Entähnlichung als Perspektive der Kulturellen Bildung und ihr kulturpolitischer Auftrag

Artikel-Metadaten

von Julius Heinicke

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

In den letzten Jahren hat sich auch innerhalb der postkolonialen Kritik eine tiefgreifende Wandlung vollzogen, die weitrechende Folgen für die Kulturelle Bildung haben dürfte, doch ebenso spannende Perspektiven eröffnet. Anknüpfend an den Begriff der Entähnlichung wird das vielversprechende ästhetische Potenzial der Kulturelle Bildung ausgelotet, Räume zur Aushandlung von Vielfalt zu initiieren, in welchen Verschiedensein als gemeinschaftsstiftender Akt erlebt werden kann. Der Beitrag geht diesem Vermögen anhand von Beispielen aus Südafrika nach und analysiert, inwieweit das hierzulande oft ambivalent wahrgenommene Wechselspiel zwischen Autonomie (im Sinne der Kunstfreiheit) und Auftrag (im Sinne eines sozialen, gesellschaftlichen Wirkungsversprechens) eine Schlüsselrolle einnehmen kann: Womöglich gründet sich im Oszillieren zwischen kreativem Freiraum und gesellschaftlicher Verantwortung und Reflexion ein Gestus, mit welchem der zunehmenden kulturellen Vielfalt künstlerisch und gesellschaftlich begegnet werden kann. Damit diese Potenziale wirkungsmächtig werden, sind jedoch weitreichenden Veränderungen der kulturpolitischen Rahmenbedingungen notwendig.

In den letzten Jahren hat sich auch innerhalb der postkolonialen Kritik eine tiefgreifende Wandlung vollzogen, die weitrechende Folgen für die Kulturelle Bildung haben dürfte, doch ebenso spannende Perspektiven eröffnet. Kunstwissenschaftliche Theorien und künstlerische Praktiken werden auf ihren westlich-kolonialen Gestus hin be- und hinterfragt. So wird den drei breit rezipierten Autoren Eduard W. Said, Gayatri Charkravorty Spivak und Homi K. Bhaba eine zu große Nähe zu marxistischen und/oder poststrukturalistischen Ansätzen vorgeworfen, denen allesamt in erster Linie ein eurozentrischer Gestus innewohnt, da sie sich insbesondere aus dem westlichen Diskurs nähren und sich auf dessen Klassen- und Subjektsysteme beziehen. Unter anderem wird der dichotome Grundgestus westlichen Denkens bemängelt, der sich nicht nur in der Geschlechterordnung, dem dialektischen Argumentieren, der Konstruktion des Anderen, sondern insbesondere auch in Debatten um Transkulturalität und Diversität zeitigt, wie es der indische Theaterwissenschaftler Rustom Bharucha verdeutlicht. Gordon Craig, Richard Schechner und Jerzy Grotowski beispielsweise eint nach dessen Ansicht, dass ihr kulturelles und künstlerisches Verständnis sich aus einer rein westlichen Perspektive konstituiert, welche nicht-nordamerikanisch-europäische Diskurse und Praktiken unterordnet (Bharucha 1993).

Der Politikwissenschaftler Achille Mbembe sieht in dem oft formulierten Wunsch nach dichotomer Differenz ebenfalls eine große Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben. In seinem Werk Kritik der schwarzen Vernunft stellt er dieser Praxis das Prinzip der „Entähnlichung“ gegenüber (Mbembe 2014). Im Gegensatz zur Assimilation, die Gleichheit einfordert, kann Entähnlichung verstanden werden als „Sorge um das Offene“ vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Verschiedenheit das Gemeinschaftsstiftende unserer Zeit ist: „Die Frage der universellen Gemeinschaft stellt sich daher per definitionem in Begriffen des Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene – was etwas ganz anderes ist als ein Vorgehen, das in erster Linie darauf zielt, sich abzuschließen und eingeschlossen in dem zu bleiben, was gewissermaßen mit uns verwandt, was uns ähnlich ist. Diese Form der Entähnlichung ist das genaue Gegenteil der Differenz“ (Mbembe 2014:331-332).

