Digitale Collagen als Medium ästhetischer Interaktion
Einblicke in einen Workshop des NFKB-Forschungsclusters Interaktion und Partizipation in der Kulturellen Bildung
Abstract
Dieser Beitrag dokumentiert Eindrücke, Beobachtungen und Ergebnisse aus einem Online-Workshop des Forschungsclusters «Interaktion und Partizipation in der Kulturellen Bildung», der die Vorstellung von Themen, Arbeitsweisen und Prinzipien des Forschungsclusters zum Ziel hatte. Dabei lag es nahe, die Auseinandersetzung selbst interaktiv und partizipativ sowie entlang der Thematik der rahmenden Tagung zu konzipieren. Ein Großteil der Kommunikation wird hierfür parallel zur Videokonferenz auf ein digitales Whiteboard verlagert, auf dem alle Teilnehmenden individuell und gemeinsam agieren können. Als Material liegen zentrale Fragmente aus einem Text des Clusters bereit, in dem die Begriffe Interaktion und Partizipation in einem gemeinsamen Selbstversuch und geleitet vom Prinzip der Collage verhandelt werden. Dieses Textprinzip wird zum Handlungsprinzip des Workshops: Die Teilnehmenden werden dem Versuch ausgesetzt, in kleinen Gruppen auf dem digitalen Whiteboard sowohl mit dem bereitgestellten als auch mit eigenem Material selbst Collagen zu erstellen. In dem experimentellen Format des Workshops konturiert sich performativ ein ästhetisch-digitaler Möglichkeits- und Erfahrungsraum, in dem die individuellen Positionen und Perspektiven aller Beteiligten über Text, Bild und Sprache interaktiv in vernetzende Artikulationsformen treten. In den entstandenen Collagen kommen Aspekte von Ästhetik, Digitalität und Macht in eindrücklicher Weise zum Tragen.
Digital Collages and Aesthetic-Communicative Networking. Insights into a Workshop of the NFKB Research Cluster Interaction and Participation
This contribution documents – especially visually – impressions, observations and results from an online workshop «Interaction and Participation in Cultural Education», which aimed to present topics, working methods and principles of the research cluster. It made sense to conceptualize the workshop itself in an interactive and participative manner, as well as along the theme of the framing conference. A large part of the communication is shifted to a digital whiteboard parallel to the video conference, on which all participants can act individually and together. Central fragments from a text of the cluster are available as material, in which the terms interaction and participation are negotiated in a joint self-experiment and guided by the principle of collage. The text principle becomes the operating principle of the workshop: The participants are exposed to the attempt to create collages themselves in small groups on the digital whiteboard using both the provided and their own material. In the experimental format of the workshop, an aesthetic-digital space of possibility and experience is contoured performatively, in which the individual positions and perspectives of all participants interactively enter into networked forms of articulation via text, image and language. In the resulting collages, aspects of aesthetics, digitality and power come into play in an impressive way.
Dieser Beitrag basiert auf Einblicken und Erkenntnissen der Mitglieder des Forschungsclusters «Interaktion und Partizipation» im Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung (NFKB), erprobt im Rahmen eines Online-Workshops im Rahmen der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.
