Fotografie in der Kulturellen Bildung
Der subjektive Blick auf die Welt
Der mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie ausgezeichnete US-amerikanische Künstler Stephen Shore, einer der bedeutendsten Fotografen der Gegenwart, war ganze sieben Jahre alt, als er zu fotografieren anfing und in der Dunkelkammer zu experimentieren begann. Sein Thema ist der Blick auf das Alltägliche. „Mich interessiert, was alle sehen können: die öffentliche Welt. Und dass man diese Welt aufmerksam und bewusst betrachtet“, so Stephen Shore. Die Einbeziehung des Mediums Fotografie in die Arbeitsfelder der Kulturellen Bildung verfolgt eben diese Ziele: Junge Menschen sollen motiviert werden, sich mit ihrem Alltag bewusst auseinander zu setzen und sich selbst sowie die Welt in allen ihren Facetten darzustellen – mit der Intention, das eigene Leben und die Welt als gestaltet und als gestaltbar zu erfahren. In der Bildungsarbeit existieren noch weitere Anwendungsmöglichkeiten von Fotografie, etwa die des fachspezifischen Einsatzes, um Sachinformationen zu visualisieren und Lerninhalte zu transportieren. Insbesondere aus didaktischen Gründen hat diese instrumentalisierte Nutzung von Fotografie ihre Bedeutung.
Der Nutzwert von Fotografie in der Kulturellen Bildung ist indessen von einer weitaus größeren Tragweite. Er beruht auf dem Potential von Fotografie, als Erkenntnismedium zu fungieren – und das in mehrfacher Hinsicht: persönlich-psychologisch, soziologisch-historischökonomisch und künstlerisch-ästhetisch. Sowohl die analytisch-rezeptive als auch insbesondere die kreativ-künstlerische Beschäftigung mit Fotografie innerhalb der Kulturellen Bildung vermag Reflexionsprozesse in Bezug auf die Umwelt sowie auf die eigene Person zu initiieren und fördert den Selbst-Ausdruck und somit Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung. Das Besondere an Fotografie ist: Bilder sind mehrdeutig lesbar, bieten Raum für vielfältige Interpretationen, sie ermöglichen – ja: erzwingen – die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sichtweisen, Standpunkten und Perspektiven. Den Selbst-Ausdruck fördernd und zur Fremd-Wahrnehmung einladend umfasst die Beschäftigung mit Fotografie die gesamte Bandbreite der kommunikativen Potentiale innerhalb der Bildungsarbeit.
Jugendfotografie in Deutschland
Nachdem bereits in der Weimarer Republik die Fotografie im schulischen Kontext verankert war, wurde ihr Einsatz nach dem Zweiten Weltkrieg auf den außerschulischen Bereich ausgeweitet. In der Bundesrepublik reicht die Tradition der geförderten Jugendfotografie und Fotopädagogik bis in die Anfänge der 1950er Jahre zurück. Die Absichten zielten damals darauf ab, in der Nachkriegssituation jungen Menschen eine Perspektive zu geben und sie zu sinnstiftenden, kritischen und kreativen Tätigkeiten zu motivieren. 1953 wurde von den Jugendverbänden und der Fotofachmesse photokina die Aktion „Jugend photographiert“ ins Leben gerufen – in ihrem Anliegen offenbar eine Alternative zu einer damals vom Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht auf der photokina durchgeführten Ausstellung über Foto, Dia und Film als Unterrichtsmittel. „Der Gedanke war naheliegend, der von der Behörde konzipierten Dokumentation ‚Mit Film und Foto lernen’ eine unabhängige Ausstellung ‚So photographiert Jugend’ gegenüberzustellen“, so der damalige Projektleiter Hans Geifes (1968:8). Damit wurde