Entähnlichung als postkolonialer Raum der Kulturellen Bildung

Mit dem Begriff der Entähnlichung verabschiedet sich Mbembe nicht nur noch entschiedener von kolonialen Zeichensystemen westlich-abendländischer Couleur als Derridas Différance, sondern öffnet insbesondere für die kulturpraktische und -vermittelnde Arbeit ungeahnte Wirkungsräume. Begriffe wie Postkolonialismus, Antirassismus, Queerness, Diversität und Postmigration haben längst auf den Feldern des hiesigen Kulturschaffens Einzug gehalten, doch entziehen sich deren eher abstrakten Diskurse oftmals der konkreten Darstellbarkeit. Zudem bringt europäische Kulturarbeit in ihrer Logik und Struktur immer noch eine gute Portion kolonialen Gebarens mit sich, was die Darstellung erschwert. Das Thematisieren beispielsweise von Transgender oder Flucht führt oft zu kolonialem oder imperialem Handeln, da Zeichensysteme stereotypisiert oder allein nach dem Modell der Mehrheitsgesellschaft dargestellt und zugespitzt werden.

Andererseits gelten die Künste wegen ihrer alternativen, innovativen Wege, postmigrantische und postkoloniale Perspektiven zu eröffnen, als richtungweisend. Doch wie gestalten sich diese Pfade, und welche Rolle spielt hierbei die Kulturelle Bildung? Die Künste waren immer schon ein Ort, an welchem sich ein besonderer Blick auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse offenbart. Das französische Théâtre de la foire inszenierte die erbärmlichen Lebensumstände der Pariser Bevölkerung, die Skulpturen der Avantgarde öffneten sich den Formen anderer Kulturräumen, das Market Theatre in Johannesburg war ein einflussreicher Ort für die Antiapartheidbewegung und auch hierzulande bieten die Künste vielerlei Möglichkeiten, marginalisierte Gruppen zu Wort kommen zu lassen. Das Maxim Gorki Theater in Berlin avancierte in den Jahren zu einer wichtigen Stimme für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte. Eine Vielfalt an Künstler*innen, Kollektiven und Ausdrucksformen kennzeichnet nun die einstige Singakademie Unter den Linden. Über die ästhetische Qualität so mancher Produktionen wird heftig gestritten – wahrscheinlich wie bei jedem Kunstformat, das neue Wege einschlägt. Auffallend aber ist, dass das Gorki nahezu immer einen Bezug zu rezenten geisteswissenschaftlichen Debatten und Theorien findet, die in Programmheften, Flyern, selbst in den Inszenierungen offen dargelegt werden und gesellschaftliche Kritik auf diese Art und Weise erlebbar macht.

Das Prinzip des Gorkis ähnelt sehr den Arbeitsweisen der Kulturellen Bildung. Projekte auf diesen Feldern formulieren im Gegensatz zu anderen Kunstarbeiten meist im Vorfeld ein Wirkungsversprechen, welches Hand in Hand mit einer bestimmten Zielgruppe und einem gesellschaftlich-sozialen Kontext einhergeht. Wenn nun dieses Versprechen sich der Entähnlichung verschreibt, dann verbindet sich der gesellschaftlich-soziale Auftrag mit ästhetisch-kulturellen Wirkungsebenen zu einer besonderen Konstellation. Die Sorge um das Offene wird nicht nur im sozial-gesellschaftlichen Kontext, sondern auch auf der ästhetischen Ebene wirkungsmächtig. So erarbeitet das Magnet Theatre im südafrikanischen Kapstadt seit einigen Jahren mit Jugendlichen aus den Townships Produktionen, welche die vielfältigen Erfahrungen und Kulturgeschichten der Teilnehmer*innen, aber auch die der jeweiligen Lebens- und Migrationsgeschichten verdeutlicht. Obwohl es zunächst Ziel ist, Raum für die persönliche künstlerische Entfaltung und der Präsentation und Darstellung des Ichs der durchgängig marginalisierten jungen Menschen und deren Belange und Themen zu geben, erschafft die Produktion eine Ästhetik der Entähnlichung: Die ganz unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen werden miteinander verwebt, so dass ein künstlerischer Raum entsteht, den die Theaterwissenschaftlerin Hazel Barnes anhand eines am Magnet Theatre entstandenen Theaterprojekts von Mandla Mbothwe beschreibt: „Mbothwe’s concern for the dislocation of township youth and the unsettling nature of migratory experience has led to the creation of a very distinctive aesthetic […]. He uses elements of ritual such as recognisable symbols, the elements of earth, water and fire, ritual anointment and cleansing of the body, and heightened language, to create both a sense of awe and communitas” (Barnes 2013:74-75).

