschnitt Zielbeschreibungen in den Lehrplänen von VdM und KOMU). Allerdings wollen wir uns nicht mit dem Nachweis eventuell bestehender Inkompatibilitäten begnügen. Vielmehr zielt unser Nachdenken über die hier beobachtete Praxis auch auf die Frage ab, ob und inwieweit ein solch voraussetzungsoffenes Setting, das auf den ersten Blick keinen langfristigen Zielen zu unterliegen scheint, nicht doch Elemente enthält, die sich mit den impliziten und expliziten Zielen der Lehrpläne in Übereinstimmung bringen ließen.
Uns ist bewusst, dass weder Selbstbeschreibungen der Verbände/Musikschulwerke noch offizielle Lehrpläne für sich in Anspruch nehmen können, die musikschulische Praxis vor Ort in ihrer Vielfalt genau abzubilden. Allerdings gehen wir davon aus, dass die von den Verbänden/Musikschulwerken artikulierten Leitlinien von Musikschularbeit gerade angesichts der Tatsache, dass diese regelmäßig überarbeitet und neu formuliert werden, in einer Beziehung zum Praxisfeld stehen und insoweit indirekt etwas über das Selbstverständnis eines Teils, wenn nicht gar des Großteils der Akteur*innen verraten (vgl. hierzu Abschnitt Ausblick). Mit den folgenden Überlegungen wollen wir einen Beitrag zu der Frage leisten, ob und inwieweit die hier beobachtete Praxis anschlussfähig an instrumental- und gesangspädagogische Selbstverständnisse ist, wie sie beispielsweise an Musikhochschulen gelehrt und von Verbandsseite formuliert werden.
Selbstbeschreibungen der Gruppe
Musikalische Gruppenimprovisation wird im musikpädagogischen Diskurs häufig als eine voraussetzungslose und somit inklusive Praxis beschrieben (vgl. Treß 2022:118). Ausgehend von dem diagnostizierten und bereits skizzierten Spannungsfeld zwischen Teilhabeanspruch und Erwartungshaltungen in der Musikschularbeit wurde in der Auswertung der Interviews daher gezielt nach Selbstbeschreibungen der Gruppe in Bezug auf Voraussetzungen der Gruppenteilnahme gesucht und deduktiv kodiert. Die Leitfrage hierbei war: Inwieweit nimmt sich diese Gruppe als heterogen wahr und welche Bedeutsamkeit schreiben die Gruppenmitglieder diesen Heterogenitätsmerkmalen in Bezug auf ihre Mitwirkung zu?
Leistungsheterogenität
Anne Niessen formuliert, auf einen schulischen Kontext bezogen, „dass Heterogenitäten immer im Hinblick auf bestimmte Themen konstruiert werden“ (Niessen 2015:109). In den Interviews scheinen drei Merkmale bzw. Differenzlinien auf, welche als besonders relevant erachtet werden: Das Alter, die Konstanz der Teilnahme und besonders deutlich das Thema der Leistung bzw. Professionalität. In Hinblick auf die Faktoren Alter und Konstanz der Teilnahme wird die Gruppe als relativ homogen beschrieben: allesamt nicht mehr ganz jung (vgl. Teilnehmendeninterview/TNI 3, Leitendeninterview/LI 2) und bereits seit einiger Zeit und regelmäßig dabei – es ist die Rede vom „harte[n] Kern“ (TNI 1, TNI 2). In Bezug auf das Merkmal Leistung – welches in den Interviews sehr präsent ist – wird betont, dass es innerhalb der Gruppe deutliche Unterschiede gibt (und geben darf). Die Teilnehmenden unterscheiden sehr genau zwischen „gelernten Musikern“ (TNI 2) bzw. „Berufsmusiker[n]“ (TNI 3) auf der einen und „Nichtmusiker[n]“ (TNI 2) bzw. „Laien“ (TNI 1, TNI 3) auf der anderen Seite. Dabei ist interessant, dass keineswegs nur die beiden Anleitenden zur ersten Gruppe gezählt werden. Es wird gesagt, es gäbe in der Gruppe „vier Profimusiker und […] einige Laien“ (TNI 1), was sich auch in den Ausbildungswegen widerspiegelt, welche die Teilnehmenden in Sozialdatenfragebögen skizzieren.