bereits zu diesem Zeitpunkt Jugendlichen ein Forum für authentischen Selbstausdruck gegeben. „Jugend fotografiert“ war der Wegbereiter des Deutschen Jugendfotopreises, der 1961 erstmalig vom damaligen Bundesministerium für Familien- und Jugendfragen gestiftet wurde. In seiner Ansprache begründete Minister Franz-Josef Wuermeling den Stellenwert der Fotografievermittlung, die kulturell und nicht technisch orientiert sein sollte, wie folgt: „Ich möchte das Anliegen der Fotovermittlung mit der Forderung umschreiben, über das Bild zum Bilden zu gelangen. Bildung hat besonders in unserer Gegenwart für den Bestand der Gesellschaft existenzielle Bedeutung. Daher muß die Gesellschaft ihrerseits dafür Sorge tragen, daß die junge Generation sich bilden kann. Bildung ist heute das Feld, auf dem die Entscheidungen im Kampf um die Selbstbehauptung des Menschen fallen. Auf das Photographieren des jungen Menschen angewandt, bedeutet dies, daß der Jugendliche die moderne Sprache des Photos versteht und bemüht ist, sie auf seine Weise zu sprechen und daß viele in der Lage sind, das Photo als Aussage und Erkenntnismittel zu verwenden. Wenn also ein junger Mensch mit seiner Kamera unterwegs ist, die Wirklichkeit erforscht und versucht, zu erkennen, Situationen, Dinge oder den Menschen im Photo wiederzugeben, dann ist das schon ein Bildungsvorgang [...]. Mit seinem Photo greift er nach der Wirklichkeit und stellt es in seiner besonderen Weise neben das Wort. Damit steigt der junge Mensch durch sein Photographieren über die Technik und Mechanik hinaus und gestaltet etwas Neues, mag dies Neue auch subjektiv sein – es ist Ausdruck seiner schöpferischen Freiheit und damit Ausdruck seines Schöpfens, also ein wertvoller Bildungsvorgang“ (Geifes 1968:180f.).
Mit den in den 1950er Jahren erfolgten Gründungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugend photographiert und des Bundesgremiums für Schulphotographie erhielt die fotopädagogische Arbeit somit ihre bundesweiten Strukturen. Nicht unwesentlich für die Verbreitung der Fotografie in der Bildungsarbeit war die von Anbeginn bestehende Unterstützung durch die Fotoindustrie. Einzelne Firmen unterhielten spezielle fotopädagogische Abteilungen, und auch der Photoindustrie-Verband förderte die fotografischen Aktivitäten von Kindern, Jugendlichen, Schulen und anderen Projekten. Die photokina bot der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugend photographiert und der Landesarbeitsgemeinschaft Jugend photographiert Nordrhein-Westfalen kostenlos Büroräumlichkeiten und Infrastruktur für die Planung und Durchführung von Wettbewerben, Ausstellungen und Fortbildungsveranstaltungen.
Auch in der DDR wurde die Fotografie frühzeitig in den Dienst der Bildungsarbeit gestellt. Entsprechende Aktivitäten sind seit Anfang der 1960er Jahre dokumentiert. Von 1971-1989 wurden die „Leistungsvergleiche der Kinder- und Jugendfotogruppen“ veranstaltet – ein Wettbewerbsforum für Fotozirkel. Über den Kulturbund der DDR in die offiziellen politischen Strukturen integriert, boten die in Schulen, Pionierheimen und Betrieben angesiedelten Fotozirkel keineswegs nur ideologische Indoktrination, sondern ermöglichten Kindern und Jugendlichen kreative Freiräume für die Reflexion ihres Alltags. Die staatliche Förderung des Bildungsmediums Jugendfotografie spiegelte die jugendpolitischen Intentionen in beiden Teilen Deutschlands wider.
