Die Erforschung von Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten
Begriff und Begründung der Transferforschung
Lernziele, die in Rahmenrichtlinien bzw. Kerncurricula, aber auch in fachdidaktischen Publikationen zur ästhetischen Bildung deklariert werden, gehen häufig über unmittelbar künstlerische Kompetenzen weit hinaus: Proklamiert wird z.B. die Steigerung der sinnlichen Empfänglichkeit, die Kultivierung des Ausdrucksvermögens oder die Schulung der Kreativität (siehe Gisela Ulmann „Kreativität und Kulturelle Bildung“). Zu fragen ist allerdings, ob derartige Ziele tatsächlich erreicht werden. In den letzten Jahren hat sich eine umfangreiche internationale Forschung etabliert, die dieser Frage nachgeht und Auswirkungen künstlerischer Tätigkeiten auf außerkünstlerische Fähigkeiten aufzuklären sucht. Es handelt sich dabei um die sogenannte „Transferforschung“ (ausführlich dazu: Rittelmeyer 2010). Obgleich es zum Teil heftige Kontroversen um die methodische Zuverlässigkeit vieler Untersuchungen gibt, kann man inzwischen doch festhalten, dass Kinder und Jugendliche hinsichtlich ihres intellektuellen Vermögens, ihrer Kreativität, ihrer Sensibilität für Umweltreize, ihrer sozialen und emotionalen Fähigkeiten durch künstlerische Tätigkeiten gefördert werden können. Die Effekte sind nicht für jedes Kind zu beobachten, ihre Langfristigkeit ist bisher eher selten untersucht worden, sie fallen meistens moderat bis schwach aus. Dennoch kann man inzwischen mit guten empirischen Gründen behaupten, dass die künstlerische Betätigung die Bildungschancen zahlreicher Kinder erhöht.
Methoden und Ergebnisse der Forschung
Man kann die Transferforschung gegenwärtig in vier Hauptgebiete unterteilen: die psychologisch orientierte empirisch-statistische Wirkungsforschung und die biologisch orientierten Disziplinen der Hirnforschung, der Psychoneuroimmunologie und der Chronobiologie.
Die psychologisch orientierte empirisch-statistische Wirkungsforschung hat bisher die meisten Arbeiten zum Thema hervorgebracht: Sie untersucht z.B., wie sich SchülerInnen mit relativ häufigen oder eher seltenen künstlerischen Erfahrungen hinsichtlich bestimmter kognitiver, sozialer oder emotionaler Merkmale unterscheiden. Die meisten Arbeiten aus diesem Bereich beziehen sich auf die Transferwirkungen der Musik, weitaus seltener wurden Effekte der Beschäftigung mit bildender Kunst, Theater und Tanz untersucht, fast überhaupt nicht die Wirkung der Lektüre belletristischer Literatur. Bestimmte künstlerische Praktiken scheinen für bestimmte Fähigkeiten besonders zu prädestinieren – z.B. das Theaterspielen und Musizieren für eine Steigerung des räumlichen Vorstellungsvermögens, Theater und Gruppentanz für die Verbesserung empathischer Fähigkeiten, die bildende Kunst für feinmotorisches Geschick und Kreativität. Während bis zur Jahrtausendwende monokausale Untersuchungen dominierten, wird in den letzten Jahren auch zunehmend mit komplexeren Forschungsmodellen (wie z.B. pfadanalytischen Untersuchungen) gearbeitet, die das Wechselgefüge verschiedener Wirkungsfaktoren deutlich machen (vgl. dazu auch Rittelmeyer 2011a). Wie sind solche Transfereffekte zu erklären? Eine wichtige Deutung liefern uns Studien aus dem Bereich der Hirnforschung, womit ein zweiter Forschungssektor neben der empirisch-psychologischen Wirkungsforschung angesprochen wird (vgl. z.B. Altenmüller 2003; Jäncke 2008).