Prolog
«Partizipation, die nicht bloß leeres Schlagwort und Entleerung der Demokratie ist, braucht auch Lust und viel Zeit, Gewohntes und Gelerntes aufzubrechen. Dafür gilt es, gemeinsame Handlungsräume zu schaffen, in denen es überhaupt erst möglich wird, dass alle Beteiligten sich auf Neues einlassen, offen für Unvorhergesehenes sind, Kritik zulassen und unterschiedliches Wissen anerkennen.» (Büro trafo.K 2020, 128)
Das Partizipationsverständnis des Wiener Büros für Kunstvermittlung und kritische Wissensproduktion wird von den Autorinnen und Autoren dieses Beitrags, den Mitgliedern des Forschungsclusters «Interaktion und Partizipation» im Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung (NFKB), geteilt. In ihm deuten sich auch die Herausforderungen an, mit denen sich das Forschungscluster seit 2017 auseinandersetzt. Wir verstehen uns als Gruppe gemeinsam kollegial Denkender aus unterschiedlichen Bereichen der Kulturellen Bildung und ihrer Erforschung, u. a. aus den Fachbereichen Kunst- und Kulturpädagogik, Kunstvermittlung, Kulturwissenschaften, Bildungs- und Erziehungswissenschaften, Sozialpädagogik sowie Bildende Künste. Tätigkeitsbereiche sind und waren die kuratorische und vermittlerische Arbeit in Museen, an Schulen und Hochschulen, in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und Erzieherinnen und Erzieherbildung sowie die Forschung und Lehre in der Kulturellen Bildung. Forschung definieren wir im Rahmen unserer Clusterarbeit als eine Tätigkeit, die nicht exklusiv von Hochschulmitarbeitenden betrieben wird, sondern die unterschiedliche Menschen auf je spezifische Art und Weise praktizieren. Eine Unterscheidung in ‹Praktikerinnen und Praktiker› und ‹Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler› wäre aus unserer Sicht fehl am Platz: Erstens sind unabhängig vom jeweiligen institutionellen Arbeitskontext die konkreten Praktiken der einzelnen Mitglieder im Rahmen des Clusters wissenschaftlich im Sinne von forschend – auf der Suche nach Erkenntnis unter Anwendung reflektierter Methoden. Zweitens müssen die Unterschiede der Perspektiven an mehr bzw. anderen Differenzlinien reflektiert werden als nur an einer (vermeintlichen) Differenzlinie zwischen Wissenschaft und Praxis – also zum Beispiel zwischen unterschiedlichen Positionen innerhalb von Institutionen, Typen und Größen einer Institution, Generationen oder Geschlechtern der Einzelnen. Die Anerkennung unterschiedlicher Wissensformen und die Herstellung von Bedingungen für kollaborative Wissensproduktion sind für die Clustermitglieder von zentraler Bedeutung.
Wir arbeiten daher immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen und Forschungsformaten sowie an unterschiedlichen Orten Kultureller Bildung. Neben der Präsentation und Diskussion einzelner eigener Forschungsprojekte erfolgen grundlagentheoretische Diskussionen und die Erforschung wissenschaftlicher Begriffe, insbesondere zu «Interaktion» und «Partizipation», ebenso wie eine gelebte künstlerische Praxis. In seiner gemeinsamen Arbeitsweise forscht das Cluster nicht nur über diese für die Kulturelle Bildung zentralen Begrifflichkeiten. Es erforscht auch die Art und Weise, wie dies geschieht, wie der gemeinsame Austausch gestaltet ist und was er mit den Clustermitgliedern macht. Das Ziel dabei ist, Selbstverständnisse zu hinterfragen, Mechanismen zu erkennen und machtkritische Haltungen zu erarbeiten.
Der Workshop «Interaktion und Partizipation» auf der Konferenz
Die Konferenz zu «Digitalität – Ästhetik – Macht» (2021) bot einen Slot für die Vorstellung der verschiedenen Forschungscluster im NFKB und damit die Möglichkeit, Einblicke in die Arbeitsweisen des Clusters zu geben. Wir nutzten die Gelegenheit, um auch Ergebnisse und Erkenntnisse eines gemeinsamen Selbstversuchs zur Diskussion zu stellen, in dem «Interaktion» und «Partizipation» als Handlungsprinzipien erforscht und erprobt wurden (vgl. Hallmann et al. 2021). Dieser gemeinsame Selbstversuch bestand aus einem einjährigen – pandemiebedingt ausschließlich im Remote-Modus vollzogenen – kollaborativen Schreibprozess. Er hatte zum Ziel, sich mit den titelgebenden Begriffen ‹Interaktion› und ‹Partizipation› diskursiv auseinanderzusetzen und die durch die Clustermitglieder vertretenen Verständnisse und Bezugsfelder in Dialog sowie Dissens zu bringen. Im Mittelpunkt stand nicht das ‹Abarbeiten› an wissenschaftlich verbürgten Begriffen und Konzepten. Vielmehr war ein zentrales Anliegen, sich über bewusste Perspektivwechsel und -erweiterungen gemeinsamen Formulierungen anzunähern. Das Prinzip der Collage bot daher sowohl für die Genese als auch für die Darstellung des Textes eine geeignete Orientierung:
In der Kunst lebt das Prinzip der Collage von der Kombination ausgewählter Einzelteile, die aus unterschiedlichen Kontexten und Entstehungsgeschichten als Fragmente herausgelöst und durch das Zusammenfügen zu einem neuen Ganzen transformiert werden. Während die Herkünfte und Ursprünge der Bestandteile mitunter noch zu erahnen sind, ist die Neukombination wiederum etwas so noch nie Dagewesenes. Im Nebeneinander entstehen Spannungen und Bezüge. Die Überschneidungen der Teile können fließend, illusionistisch oder deutlich gebrochen sein (vgl. Pazzini 1986). Als textgenerierender Prozess wird Collage als Sammeln und Neukombinieren dann spannungsvoll und produktiv, wenn sie sich aus disparaten Teilen zusammensetzt, den Durchblick negiert und durch Verdichtung zu etwas anderem werden kann.