Nachhaltigen Einfluss auf die humanistisch geprägte sozialdokumentarische (Jugend-) Fotografie der 1960er Jahre hatte einerseits die 1951 von Edward Steichen kuratierte Großausstellung „Family of Man“, die zwei Jahrzehnte durch die Welt tourte; andererseits beeinflussten die Anliegen der Studentenbewegung die Bildwelten bundesrepublikanischer Jugendfotografie. In den 1970er Jahren verlagerte sich die Vermittlung von Fotografie auf politische Aufklärungsarbeit – auf das Erkennen und Anwenden der Macht der Bilder. Rezeptionsseitig wurde in schulischen wie außerschulischen Kontexten die ideologiekritische Analyse massenmedialer Produkte (Werbung, Bild-Zeitung oder die Jugendzeitschrift Bravo) praktiziert. In der aktiven Jugendmedienarbeit wurde versucht, die Mechanismen der Manipulation zu entlarven und auch für Zwecke einer Gegenöffentlichkeit einzusetzen. Mit „Gegenöffentlichkeit“ waren damals Aktivitäten gemeint, die gesellschaftliche Anliegen formulierten, die in den herrschenden Massenmedien keine Berücksichtigung fanden. In seinem Buch „Fotografieren als Waffe“ (Günter 1977), konstatiert der Autor: „Es darf nicht irritieren, daß das Maximum an Fototechnik und Präsentationsfähigkeit von Fotografen mitentwickelt wurde, die vor allem auch heute für die Werbung arbeiten. [...] Da die soziale Bewegung, in der wir arbeiten, keine asketische Glaubenssekte sein kann, müssen wir die entwickeltesten kulturellen und ästhetischen Formen aufgreifen und für unsere Ziele nutzbar machen.“ Eine andere Publikation, die für die Jugendfotoarbeit zu jener Zeit relevant war, trägt den Titel „Eingreifendes Fotografieren“ (Kunde/Wawrzyn 1979); sie beschreibt Methoden medialer Interventionen im Alltag. Seminare für Jugendliche und MultiplikatorInnen, die entsprechende Konzepte vermittelten, fanden in zahlreichen Bildungseinrichtungen statt, so etwa in Berlin im Wannseeheim für Jugendarbeit. Ab den 1980er Jahren übernahm immer mehr das portabel gewordene Medium Video die Funktion des Bürgermediums für Gegenöffentlichkeit. Wenngleich als künstlerisches Medium immer präsent, begann sich im gleichen Zeitraum Fotografie verstärkt als Kunst zu definieren, und der subjektiv-künstlerische Selbstausdruck rückte in ihr Zentrum. Unter anderem aufgrund der bereits erwähnten technischen Innovationen in der Videotechnik, die zu einer größeren Praktikabilität für die aktive Medienarbeit führten, konzentrierte sich die Medienpädagogik stärker auf die Heranführung von Jugendlichen an das Medium Film und entwickelte hier passgenaue pädagogische Angebote, während die Fotografie innerhalb der Bildungsarbeit eine Enklave bildete.
Die digitale Wende – Is Photography Over?
Mit dem Aufkommen der Digitalfotografie und der Verbreitung ausgereifter und preisgünstiger Kameras erlebt die Fotografie seit den 2000er Jahren einen regelrechten Boom. Neben dem eigentlichen Fotografieren und der Bildbearbeitung bieten die Publikations- und Verbreitungsmöglichkeiten im Internet einen neuen Mehrwert. Fest steht:
Fotografie ist heute keine Domäne von Medienprofis, auratischen KünstlerInnen oder spezialisierten Hobbyisten. „Die Magie der Fotografie – nennen Sie es einen chemischen Zauber oder einen digitalen Trick – hat ihre Faszination verloren“ sagte mit einem Unterton des Bedauerns der Fotograf Philip-Lorca diCorcia auf dem Symposium „Is Photography Over?“, das 2010 im Museum of Modern Art in San Francisco stattfand (Ward 2012:8)
Indessen zeigt die Präsenz des Mediums Fotografie wie auch die Mediennutzung, dass die Faszination für Fotografie ungebrochen ist. Noch nie gab es so viele Fotoausstellungen und Gründungen von Fotogalerien, noch nie wurde Fotografie auf dem Kunstmarkt so hoch gehandelt wie heute. Der kulturelle Wert und der „Imagefaktor“ der Fotografie war noch nie größer, und so verwundert es nicht weiter, dass sich die Beteiligung auch an Wettbewerben enorm erhöhte, wie etwa beim Deutschen Jugendfotopreis von 700 TeilnehmerInnen im Jahr 1990 auf 7.000 im Jahr 2010.
Mindestens ebenso relevant ist dabei die Bedeutung, die Jugendliche ihrem Medium beimessen: „Ich finde, in einem Foto kann man einfach seine Gedanken ausleben, zeigen, wie man die Welt sieht – und trotzdem kann der jeweilige Betrachter sich selbst eine Meinung bilden und über die dargestellten Themen nachdenken“ (Carolin Lätsch, 13 Jahre, Preisträgerin 2008). „Fotografie hilft mir, die Welt um mich herum zu interpretieren, aus anderen Blickwinkeln anzuschauen und kritisch zu hinterfragen“ (Konrad Lippert, 19 Jahre, Preisträger 2008).
„Denken, beobachten und dabei noch fotografieren ist für mich eines der besten Geschenke dieses Lebens“ (Georg Zieba auf facebook.com/jugendfotopreis vom 27.01.2010).