In diesen neurologischen Untersuchungen wird unter Verwendung bildgebender Verfahren danach gefragt, was sich im Gehirn z.B. musizierender oder malender Kinder ereignet und welche Folgen das für die synaptische Vernetzung bestimmter Hirnareale hat. Ein wichtiger Forschungsüberblick aus diesem Bereich wurde von der gemeinnützigen U.S.-Organisation Dana Foundation unter dem Titel „Learning, Arts and the Brain“ veröffentlicht (Asbury/Rich 2008). Diese Forschungsrichtung hat einige sehr wichtige Einsichten im Hinblick auf die Frage erbracht, wie Transfereffekte entstehen und warum sie nicht immer auftreten. So ist z.B. beim Herstellen einer Tonskulptur neben anderen Fähigkeiten immer auch das räumliche und damit geometrische Vorstellungsvermögen gefordert. Für dieses Vermögen sind bestimmte Hirnareale maßgebend, die sich bei häufiger Provokation durch entsprechende Tätigkeiten synaptisch komplexer vernetzen. Diese Bereicherung der Hirnarchitektur führt ihrerseits wieder zu einer gesteigerten Fähigkeit des räumlichen Vorstellungsvermögens auch außerhalb künstlerischer Betätigung (vgl. beispielhaft dazu Spelke 2008). Der „Transfer“ besteht aus dieser neurologischen Sicht also nicht in einer echten Übertragung künstlerischer auf kognitive Leistungen. Es ist vielmehr dasselbe Hirnareal, das bei künstlerischen wie mathematisch topologischen Tätigkeiten aktiv ist und sich verändert. Ebenso konnte diese neurologische Forschung aber auch nachweisen, wie individuell solche Verarbeitungsprozesse verlaufen. So zeigt die Forschung beispielsweise, dass durch den Unterricht in Musik, bildender Kunst oder Theaterspiel bei einigen Jugendlichen das räumliche Vorstellungsvermögen gefördert wird, bei anderen hingegen die sogenannte „executive attention“, eine Form der Aufmerksamkeit, die durch einen hohen Grad der Offenheit und Sensibilität für die Gegenstände der Wahrnehmung geprägt ist (z.B. Posner u.a. 2008).
Es wäre allerdings verfehlt, biologische Aspekte der Transferwirkungen in einer Art neurozentrischer Blickverengung nur im Gehirn zu suchen (dazu auch Rittelmeyer 2009a). Darauf machen uns zwei weitere und noch sehr neue Forschungsrichtungen aufmerksam, die auf immunologische Wirkungen der Kunstpraxis und auf die Veränderung rhythmischer Körperprozesse durch künstlerische Tätigkeiten bezogen sind. In beiden Fällen liegen allerdings bisher erst wenige Untersuchungen vor – sie sollen hier nur knapp charakterisiert werden.
Die Psychoneuroimmunologie beschreibt Auswirkungen künstlerischer Tätigkeiten auf das menschliche Immunsystem. So haben beispielsweise ForscherInnen der Universität Frankfurt durch physiologische Messungen festgestellt, dass sich bei Chormitgliedern während des Singens, nicht aber während des Hörens eines Mozart-Requiems die Konzentration von Immunglobulin A im Blut (Kenngröße der „Immunkompetenz“) erhöhte. Diese Erhöhung korrelierte mit einer Stärkung des bekundeten subjektiven Wohlbefindens (Kreutz u.a. 2004). Ähnliche Forschungsresultate wurden auch an der psychologischen Fakultät der Universität Wien erzielt (Biegl 2004). Sollte sich dieser Befund in weiteren Studien bestätigen lassen, könnte die hygienische oder salutogenetische Funktion bestimmter musikalischer Aktivitäten hervortreten – ein Aspekt, der in der bisherigen Transferforschung kaum Beachtung gefunden hat. Namentlich zeigen diese Untersuchungen jedoch, dass künstlerisches Tun nicht nur auf das Gehirn, sondern auf den gesamten Organismus wirkt – dessen Prozesse sich dann wiederum im Gehirn, z.B. als Gefühl von Gesundheit und Wohlbefinden „spiegeln“. Es ist unwahrscheinlich, dass sich derartige physiologische Prozesse nur beim Hören von Musik ereignen.