Die Arbeitsweise und die Erkenntnisse dieses hier nur skizzierten «Selbstversuchs» sollten im Workshop transparent und für die Teilnehmenden ästhetisch erfahrbar werden, um sie anschließend gemeinsam zu reflektieren. Über die Präsentation der Forschungsarbeit des Clusters hinaus ging es zudem darum, «Interaktion und Partizipation» nicht nur zu thematisieren, sondern auch konkret als eine praktizierte Form der kollaborativen, ästhetischen Auseinandersetzung in digitaler Medialität zu erproben. Wesentlich für die Konzeption des Workshops war es daher, nicht nur die vom Prinzip der Collage geleiteten Strategien der Textproduktion in geeigneter Weise in das digitale Austauschformat zu überführen, sondern auch die medialen Bedingungen, in denen die Workshop-Teilnehmenden zusammentrafen, als Möglichkeit zur kommunikativen Vernetzung mittels entsprechender Applikationen zu befragen und zu reflektieren. In einem kurzen Vortrag stellten wir unsere theoretischen Grundannahmen zur partizipatorischen und interaktiven Forschungsarbeit im Kontext des Clusters vor. Anschließend wechselten wir den virtuellen Ort vom Videomeeting zum kollaborativen Whiteboard und führten die Teilnehmenden in die technischen Tools sowie das von uns geplante Arbeitssetting ein.
Im Folgenden dokumentieren wir Eindrücke, Beobachtungen und Ergebnisse aus diesem Workshop, mit dem die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem gemeinsamen Selbstversuch im Cluster mit Anderen geteilt, dadurch intensiviert und in Richtung der Aspekte Digitalität, Ästhetik und Macht neu perspektiviert werden. Es geht uns hierbei nicht um die Darstellung eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts oder empirischer Forschungsergebnisse. Vielmehr wollen wir aus unseren Beobachtungen dessen, was sich während des Workshops ereignete und im phänomenologischen Sinne unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse weckte, zunächst nur aufzeigen und beschreiben (vgl. Brinkmann 2015). Hierzu nutzen wir als Datenquellen unsere Gesprächsprotokolle, die während des Workshops verfasst wurden, die gemeinsamen rückblickenden Gespräche mit den Mitgliedern des Forschungsclusters und Rückmeldungen der Teilnehmenden sowie die Screenshots der Arbeitszwischen- und Ergebnisstände des digitalen Whiteboards. Es handelt sich also um einen ersten Versuch, das gewonnene Datenmaterial aus einer phänomenologisch-hermeneutischen Perspektive heraus zu betrachten, erste Arbeitshypothesen aus unseren Beobachtungen zu formulieren und hier zur Diskussion zu stellen.