Erfüllendes Musizieren ohne vorgeschalteten instrumentalen Kompetenzerwerb
Diese von den Teilnehmenden als leistungsheterogen beschriebene Musiziersituation wird als etwas Besonderes in musikpädagogischen Kontexten dargestellt. Die Gruppe zeichnet dabei ein Bild musikpädagogischer Arbeit, das als eine Art Gegenmodell zu jenen Arbeitsformen fungiert, die Teilnehmende in anderen biografischen Kontexten kennengelernt haben. Einer erzählt: „Bin aus dem Schulchor rausgeschmissen worden. Vor langer, langer Zeit“ (TNI 1). und eine andere: „Also mir ist das ganz bemerkenswert und wichtig, dass ich hier mal Musik machen kann ohne ein Instrument wirklich spielen zu können und auch keine Ahnung von Musik habe: Ich kann keine Noten lesen, ich könnte auch nach Noten nie eine Melodie spielen. Aber es ist einfach möglich hier mit andern zusammen zu klingen, zu tönen und dabei etwas Schönes hervorzubringen [...] also das ist einfach auch etwas, was Spaß macht und so den Weg wieder öffnet auch Musik mal von der anderen Seite, als nur vom Hören, zu erleben“ (TNI 2). Die Gruppenmitglieder nehmen ihr Setting also als, im Gegensatz zu anderen Musizierkontexten, voraussetzungsoffen in Bezug auf das Merkmal Leistung wahr.
Das aktive Musizieren wird als intensiv und sehr gewinnbringend beschrieben: „Ja, es kam eine Spielfreude auf. Und es war natürlich auch eine größere Intensität in gewisser Weise. Was natürlich, das kann man nicht planen. Das ist passiert. Diese Intensität. Die kam und es wurde dann zwischendurch auch richtig heftig. Beinah ausgelassen und wir hatten dann richtig Spaß“ (TNI 3). „Durch das Musizieren und die Stimme auch, kommen, kann ich einfach Spannung und Stau abbauen und fühle mich dann einfach besser danach und freier und gelöster einfach auch auf der Ebene“ (TNI 1). Das Spielen in der Gruppe wird also als erfüllende Musiziersituation erlebt, ohne einen vorgeschalteten instrumentalen oder musiktheoretischen Kompetenzerwerb vorauszusetzen.
Auf anderen Ebenen, etwa der Musizierhaltung, wird die Teilnahme durchaus an Voraussetzungen geknüpft, zum Beispiel wenn von „Lauschen“ (im Sinne eines achtsamen Hinhörens) als dem „einzige(n) Gesetz“ (TNI 1) gesprochen wird. Auch von Seiten der Anleitenden werden Voraussetzungen auf einer Haltungsebene benannt: „Jeder kann mitmachen, keiner wird weggeschickt, vorausgesetzt, man achtet die Grundbedingungen: eben Achtsamkeit gegenüber den anderen“ (LI 2). Auf der Ebene musikalischer Grundlagen abseits der instrumentalen Fertigkeiten werden zudem Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Gruppe betont: „Und was mein Interesse daran ist, ist das Hören auch etwas auszubilden: Leisere Töne zu hören, differenzierter zu hören, unvoreingenommener zu hören, und das ist auch etwas, was sich sehr gut üben lässt in einer solchen Gruppe“ (TNI 2).
Musiziergemeinschaft im Sinne einer Community of Practice?