Bei diesen Aussagen handelt es sich nicht um Einzelfälle. Wie aus Gesprächen mit Jugendlichen hervorgeht, entscheiden sich diese sehr bewusst für die Fotografie als Ausdrucksmittel und erkennen in der heutigen beschleunigten Zeit die Qualität des stillen Bildes. In diesem Zusammenhang interessant ist die Tatsache, dass, wie aus der Beteilung am Deutschen Jugendfotopreis und Deutschen Jugendvideopreis abzulesen ist, nur die allerwenigsten Jugendlichen an beiden Wettbewerben teilnehmen – obwohl ihre digitalen Kameras die Option zum Fotografieren und Filmemachen bieten. Ein Grund mag darin liegen, dass die Fotografie so viele Möglichkeiten eröffnet. Die digitale Weiterverarbeitung hat viele Ausdrucks- und Präsentationsformen erheblich vereinfacht, wenn nicht gar erst möglich gemacht. Und die „Orte“, an denen Fotografie präsentiert wird, reichen von der klassischen Fotoausstellung über die Herstellung von Fotobüchern bis hin zu Open Beamer Partys und öffentlichen Events mit Großprojektionen auf Hausfassaden im Stadtraum. Diese ästhetischen Ausdrucksformen wiederum beinhalten Freiräume für inhaltliche Schwerpunktsetzungen, die von postironisch geleitetem Google-Streetview-Surfing bis zur Veröffentlichung der eigenen Lebensrealität in sozialen Brennpunkten mit selbst gestalteten Zeitungen reichen. Und der Blick auf den Videokanal youtube zeigt die neue Popularität der Gattung der Fotofilme, deren Spektrum sich von Stop-Motion bis zu Foto-Streams erstreckt.
Im Fokus: Zeitgemäße Vermittlungsformen
Fotografie ist nicht nur zu einer ganz selbstverständlichen Ausdrucksform geworden, nicht nur ein Teil des „Lifestyle“, sondern mehr denn je ein Medium der (Selbst-)Erkenntnis und der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Alltag und den realen und virtuellen Welten. Die Gründung einer Vielzahl von Fotoschulen und -projekten, wo Jugendliche und Erwachsene ohne die Absicht einer professionellen Verwertbarkeit des „Gelernten“ zusammenkommen, bringt dies zum Ausdruck. Ebenfalls eine erfreuliche Tatsache ist es, dass Fotografie immer mehr zum integralen Bestandteil in den Lehrplänen wird.
Fotografien sind im Sinne des Kunstwissenschaftlers Hans Belting – auch und gerade, wenn sie von Kindern und Jugendlichen stammen – ein Medium der „Verähnlichung und Vergegenwärtigung“ der Welt (Belting 2007:13). In ihnen kann sich die heute so oft geforderte Selbstbehauptung in der Gesellschaft als Teil der Gesellschaft entwickeln. Und anders als im Medium der Sprache können sich Kinder und Jugendliche über Sprachgrenzen hinweg ausdrücken und auch das Noch-Nicht-Sagbare visuell ausdrücken und dadurch Stellung nehmen.
In einer Welt, in der Medien für den gesellschaftlichen Dialog essentiell sind, ist es entscheidend, dass bereits Kinder auch an die Fotografie herangeführt werden und die Sprache dieses Mediums lernen. Das Interesse bei Kindern und Jugendlichen an Fotografie war noch nie so groß, die vielfältigen Chancen für die Bildungsarbeit liegen also auf der Hand. Für Kinder bietet Fotografie niederschwellige Zugangsmöglichkeiten, für Jugendliche beinhaltet sie anspruchsvolle Betätigungsfelder, die von Medienkritik bis hin zu Medienkunst reichen. Kulturelle Bildung mit Fotografie gelingt im konkreten, unmittelbaren Austausch und an realen Orten – mit Unterstützung professioneller Fachleute, die bereit sind, sich für die Sichtweisen und die mediale Praxis von Kindern und Jugendlichen zu öffnen. Die von der Sektion Bildung und Weiterbildung der Deutschen Gesellschaft für Photographie zusammen mit dem Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland (KJF) gestartete Bildungsinitiative Jugendfotografie bietet ein Forum, um die Potentiale der Fotografie in der Kulturellen Bildung auszuloten und Handlungsstrategien zu entwickeln. Denn das sind die Herausforderungen: zeitgemäße kinder- und jugendgerechte Vermittlungsformen, die in Medienzentren, Kultureinrichtungen und in der Schule erfolgreich praktiziert werden, zu identifizieren und zu fördern (siehe Vera Haldenwang „Medienbildung in der Schule“).