Digitale Rahmenbedingungen und Handlungsprinzip
Um den im Cluster bereits intensiv geführten Austausch über Verständnisse bzw. Selbstverständnisse im Kontext von Interaktion und Partizipation in der Kulturellen Bildung für die Teilnehmenden am Workshop zu öffnen, werden Textfragmente, Begriffe, Zitate, dekonstruierend-provozierende Kommentare (‹Hacks›) sowie Abbildungen aus dem Text zur Verfügung gestellt, der aus dem oben genannten Selbstversuch hervorgegangen ist (vgl. Hallmann et al. 2021). Als Arbeitsplattform dient ein digitales kollaboratives Whiteboard (Abb. 1), das für jede Gruppe eine eigene Arbeitsfläche, aber dieselbe Ausgangslage bereithält. (Anm.: Als Applikation kommt Miro zum Einsatz. Sie bietet, ähnlich wie Mural die Möglichkeit, auf einer unendlich anmutenden Oberfläche verschiedenste Inhalte zu posten: Texte, Bilder, Links, aber auch umfangreiche Dokumente in den gebräuchlichen Dateiformaten. Nach einer relativ kurzen Eingewöhnungszeit an die an gängige Bild- und Textbearbeitungsprogramme erinnernden Funktionsweisen kann mit Miro intuitiv und vor allen Dingen kollaborativ, d. h. von mehreren Personen gleichzeitig gearbeitet werden. Für Miro stehen kostenfreie Basisversionen, Unternehmenslizenzen und kostenreduzierte/-freie Lizenzen für Bildungseinrichtungen zur Verfügung. Sie beinhalten unterschiedliche Möglichkeiten, Boards zu speichern, zu kopieren und für andere freizugeben. Für eine Anwendung wie in dem hier besprochenen Workshop kann das Miroboard über einen Link im Chat der Videokonferenz direkt zur Bearbeitung freigegeben werden. Dies erleichtert die Zusammenarbeit ohne Einschreibung in eine Lernplattform o. ä. Jedoch wird der Datenschutz der Teilnehmenden in dem entstehenden öffentlichen digitalen Raum nicht durch die Anwendung selbst unterstützt, sondern muss über die Verantwortungsübernahme der «Board-Owner» und verbindliche Absprachen mit den Teilnehmenden hergestellt werden.)
«Die Herstellung einer Collage, die Auseinandersetzung mit Collagen ist so etwas wie In-den-Spiegel-sehen, ist Reflexion der vorhandenen Collagen. Ist Auseinandersetzung mit Uneinheitlichkeit, mit der möglichen Zusammengehörigkeit von Fragmenten». (Pazzini 1986, 22)
Das Prinzip der Collage, das bereits bei der Textarbeit des Clusters leitend war, wird im Workshop erneut zum Handlungsprinzip (Abb. 2). Die Teilnehmenden sind nach einer kurzen Vorstellung des Clusters und seiner Arbeitsweisen eingeladen, sich in Kleingruppen (Breakoutsessions) von jeweils vier bis fünf Personen dem Austausch untereinander auszusetzen und gemeinsam mit dem zur Verfügung gestellten Material re-/de-/konstruktiv umzugehen. Auf ihren jeweiligen Arbeitsflächen und im Rahmen der von der Applikation vorgegebenen Funktionen und Werkzeuge können sie Elemente bewegen, gruppieren, in Farbe, Form und Grösse verändern, eigene Texte und Bilder einfügen, durch Linien und Pfeile Bezüge herstellen und zeichnen.
Nach der Einführung in das «Handlungsprinzip» des Cluster-Workshops und die Funktionsweisen des Whiteboards verlassen die Teilnehmenden das virtuelle Plenum und kommen in Breakoutsessions zusammen. Die Gruppen arbeiten anschließend sehr unterschiedlich: Auf einigen Arbeitsflächen zeigt sich lange keine Bewegung oder Veränderung, andere beginnen unmittelbar, Inhalte zu verschieben oder z. B. auf «Sticky Notes» eigene Inhalte, Kommentare oder Fragen hinzuzufügen. Die Artikulationsformen nehmen zu, indem zum Beispiel Bilder hochgeladen, Zeichnungen angefertigt, handschriftliche Kommentare verfasst oder Bereiche farbig gekennzeichnet werden. Nach einiger Zeit beginnt eine Gruppe zunächst, die für sie vorgesehene Arbeitsfläche zu vergrößern, deren Begrenzungen schließlich zu überschreiten und ihre Gestaltung in Richtung der benachbarten Arbeitsfläche einer anderen Kleingruppe fortzusetzen. Als Initiierende des Experiments verfolgen wir die Prozesse auf dem Whiteboard im Hauptraum der Videokonferenz und fragen uns: Ist die andere Gruppe mit dieser Intervention einverstanden? Wie wird sie reagieren? Sind wir mit dieser eigenmächtigen Aneignung unserer Einladung bzw. Aufforderung einverstanden? Wie werden wir reagieren?