Innerhalb dieser Collage verschiedenster künstlerischer und kultureller Praktiken bringt Mbothwe Migrationserfahrung und Dislokation zur Aufführung. Gerade weil diese gesellschaftlich-brisanten Themen ein Setting der Aushandlung eröffnen, entsteht eben diese besondere Ästhetik aus Ehrfurcht bzw. Bewunderung (Awe) und Gemeinschaft (Communitas), welche nicht aus dichotomen Differenzen, sondern mittels des Verfahrens der Entähnlichung im Sinne Mbembes erschaffen wird. Eindrücklicher als mit diesem Verfahren können soziale und gesellschaftliche Belange wohl kaum inszeniert und eine Sphäre erschaffen werden, in welcher der Vielfalt der Gesellschaft Respekt gezollt wird. Allerdings stehen diese Projekte häufig immer noch im Schatten vermeintlich klassischer Arbeitsweisen der etablierten Institutionen. Obwohl ihr Potenzial, bewusst Räume der Aushandlung unterschiedlicher Traditionen zu ermöglichen und dies als eine gesellschaftliche oder kulturelle Wirkungsweise im Vorfeld zu benennen, eine Brücke schlagen kann.

Entähnlichung als Brücke zwischen Autonomie und Auftrag

Vertreter*innen der angewandten Formen von Kunstschaffen – demnach diejenigen, welche die Arbeitsweisen der Kulturellen Bildung anwenden und ein soziales, gesellschaftliches oder therapeutisches Wirkungsversprechen an ihre Kunstarbeit koppeln – und jene der rein künstlerischen Kunstarbeit – welche ein solches Wirkungsversprechen nicht formulieren – grenzen ihre Arbeitsformen gerne voneinander ab. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wurde bereits vielerorts diskutiert. Die Autonomie der Kunst, die spätestens mit der Aufklärung Einzug in den Diskurs hält, wird gefeiert, jedoch zunehmend befragt. Immer mehr gesellschaftlich-soziale Fragen stellen sich ihr, welche zunehmend als strategisches Mittel genutzt werden, den traditionellen Akteur*innen der Autonomie, den Intendant*innen, Regisseur*innen und anderen Künstler*innen, gerne ‚ins Handwerk zu pfuschen’ und ihnen ihre ‚Kunstfreiheit’ zu nehmen. Zu kurz kommt in dem Diskurs jedoch der Hinweis auf Macht. Beiden Parteien geht es um (Wirkungs-)macht, nicht nur die der Künste, sondern auch der eigenen. Die Autonomie garantiert den Kunstschaffenden nicht nur autarken Freiraum, sondern grenzenlose Macht des Selbstbezugs und der Selbstbestimmung, eine Ermächtigung, welche immer wieder zu Fehlverhalten führt, dessen Ausmaß sich innerhalb der Sexismus- und Rassismusdebatte verdeutlicht.