Die Selbstdarstellung der Gruppe als leistungsheterogene Musiziergemeinschaft, in der die Konstanz der Teilnahme eine relevante Rolle spielt, legt einen Bezug zur in der Instrumental- und Gesangspädagogik viel diskutierten Lerntheorie des Situated Learning nahe (vgl. Lave/Wenger 1991, Röbke 2009, 2010, Ardila-Mantilla 2016:421ff, Göllner 2017:214ff, Ardila-Mantilla/Busch/Göllner 2018). Wäre diese Gruppe also als eine Form der Community of Practice zu denken, die sich durch eine gemeinsame soziale Praxis von Noviz*innen und Expert*innen auszeichnet, ohne eine explizite Unterweisung in den Mittelpunkt zu stellen?
Tatsächlich wird das Bild einer zurückhaltenden, wenig direktiven Anleitung skizziert: „dass wir ganz frei, ohne Anleitung quasi und nur wenn jemand Neues da ist, dann tut [Leiter 1] oder [Leiter 2] eine Einführung geben, dass die bisschen Bescheid wissen, aber wenn, wir machen das jetzt schon so lange zusammen und wir wissen, um was es geht. Und dann legen, dann tun wir einfach auch aus der Stille heraus loslegen.“ (TNI 1) Die Anleitenden sehen sich selbst in einer Art Gastgeberrolle, welche aber auch von anderen, erfahrenen Gruppenteilnehmenden übernommen werden kann: „Es kann aber sehr wohl sein, dass ein Gast selber dann zum Gastgeber wird, wenn er diese Regeln sehr stark in sich spürt und auch lebt. Und dann wird das eigentlich wirklich auch immer mehr zum Gemeinsamen – gemeinsamen offenen musikalischen Prozess“ (LI 1). Die Grenzen zwischen Anleitenden und Teilnehmenden werden also als fließend empfunden, die gemeinschaftliche Musizierpraxis steht im Mittelpunkt, nicht die formale Unterweisung. Die Anleitung beschränkt sich auf die Ermöglichung der Teilhabe an der Musizierpraxis und tritt in den Hintergrund, sobald dies erreicht ist. Das Bild der Gastgeberschaft legt Bezüge zum Konzept der Community Music nahe (vgl. Higgins 2017:53ff., siehe auch: de Banffy-Hall, Alicia/Hill, Burkhard: „Community Music: Eine Einführung“).
Zielbeschreibungen in den Lehrplänen von VdM und KOMU
Um die Zielvorgaben für Musikschulen näher zu beleuchten, sollen nachfolgend die Lehrpläne des VdM und der KOMU in den Blick genommen werden. Die KOMU ist eine „Expertenkonferenz der Verbindungsstelle der [österreichischen] Bundesländer“ unter Einbeziehung Südtirols, mit deren Hilfe die Bundesländer „ihre Gesetze, Lehrinhalte und Aktivitäten im Musikschulbereich“ koordinieren (KOMU 2007:6). Die Lehrpläne der KOMU bestehen aus vier partizipativ entwickelten Modulen: einem visionären Wegweiser, einer Literaturdatenbank, einem pädagogisch-didaktisch-psychologischen und einem fachspezifischen Teil (vgl. KOMU 2007:5) und gelten als „Richtschnur der Musikschularbeit in Österreich“ (vgl. KOMU 2022). Die für jedes Ensemble- bzw. Unterrichtsfach herausgegebenen Lehrpläne des VdM verstehen sich als „Rahmenlehrpläne, die allgemeine Unterrichtsziele für das betreffende Fach formulieren“ (vgl. VdM 2022b). Sie beinhalten einen allgemeinen Teil, in dem neben der Vorstellung des Strukturplans des VdM auch allgemeine Lernziele formuliert sind, sowie jeweils fachspezifische Teile. Der VdM möchte den Lehrenden mit den Lehrplänen „Anregungen und Hilfestellungen anbieten“ (VdM 2013:13). Er bezieht sich dabei auf den Strukturplan, der „das vollständige Angebot einer Musikschule“ (VdM 2013:3) darstellt und für alle Mitgliedsschulen verbindlich ist (vgl. VdM 2009).