Ebenfalls neu ist die chronobiologische Erforschung künstlerischer Tätigkeiten. Hier geht es um die Frage, wie sich künstlerische Aktivitäten auf unser Atmungs- und Herz-Kreislauf-System auswirken. Herzfrequenz-Variabilität und Puls-Atmungs-Verhältnis sind wichtige Indikatoren krankheitsbegünstigender oder verhindernder Körperprozesse. Während es bei den ersten beiden Forschungsbereichen mit inzwischen vielen hundert Arbeiten vor allem um die kognitiven, sozialen und emotionalen Transferwirkungen geht, thematisieren die letzten beiden Forschungsrichtungen mit vorerst noch wenigen Arbeiten eher salutogenetische Aspekte ästhetischer Praxis. Es gibt eine Reihe interessanter Studien, die zeigen, wie sich die erlebte Ästhetik von Landschaften oder Klassenzimmern positiv auf die Herzfrequenz, auf die Atmung sowie psychische Indikatoren wie Stress- oder Entspannungsgefühle auswirken (Hinweise in Rittelmeyer 2011).
Ästhetische Erfahrungen, so kann man den bisherigen Ertrag der Transferforschung zusammenfassend umschreiben, sind immer auch eine Schule der Denk- und Reflexionsfähigkeit, der Wahrnehmungssensibilität, der emotionalen Kultivierung, der salutogenetischen und der sozialen Kompetenz Heranwachsender. Aber solche Effekte sind sehr individuell, sie artikulieren sich im Lebensgang einzelner Menschen unterschiedlich – das zeigt sowohl die Hirnforschung als auch die Analyse biografischer Berichte. Wir wissen bisher noch sehr wenig über diese individuellen Prozesse der Verarbeitung und biografischen Transformation ästhetischer Erfahrungen (vgl. Reinwand 2008). Das hängt auch damit zusammen, dass die bisherige Transferforschung eine Reihe von Mängeln aufweist, die abschließend kurz charakterisiert werden sollen.
Kritische Aspekte und Perspektiven
Eines der Hauptprobleme bisheriger Transferstudien besteht darin, dass in den meisten Arbeiten von einem ungeklärten Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ oder des „Kunstunterrichts“ ausgegangen wird. Es ist aber z.B. ersichtlich, dass die Ausmalung vorgegebener Baum- oder Tierumrisse andere Erfahrungen ermöglicht als ein frei gemaltes Landschaftsaquarell. Daher ist es für eine anspruchsvolle, bildungstheoretisch begründete Wirkungsforschung erforderlich, dass genauer analysiert wird, worin die jeweils als künstlerisch deklarierte Tätigkeit besteht – ich bezeichne diese Interpretationsform als „Strukturanalyse der Tätigkeiten und Werke“ (z.B. sowohl der Einübung als auch der formalen Gestalt eines Theaterstücks). Ferner muss geklärt werden, was man mit den Begriffen „künstlerisch“ oder „ästhetisch“ meint – was voraussetzt, dass man sich hier mit Theorien des Ästhetischen befasst. Die eben schon erwähnten biografischen Berichte über bildende Schlüsselerlebnisse durch künstlerische Erfahrungen geben uns einen Einblick in die je besonderen, sehr individuellen lebensweltlichen Situierungen ästhetischer Praxis (einige Beispiele in Rittelmeyer 2010, 2011b). Und schließlich: Es gibt zahlreiche Kindergärten, Schulen und außerschulische Einrichtungen mit dem Schwerpunkt eines künstlerischen Bildungsangebotes: In ihnen müssten sich die in Transferuntersuchungen gefundenen Bildungswirkungen besonders deutlich zeigen – was durch ihre Evaluation zu klären wäre (vgl. einen solchen – qualitativ orientierten – Versuch in der Arbeit von Bender 2010). Geeignete Evaluationsverfahren, die in dem hier beschriebenen umfassenderen Sinne biografische Quellen, künstlerisch akzentuierte Bildungseinrichtungen, Transferuntersuchungen, Strukturanalysen und ästhetische Theorien berücksichtigen, werden daher in Zukunft erforderlich. In einem solchen Zusammenhang erarbeitete Argumente werden der ästhetischen Bildung jenes Gewicht verleihen, das ihr als gleichberechtigter Partnerin der „Sciences“ zukommt.