Allerdings operiert Kulturelle Bildung ebenfalls mit Macht. Diese wird umgeleitet auf ein bestimmtes Wirkungsversprechen, das die Akteur*innen häufig nicht nur selbst definieren, sondern sich ebenso ermächtigen, dieses messen beziehungsweise darlegen zu können. Innerhalb gegenwärtiger durchaus berechtigter Diskussionen um Queerness, Rassismus et cetera sind es oft die Kritisierenden selbst, welche die Wirkungsskala festlegen und somit die Diskurshoheit führen. Beides – sowohl das Pochen auf Autonomie als auch die Forderung nach bestimmten sozial-gesellschaftlichen Strategien – läuft schnell Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden, da die Entscheidungen in beiden Fällen von einer sehr geringen Anzahl an Expert*innen getroffen werden. Auch dies wird mit Blick auf die gegenwärtigen Kunstszenen vielerorts sichtbar: Es wird um Diskurs- und Deutungshoheit gerungen, um Räume und natürlich um öffentliche Gelder. Kein Wunder, dass sich rechte Gruppierungen und Parteien in derlei Strukturen einklinken und ihrerseits ebenso gedenken, ihre Macht als Stadträtin, Stadtrat oder Abgeordnete*r über den Weg der öffentlichen Förderung auszuspielen. Um diesem Dilemma zu entkommen, kann eine enge Verzahnung von beiden Praktiken durchaus sinnvoll sein, denn so wird Macht von Macht in Schach gehalten, ein A(nta)gonismus, den bereits Chantal Mouffe proklamiert (Mouffe 2014).

An dieser Stelle soll jedoch kein a(nta)gonistischer Weg eingeschlagen werden. Verfechter*innen eines oftmals als ‚hochkulturell’ interpretierten Verständnisses von Kunst, welches auf Autonomie pocht, und Verfechter*innen der sozialen, politischen, gesellschaftlichen oder therapeutischen Anwendung von Kunst im Sinne der Kulturellen Bildung sollen sich weniger als Kontrahent*innen begreifen. Vielmehr sollten sie sich als Diskussions- und Gesprächspartner*innen einer gemeinsamen Sache verstehen: des Hervorbringens und Gestaltens von künstlerischen und ästhetischen Räumen, die ganz unterschiedlich ausfallen, dennoch aber miteinander in Beziehung stehen, und zwar, weil sie sich der Vielfalt und Pluralität und somit dem Prinzip der Entähnlichung verpflichten, was nur auf kooperative Art und Weise gelingen kann.

Kunst und Ästhetik bieten allerlei Voraussetzungen, die für das Schaffen dieser besonderen Sphären zur Verhandlung kultureller Vielfalt grundlegend sind. Zunächst möchte ich das besondere Vermögen von Kunstschaffen betrachten, eine Vielfalt zu wahren und zu fördern, die für die friedvolle Zukunft unserer Gesellschaften politisch grundlegend ist und meines Erachtens nur über das Zusammenspiel der beiden angewandten und autonomen Ansätze möglich scheint. Der Kulturwissenschaftler Volker M. Heins wies vor einigen Monaten auf die teilweise ambivalente Beziehung von kultureller Vielfalt und Demokratie hin (Heins 2019). Er argumentiert, dass die Frage, wer auf welche Weise kulturelle Vielfalt in unserer gegenwärtigen Demokratie garantieren kann, in der einflussreichen Frankfurter Schule in den Hintergrund tritt zugunsten der Suche nach einem rechtlichen System, das Freiheit einem möglichst großen Kreis garantiert. Diesem System jedoch hat sich die Gesellschaft in Gänze unterzuordnen, indem alle ihre Mitglieder dessen Rechte gleichermaßen anerkennen, frei nach dem US-amerikanischen Motto „Ex uno plures“ („Aus einem Viele“) (Heins 2019:690). Mit Blick auf das Wahren von Minderheitsrechten – eine Debatte, die Heins mit Charles Taylors und Jürgen Habermas’ Diskussion um kulturellen Pluralismus anschaulich beschreibt – stellt sich jedoch die Frage, ob die Erhaltung kultureller Vielfalt mit der Forderung des gleichen Rechts aller auf Freiheit vereinbar ist, oder vielmehr eingrenzende Regularien, welche die Kulturen einzelner schützen (möchten), die Freiheit anderer gleichzeitig beschränken. Der Anordnung im kanadischen Québec, dass Französisch Pflichtfach an Schulen ist, um die Identität der Frankokanadier zu stärken, ist ein solcher Fall.