Im Folgenden sollen nun die in den allgemeinen Teilen der Lehrpläne proklamierten Maximen von Unterrichtspraxis in Bezug auf das gemeinsame Musizieren dargestellt und den Selbstbeschreibungen der Akteur*innen der hier thematisierten Gruppenimprovisation gegenübergestellt werden. Trotz vorhandener Unterschiede lassen sich in den allgemeinen Teilen der Lehrpläne der KOMU und des VdM auch gemeinsame Tendenzen ausmachen, die in der nachfolgenden Betrachtung im Mittelpunkt stehen werden. Anhand dieser gemeinsamen Tendenzen sollen vier mögliche Rollen diskutiert werden, die ein solches Angebot einer leistungsbezogen voraussetzungsoffenen Improvisationsgruppe im Musikschulkontext einnehmen könnte.
Beziehungslosigkeit?
Lässt sich an den gegenwärtigen Lehrplänen, im Gegensatz zu älteren Versionen, durchaus die Tendenz zu einem eher ganzheitlichen Zugang zur Musik (vgl. VdM 2013:14, KOMU 2007:11,16) und einem verstärkten inklusiven Anspruch ablesen (vgl. VdM 2013:2, KOMU 2007:10), so werden gleichzeitig sinnerfülltes Musizieren und musikalisches Lernen noch immer an Langfristigkeit und ein intensives häusliches Üben gekoppelt. Beide Aspekte werden als zentral für musikschulische Arbeit angesehen. So ist im Lehrplan des VdM zu lesen: „Mehrjähriger, kontinuierlicher Unterricht führt zu einem Ergebnis, das […] den Anforderungen eines sinnerfüllten Musizierens besonders gerecht wird“ (VdM 2013:4). Die KOMU stellt dem Musizieren ohne intensives Üben sogar ein Scheitern in Aussicht. So heißt es hier: „Ohne eine intensive häusliche Beschäftigung mit Musik und Instrument ist das musikalische Lernen zum Scheitern verurteilt“ (KOMU 2007:28). Da, wie oben gesehen, für die Teilnahme an der Gruppenimprovisationsstunde Instrumental- oder Gesangsunterricht und das häusliche Üben weder erforderlich noch gar vorgesehen sind – hier lässt sich eine Parallele zu vielen außermusikschulischen Chorvereinigungen feststellen –, muss also gefragt werden, wie ein Musizieren, für das ein Instrumental- und Gesangsunterricht nicht konstitutiv ist, in ein Angebot innerhalb der Musikschule hineinpassen soll. Muss hier aufgrund der nicht vorhandenen Anschlussfähigkeit an die anderen Angebote von einer Beziehungslosigkeit gesprochen werden? Wäre ein solches Angebot nicht vielleicht sogar inkompatibel, weil es einen Grundpfeiler der Musikschularbeit – nämlich die Bedingung des häuslichen Übens und einen definierten instrumental-technischen Anspruch – in Frage stellt?
Bedrohung?
Die Lehrpläne des VdM scheuen sich nicht, die subjektive Bedeutsamkeit des aktiven Musizierens normativ als etwas auszuweisen, dass ausschließlich im mehrjährigen Unterricht entwickelbar ist (vgl. VdM 2013:6). Dies steht in größtmöglichem Gegensatz zu den Selbstbeschreibungen der Akteur*innen der Gruppenimprovisationsstunde: Sie erleben das Musizieren und die Musik als bedeutsam und gleichzeitig hinsichtlich spieltechnischer Fertigkeiten als voraussetzungsoffen. Ist ein solches Format deshalb aus Sicht der Musikschulen als Bedrohung zu sehen, da es auch ohne jahrelangen Instrumental- oder Gesangsunterricht ein als erfüllend wahrgenommenes Zusammenspiel ermöglicht?
Bindeglied und Basisarbeit?