Hinsichtlich des zunehmenden kulturellen Wandels, der nicht nur der Tatsache geschuldet ist, dass unsere Breitengrade von Einwanderung geprägt sind und werden, kann den Herausforderungen, so folgert Heins, weder allein mit rechtlichen Verfahren noch mit Solidaritätsbewusstsein begegnet werden: „Wo die Hoffnung auf fortschreitende Annäherung an das Ideal eines vollständigen Konsenses vergeblich ist, lassen sich moderne, plurale, postimperiale Demokratien nur im Modus der permanenten Aushandlung partieller und provisorischer Kompromisse regieren“ (Heins 2919:693). Für den „Modus der permanenten Aushandlung“ kultureller Vielfalt spielen – wie oben schon angedeutet – die Autonomie der Künste, doch ebenso die angewandten ästhetischen Räume der Kulturellen Bildung samt ihrer sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge, eine entscheidende Rolle, so sie gemeinsame agieren.

Kooperation von autonomer und angewandter Kunst als vielversprechendes Modell

Das von Heins verdeutlichte Ringen um Freiheit, Solidarität und Recht spiegelt sich in der Debatte um Autonomie und Auftrag von Kunst im gesellschaftlichen, sozialen und politischen Sinne wider. Die Kunstlandschaften befinden sich an einem Wendepunkt, an welchem Künstler*innen sich in ihrer Freiheit bedroht sehen, autonom und unabhängig wirken zu können, andererseits viele Gruppierungen und Kulturen sich in den klassischen Institutionen nicht wiederfinden. Verschiedene politische Interessengruppen fordern ein Recht auf die Präsentation ihrer Kulturen innerhalb der Künste ein, seien es Minderheiten oder Mehrheiten.

Das universelle System, welches die Frankfurter Schule an das Recht auf Freiheit koppelt, existierte jedoch noch nie innerhalb der Künste und den öffentlichen Förderungen: Das Recht, ein*e anerkannte*r Künstler*in zu sein, ist nur wenigen vorbehalten, ein Recht auf Förderung gibt es schon gar nicht. Es scheint, als habe die Kunstlandschaft schon längst erkannt, dass es immer auch um Ausschluss geht. Jeder hat zwar ein Recht darauf, ein*e Künstler*in zu sein; die Anerkennung hierfür ist keinesfalls universell gültig, sondern an Strategien des Ausschlusses und der Förderung gebunden. Grundsätzlich ist jedoch zu beobachten, dass sich über die Jahrzehnte eine Begünstigung von bestimmten Gruppierungen durchgesetzt hat. Mit Blick darauf, wer Kunsthochschulen besucht, wer ausgewählt wird, wer sich die Unsicherheit dieser Sparte leisten kann, nicht nur finanziell, sondern auch sozial-gesellschaftlich, lässt sich immer noch feststellen, dass viele Gruppierungen in der Kunstsparte marginalisiert sind. Die Frage des Kunstgeschmacks fordert zudem ihr eigenes Tribut, auch wenn dieser sich stetig wandelt, sind es doch einzelne Expert*innen, welche darüber entscheiden, ob Kunst gefällt oder nicht. Zwar finden an den Orten der Künste stets Aushandlungsprozesse statt, doch muss immer neu betrachtet werden, ob hier wirklich die Pluralität der gegenwärtigen Gesellschaft teilnimmt.

Sicher hat sich dies in den letzten Jahren geändert. Berlins Gorki, Hamburgs Kampnagel und zuletzt das Humboldt Forum in der Hauptstadt richten ihren Blick auf unterrepräsentierte, teils auch marginalisierte Gruppen und es sind diverse Formate entstanden. Auffallend ist, dass diese Wandlungsprozesse meist in einer engen Verzahnung mit Praktiken der Kulturellen Bildung an oder in Kombination mit klassischen Kunstinstitutionen entstanden sind. Das Gorki hat sich bekanntlich aus dem Neuköllner Ballhaus Naunynstraße entwickelt und Kampnagel ist berüchtigt für seine innovativen Formate jenseits der Institution. Das Humboldt Forum setzt – durchaus gedrängt von einer zunehmenden öffentlichen Debatte um Provenienz und Sichtbarmachung kolonialer Vergangenheit – auf partizipative Formate und versucht, ein vergleichsweise breites Spektrum der Öffentlichkeit in die Diskussion mit einzubeziehen, beispielsweise in Kooperation mit der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und der Plattform Kubinaut.

Warum erscheint dieses Amalgam so vielversprechend? Die Kombination aus beiden Strategien öffnet zunächst den institutionellen Elfenbeinturm und verschafft Zugang, das wurde mehrfach gezeigt (Reinwand-Weiss 2019; Mandel 2016). Mittels niederschwelliger Zugänge erreicht Kulturelle Bildung eine Diversität an Lebensentwürfen. In der Kopplung an klassische Kunstinstitutionen werden jedoch die Techniken der Kulturellen Bildung, ihre pädagogisch-didaktischen Hierarchien, ihr genuin gesellschaftlich-soziales Wirkungsversprechen aufgebrochen. Denn die Freiheit der Kunst wird – auch vielleicht nicht durchgängig, so aber doch ansatzweise – solchen Projekten ebenso zugestanden, und es entsteht nicht nur sozial-gesellschaftlich wertvolle, sondern autonome Kunst. Warum ist diese Kooperation von Autonomie der Künste mit sozialer Wirkung der Kulturellen Bildung wichtig?

Seit jeher hat Kunstschaffen in allen Teilen der Welt irritiert, Mauern gesprengt und Wandlungsprozesse begleitet. Die Trickster in afrikanischen Kulturen und die europäische Avantgarde haben gesellschaftliche Normen befragt und aufgebrochen. Selten gelingt dies Projekten der Kulturellen Bildung, da ihnen jene Freiheit nicht von vornherein und automatisch zugestanden wird. Mit Blick auf gegenwärtige Kunstproduktionen – Gintersdorfer/Klaßen: Institut für unvorhergesehene Zusammenarbeit, Anne Imhof, Zentrum für Politische Schönheit – wird die Sprengkraft sichtbar, weil diese Künstler*innen die Freiheit haben, ihre Projekte ganz nach ihrem ‚Belieben’ zu gestalten, doch mit Blick auf die teilnehmenden Akteur*innen wird das Erreichen einer kulturellen Vielfalt nicht in Gänze eingelöst. Erst wenn diese Produktionen Bezüge zu den Feldern jenseits der Elfenbeintürme herstellen, wenn sie mit Projekten an Schulen, in Nachmittagsbetreuungen, in scheinbar abgehängten Regionen, Senior*innenhäusern und Unterkünften für Geflüchtete kooperieren, dann erreichen sie Gruppen, die bis dato den Kunsträumen meist ferngeblieben sind.

Die Freiheit der Kunst schränkt dies nicht unbedingt ein, vielmehr ist Kreativität innerhalb der Kooperation gefragt. Schon der Zeitpunkt der Verknüpfung kann variieren: vor, während oder nach Produktionen und Ausstellungen. Während der Recherche im Vorfeld, mittels gemeinsamer Workshops im Prozess selbst, begleitend oder auch danach. Auch die Kunsthochschulen, welche ein entscheidendes Kriterium der Exklusion und Förderung darstellen, können verstärkt mit diesen Gruppen kooperieren und gemeinsam Konzepte erarbeiten. Nicht nur Vorbereitungsklassen – beispielsweise die Klasse für Geflüchtete an der Kunsthochschule Weißensee –, sondern vielseitige Kooperationen und Anknüpfungspunkte sind entscheidend – auch hier sind der Fantasie der Dozierenden und Studierenden keine Grenzen gesetzt. In der Verknüpfung der Szenen des freien Künstlerischen Gestaltens mit weiteren sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Räumen wird Ästhetik durchaus im Sinne von Brecht verfremdet. Entähnlichung ist eine Erweiterung der brechtschen Methode. Deren epische und soziale Ausrichtung im Kontext einer bestimmten Kultur öffnet sich nun in Richtung einer Multiperspektivität vieler Kulturen. Die Verfremdung wird nicht in einem kulturellen Zeichensystem vollzogen, vielmehr wird durch ein Überlagern und Kombinieren verschiedener Systeme der ästhetische Raum divers-kulturell chiffriert. Seine Ausgangsbotschaft wird verfremdet und entähnelt sich somit gegenüber ihrem ursprünglichen Bezugssystem. Dabei treffen sich die unterschiedlichen kulturellen Zugänge in dem Prozess der Entähnlichung. Da sie alle nunmehr nur Teile der Ästhetik dechiffrieren können, dies jedoch eine Vielfalt an Zugängen ermöglicht, entsteht eine Gemeinschaft in der Vielfalt.