Über die rein instrumentaltechnischen Fähigkeiten hinaus werden allerdings auch andere Aspekte des Musikmachens als musikschulische Ziele formuliert – beispielsweise durch die KOMU die „musikalische und persönliche Selbständigkeit und Eigenverantwortung der SchülerInnen“ (KOMU 2007:25) und durch den VdM Aspekte wie Hörschulung oder musikalische Kommunikation (vgl. VdM 2007:5,7). Diese Fähigkeiten werden übergreifend für jeden Musizierunterricht als wichtig erachtet, sie sollen im Instrumental- und Gesangsunterricht erlernt und im Ensembleunterricht angewandt werden (vgl. VdM 2007:5). Wenn die Annahme zutreffen sollte, dass sich solche grundlegenden musikbezogenen Fähigkeiten von einem auf andere Musizierkontexte übertragen lassen oder zumindest in sie ausstrahlen können, so stellt sich die Frage, ob diese Fähigkeiten ausschließlich im Instrumental- oder Gesangsunterricht erworben werden oder ob sie auch direkt in der Ensemblearbeit erlernt werden können. Für Martin Eibach stellt das Improvisieren „eine eigenständige Lernform des Musizierens dar“, die unter anderem eine „Förderung der Selbststeuerung musikalischer Lernprozesse“ mit sich bringt (Eibach 2014:59). In der untersuchten Gruppenimprovisationsstunde wird stilistisch ungebunden und vielfältig improvisiert und es greifen Phänomene, die als musikalische Kernerfahrungen gelten können (z.B. das aufeinander Hören). Unter diesem Blickwinkel scheint diese Gruppenimprovisationsstunde nun sehr gut im Musikschulkontext vorstellbar. Könnte ein Angebot, das von stilistischer Offenheit geprägt ist und möglicherweise, wie Eibach es prinzipiell für elementare Improvisation konstatiert, „auf unterschiedlichen Alters- und Niveaustufen die ,Lust, sich musikalisch auszudrücken‘“ (a.a.O.:60) befriedigt, die genannten Stufen vielleicht sogar verbinden? Könnte ein solches Angebot damit die Funktion eines Bindeglieds einnehmen, indem es sich explizit übergeordneten bzw. grundlegenden Musizierfähigkeiten widmet? Oder könnte es sogar im Sinne eines musikalischen Ernstfalls (vgl. Röbke 2010) als Grundlagenarbeit im Bereich musikalischer Kernerfahrung „Lücken schließen“ (Kieseritzky/Schwabe 2013:171), wie es Herwig von Kieseritzky und Matthias Schwabe vorschlagen?
Diversifizierung?
Musikschulen wollen für alle da sein – dies ist jedenfalls der Anspruch, der sich in den Lehrplänen niederschlägt (vgl. VdM 2013:12). Laut KOMU sollen Angebote für Menschen in jedem Lebensalter und auf unterschiedlichem Leistungsstand gemacht sowie ein „weit gespannter Begriff des Musizierens“ (KOMU 2007:19) zugrunde gelegt werden. Darüber hinaus erfährt gerade das „Zusammenspiel schon von Anfang an“ (a.a.O.:14) eine ungemeine Bedeutung und wird „als zentrale Aufgabe der Musikschularbeit“ (VdM 2013:5) angesehen. Doch wie sieht dieses gemeinsame Musizieren von Anfang an an Musikschulen aus? Welche Angebote gemeinsamen Musizierens machen die Musikschulen bspw. Menschen höheren Alters mit geringem Leistungsstand? Die KOMU nimmt sich vor, einer Vielfalt an unterschiedlichen Bedürfnissen, Ansprüchen, persönlichen Motiven, soziokulturellen Prägungen, Voraussetzungen, Altersstufen und musikalischen Ausdruckswünschen zu entsprechen und sieht ein Qualitätsmerkmal in der Abdeckung dieser verschiedenen Bedarfe (vgl. KOMU 2007:21). Könnte ein leistungsbezogen voraussetzungsoffenes Angebot, das sich auch an Erwachsene richtet, evtl. vernachlässigte Zielgruppen ansprechen und damit zu einer Diversifizierung des Musikschulangebots beitragen?