Nun stellt sich die Frage, warum dies nicht längst schon passiert. Es existieren bereits verschiedene Formate und Kooperationen, doch sind diese weder flächendeckend noch institutionell verankert. Viel zu sehr ruhen sich die Entscheidungsträger*innen auf einem Status quo aus, den Heins weiter oben auch in den Diskursen der kritischen Theorie beobachtet hat. Die Vorstellung, dass kulturelle Vielfalt aus einer tradierten, westlichen Vorstellung von Gemeinschaft und Rechtsstaatlichkeit entstehen kann, ist ebenso blauäugig wie ein Konzept von Diversität, welches allein nach einer westlichen Agenda konzipiert ist, demnach die Rahmenbedingungen von der Mehrheitsgesellschaft festgelegt sind (Heinicke 2019a). Auch wenn nicht zur Diskussion steht, dass Menschen- und Grundrechte und Schutz von Minderheiten, die Freiheit der sexuellen Vorliebe und Identität die obersten Prinzipien der Demokratie sind, so müssen die Formate, wie diese verhandelt und repräsentiert werden, vielfältig sein und Anknüpfungspunkte für die unterschiedlichen kulturellen Gruppierungen bieten. Hierzu eignen sich die Künste auf hervorragende Weise, wenn sie über die Praktiken der Kulturellen Bildung Zugang zu verschiedensten Gruppen haben und mittels des Vermögens von Kunst Freiräume schaffen, in welchen den Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft auf mannigfaltige Weise begegnet wird.

Kulturpolitischer Auftrag

Die kulturpolitischen Folgerungen, die hieraus erwachsen, sind grundlegend. Auch wenn sie das bisherige System nicht zerschlagen, fordern sie eine generelle Neumodellierung ein, welche sich insbesondere im Verhältnis von Akteur*innen der sogenannten Hochkultur und der Kulturellen Bildung zeitigt. Die letzten Jahre haben offenbart, dass es beileibe nicht ausreicht, auf das Wohlwollen der Institutionen zu hoffen. Die Erfahrungen, welche die Kulturstiftung des Bundes mit dem Programm „360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ beschreibt, verdeutlichen, wie mühsam ein kultureller Wandel in Kunstinstitutionen vonstattengeht. Der scharfe Wind, welcher der Documenta derzeit entgegenweht, weil das Künstler*innekollektiv Ruangrupa Wege einschlägt, die sich bewusst sozialen und gesellschaftlichen Räumen zuwenden und das klassische Terrain des Festivals verlassen, spricht Bände. Es wird zu diskutieren und zu reflektieren sein, welche Pfade sinnvoll sind und welche nicht, doch wird diesen Experimenten selten der nötige Freiraum und die Möglichkeit zum Scheitern zugestanden. Mit Blick auf die tradierten Prämissen und Strukturen, die weiter oben beschrieben wurden, verwundert dies nicht. Wie so häufig der Fall, müssen finanzielle Anreize geschaffen und Bredouillen nachhaltig genutzt werden, um Innovationen zu implementieren. Kulturinstitutionen sollten intensiver, vernetzter und nachhaltiger mit Akteur*innen der Kulturellen Bildung zusammenarbeiten, sodass die Wandlungsprozesse nach und nach auch in ihren eigenen Strukturen und Abläufen sichtbar werden. Hier geht es weniger darum, Freiheit und Autonomie grundsätzlich einzuschränken. Produktionen müssen sich vorbehalten dürfen, künstlerisch selbstständig und unabhängig von Wirkungsversprechen erarbeitet zu werden. Allerdings kann eine stärkere Kooperation mit der Zivilgesellschaft, mit den Gruppen, welche die Institutionen umgeben und ihnen vielleicht fernbleiben, eingefordert werden. Sei es in der Ausstellungsplanung, dem Entwerfen des Spielplans, der Festlegung von Schwerpunktthemen, in der Proben- beziehungsweise Vorbereitungsphase, in der Moderation, der Begleitung oder im Nachgang: In allen diesen Phasen können Ansätze und Akteur*innen beider ‚Genres’ – der Kunst und Kulturellen Bildung – an einem Strang ziehen. Das erfordert Kooperationen, die verpflichtend sind, sowohl auf der Ebene der institutionellen künstlerischen Leitungen als auch auf den Ebenen des künstlerischen Schaffens. Städte und Kommunen sind gefragt, ihre Netzwerke, Strukturen und Kontakte einzubinden und gemeinsam mit den Kunstschaffenden Rahmenpläne zu entwerfen, was eine der entscheidenden kulturpolitischen Aufgaben in naher Zukunft sein wird. Die Existenz von Kulturgesetzten in einigen wenigen Bundesländern, welche Kunst als Pflichtaufgabe definieren, und das Ansinnen der Ampelkoalition auf Bundesebene, Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel zu verankern verdeutlichen, dass Akteur*innen auf Bundes- und Landesebene die Zeichen der Zeit erkannt haben. Es wird sich zeigen, ob es gelingt, der zunehmende Vielfalt mit Kunst und Kultur gemeinschaftlich begegnen zu können. Eine Verknüpfung der autonomen und angewandten Künste, um Räume der Entähnlichung (durchaus auch in der Tradition von Brechts Verfremdung) zu gestalten, wäre hier ein entscheidender Schritt.