Ausblick
Der Vergleich zwischen den in den Lehrplänen des VdM bzw. der KOMU gefundenen Maximen mit einigen Parametern des oben beschriebenen Gruppenimprovisationsangebotes lässt ein ambivalentes Bild hervortreten. Einerseits scheint ein derartiges Angebot zumindest teilweise den Zielsetzungen der Verbände entgegen zu kommen. Andererseits wird deutlich, dass die Voraussetzungsoffenheit dieses Angebots in Bezug auf instrumentale bzw. vokale Vorkenntnisse nicht ohne weiteres in den Kontext einer im Kern instrumental- und gesangspädagogischen Institution passt.
Natürlich ließe sich einwenden, dass derartige Angebote an Musikschulen im Rahmen der Elementaren Musikpädagogik (EMP) sehr wohl ihren Platz haben (siehe: Michael Dartsch „Elementare Musikpädagogik. Zur Theorie und Praxis einer Disziplin Kultureller Bildung“). Doch diese Argumentation wäre ein gefährlicher Bumerang, denn sie provoziert den Umkehrschluss, dass die eigentliche Instrumental- und Gesangsausbildung gerade dort beginnt, wo verbindliche Voraussetzungen definiert werden (wie etwa regelmäßiges häusliches Üben). Instrumental- und Gesangslehrkräfte würden durch die Delegierung voraussetzungsoffener Angebote an die EMP indirekt von der Verpflichtung entbunden, sich mit Musizierformen auseinanderzusetzen, die möglicherweise gerade wegen ihrer Abkoppelung von einer Voraussetzungslogik einen unmittelbaren Zugriff auf basale Musiziererfahrungen gestatten, die auch für auf Langfristigkeit ausgelegte Lernwege von großer Bedeutung sein können.
Da Lehrpläne nicht unbedingt dem Selbstverständnis der an der jeweiligen Institution tätigen Akteur*innen entsprechen müssen, sind Studien notwendig, die dieses Selbstverständnis genauer beleuchten. In Bezug auf den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen ist dies u.a. durch das Konstrukt des Individualkonzepts versucht worden, das die Vermittlung zwischen didaktischer Theorie und Praxis in der Person des jeweiligen Musiklehrenden in den Blick nimmt (vgl. Niessen 2006). In Bezug auf Instrumental- und Gesangslehrkräfte greift Martin Losert das erziehungswissenschaftliche Konstrukt der Pädagogischen Grundüberzeugungen auf, mit dem grundsätzliche Haltungen gekennzeichnet werden, die für Lehrende der Instrumental- und Gesangspädagogik handlungsleitend sind (vgl. Losert 2015:45ff.). Nicht thematisiert wird in beiden Ansätzen jedoch die Frage, inwieweit das institutionelle Umfeld zu einer Herausbildung und Stabilisierung derartiger Überzeugungen beiträgt.
Auch wenn eingehende empirische Studien in Bezug auf diese Frage bislang noch fehlen, gibt es doch eine Reihe von Indizien, die darauf hinweisen, dass sowohl die biografisch erworbenen Werthaltungen als auch das institutionelle musikschulische Umfeld oftmals genau jene Offenheit gegenüber voraussetzungsoffenen Musizierangeboten erschweren, die nötig wäre, um Angebote wie das hier beschriebene Setting zu einem zentralen Baustein instrumental- und gesangspädagogischer Tätigkeit zu machen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf Andreas Doernes Vision von Musikschule als einem „Musizierlernhaus“ hinzuweisen (Doerne 2019), deren Innovationspotenzial indirekt auf Schieflagen gegenwärtiger Musikschularbeit schließen lässt. Doerne führt diese Schieflagen unter anderem auf habituelle Grundeinstellungen der Lehrenden zurück, die von der Überzeugung geprägt sind, dass jegliches Musizierenlernen auf das Engste an die Entwicklung spieltechnischer Expertise geknüpft sein muss. Diese Einstellung zeigt sich für ihn insbesondere an der Haltung, die viele Lehrkräfte gegenüber der Dimension des Spiels an den Tag legen (vgl. Doerne 2017). In Anlehnung an entsprechende Beobachtungen Peter Röbkes (vgl. Röbke 2000:326ff.) diagnostiziert Doerne „gerade bei klassisch sozialisierten Gesprächspartnern häufig [...] eine Mischung aus spontaner Skepsis und Gleichgültigkeit“ (Doerne 2017), sobald es um die spielerischen Aspekte des Musizierenlernens geht. Diese Skepsis äußert sich in „Glaubenssätzen“ wie etwa dem, dass es sich beim Spiel um „eine leichte Tätigkeit“ handelt, „die zu nichts Gehaltvollem führen kann“, primär „etwas für kleine Kinder“ sei und einen fundamentalen Gegensatz zum Lernen darstelle (ebd.). Unterstützt wird diese Annahme durch eine Studie von Matthias Krebs, die unter Musikschullehrkräften „eine kulturell verankerte, handwerkliche Diskurslogik [...] der sich schrittweise steigernden Fertigkeiten [erkennt], was sich am Stufenmodell Lehrling – Geselle – Meister orientiert. Es gelte, intensiv und lange zu proben und seinen Erfolg hart zu erarbeiten“ (Krebs 2021:225).
Derartige Positionen weisen darauf hin, dass ein voraussetzungsoffenes Angebot, wie es in diesem Beitrag beschrieben wird, nicht unbedingt mit dem habituellen Selbstverständnis der musikschulischen Instrumental- und Gesangspädagog*innen korreliert. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Berufsbiografien von Instrumental- und Gesangslehrkräften noch immer wesentlich von den Ansprüchen instrumentaler bzw. vokaler Exzellenz geprägt sind, in deren Logik die Fähigkeit zum gemeinsamen Musizieren als Folge (und eben nicht als Basis) instrumental- bzw. gesangstechnischer Fähigkeiten begriffen wird (vgl. Lessing/Stöger 2018). Die Überzeugung, dass spieltechnische Voraussetzungsoffenheit nicht zwangsläufig als Minderung von musikimmanenten Niveauansprüchen begriffen werden muss – eine Erkenntnis, von der sich die Arbeitsweisen der Elementaren Musikpädagogik seit langem leiten lassen (vgl. Dartsch/Meyer/Stiller 2020) und die auch in der instrumental- und gesangsdidaktischen Literatur immer wieder akzentuiert wird (vgl. Rüdiger 2007) – scheint angesichts der Dominanz, die der instrumentalen bzw. vokalen Expertise in einem instrumental- oder gesangspädagogischen Studium zugemessen wird, bei vielen Musikschullehrkräften nicht so ausgeprägt zu sein, dass sie sich zu einer handlungsleitenden Orientierung verdichten könnte.
Allerdings ist zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen einer musikalischen Interaktionsfähigkeit, wie sie sich bei einem voraussetzungsoffenen Improvisieren herausbilden mag, und einem empathischen Reagieren, etwa im kammermusikalischen Rahmen, noch keineswegs als gesichert angenommen werden kann. Innerhalb der EMP und der an Bedeutung stetig zunehmenden Community Music stellt sich diese Frage nicht, weil der Erwerb einer langfristigen instrumentalen/gesanglichen Expertise hier dezidiert nicht im Fokus steht. Umso wichtiger ist es, dass die Instrumental- und Gesangspädagogik als jene Disziplin, die die Ansprüche eines voraussetzungsoffenen Musizierens mit denen eines instrumentalen bzw. vokalen Expertiseerwerbs ausbalancieren muss, nicht allein in den hochschulischen Lehrveranstaltungen, sondern auch in ihrer Forschung den Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen beiden Dimensionen künftig verstärkt nachgeht.