Verwendete Literatur

  • Bharucha, Rustom (1993): Theatre and the World: Performance and the Politics of Culture. London: Routledge.
  • Heinicke, Julius/Lohbeck, Katrin (Hg.) (2020): Elfenbeinturm oder Kultur für alle? Kulturpolitische Perspektiven und künstlerische Formate zwischen Kulturinstitutionen und Kultureller Bildung. München: kopaed.
  • Heinicke, Julius (2019a): Sorge um das Offene. Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater. Berlin: Theater der Zeit.
  • Heinicke, Julius (2019b): Transkulturalität und Entähnlichung. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik, 74, 7-8.
  • Heins, Volker M. (2019): Kultureller Pluralismus und Kritische Theorie. Von Adorno bis Honneth. In: Ulf Bohmann/Paul Sörensen (Hg.): Kritische Theorie der Politik (672–693). Berlin: Suhrkamp,
  • Mandel, Birgit (Hg.) (2016): Teilhabeorientiere Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für die Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld: transcript.
  • Mbembe, Achille (2014): Kritik der schwarzen Vernunft, aus dem Französischen von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp (Original: Critique de la raison nègre, 2013).
  • Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken, aus dem Englischen von Richard Barth. Berlin: Suhrkamp (Original: Thinking the World Politically, 2013).
  • Reinwand-Weiss, Vanessa-Isabelle (2019): Ästhetische Bildung. Kooperationen als Chancn. In: KiTa aktuell spezial – Auf dem Weg zur multiprofessionellen Kita. Fachzeitschrift für Leitungen, Fachkräfte und Träger der Kindertagesbetreuung 4/20, 158–160.

Anmerkungen

In dem Beitrag wurden zwei bereits veröffentlichte Artikel des Autors zusammengeführt und überarbeitet (siehe Heinicke 2019b, 2020).

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik der „Entähnlichung" findet sich in der Publikation Heinicke, Julius (2019): Sorge um das Offene. Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater. Berlin: Theater der Zeit.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Julius Heinicke (2022): Entähnlichung als Perspektive der Kulturellen Bildung und ihr kulturpolitischer Auftrag. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/entaehnlichung-perspektive-kulturellen-bildung-kulturpolitischer-auftrag (letzter Zugriff am 16.07.2024).

DOI gesichert

Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/22ja-nn63.

Veröffentlichen

Alle Texte dieser Website – also ausgenommen sind Bilder und Grafiken – werden (sofern nicht anders gekennzeichnet) unter Creative Commons Lizenz cc-by-nc-nd (Namensnennung, nicht-kommerziell, keine Bearbeitung) veröffentlicht. CC-Lizenzvertrag

Herunterladen

Dieser Artikel als PDF:

PDF erzeugen

Teilen