Kurze Zeit später können wir beobachten, dass die beiden Gruppen miteinander auf dem Whiteboard in Dialog treten. Ein spannender Moment, denn auf verbaler Ebene kann dieser Austausch aufgrund der unterschiedlichen Breakoutsessions nicht stattfinden, sondern er ereignet sich ausschließlich auf ästhetisch-digitaler Ebene, indem die beiden Collagen sich visuell und inhaltlich vernetzen (vgl. unten).
Eindrücke
In den folgenden Deutungen der ausgewählten Detailansichten der entstandenen Collagen gehen wir – ausschnitthaft und aus unseren spezifischen Perspektiven – auf einzelne Aspekte ein, die darin zum Ausdruck kommen. Uns interessiert dabei insbesondere, was im Verlauf des Workshops von unseren Materialien und Impulsen – ausgehend von den Einzelnen und in den Kleingruppen – ausgelöst wurde und welche Relevanz hierbei das interaktive, digitale Arbeitstool einnahm. Zu fragen ist daher, was sich in den Abbildungen zeigt und welche Rückschlüsse sich möglicherweise daraus für das Verhältnis zwischen Ästhetik, Digitalität und Macht in diesem spezifischen Setting ziehen lassen.
Ästhetik des digitalen kollaborativen Arbeitens
«Ich habe es erst überfordernd empfunden, den Überblick suchend, dann aber startete eine Kettenreaktion, die überwältigend war und ausgesprochen produktiv! Eine sehr spannende Dynamik! Wie eine Zündung, es ging voll ab!» (Rückmeldung einer Teilnehmenden in der Abschlussrunde)
Im Laufe des Workshops entsteht ein digitaler, performativer Möglichkeits- und Erfahrungsraum. Das Prinzip der Collage erlaubt, sich performativ und interaktiv zu artikulieren und zu vernetzen, was sich in einer spezifischen Ästhetik zeigt (vgl. Abb. 3-7). Das rege Interagieren und Handeln mit den digitalen Collage-Materialien im Verlauf des Workshops führt zu immer wieder neuen Auslegungen und Konstellationen, indem Fragmente herausgriffen, neu angeordnet, kombiniert oder durch eigene Kommentare, Zitate, Textteile sowie Zeichnungen, Kritzeleien, Bilder, Fotos aus dem Internet oder von eigenen Projekten u. v. m. ergänzt werden. Das Ergebnis dieser Transformationen macht zum einen die inhaltliche Auseinandersetzung, zum anderen den interaktiven Prozess der Teilnehmenden untereinander sichtbar. Einstellungen, Auffassungen, Meinungen, Gedanken usw. zeigen sich auf dem digitalen Whiteboard auf eine ästhetische Art und Weise, die durch das Medium selbst begünstigt wird. In dieser medienspezifischen Gestaltung der digitalen Collagen äußert sich ein «anderes Denken» bzw. ein «Denken in anderen Medien», das sich weniger über linearen Text, sondern vielmehr über grafische und bildliche Bedeutungsträger und Bezugnahmen mitteilt. Es ist damit deutlich «anders als Denken qua Begriff/Diskurs» (vgl. Mersch 2015, 10) und eröffnet neue Möglichkeiten des gemeinsamen Denkens im Digitalen.
Nicht nur die medialen, auch die collagespezifischen Modalitäten spielen hierbei eine zentrale Rolle. Für die kunstpädagogische Praxis schon lange nicht nur als Gestaltungstechniken theoretisch reflektiert (vgl. Pazzini 1986), gewinnen diese im digitalen Sampling und Referenzieren von Bild und Text erneut an Bedeutung und werden zur Beschreibung und Erklärung aktueller ästhetischer Praxen herbeigezogen (vgl. Stalder 2009; Zahn 2014). Auch Dieter Mersch stellt dementsprechend in seinem Einführungsvortrag zur Konferenz die Collage als eine spezifische Form der Zusammenstellung von Wissen als Synthesis heraus, in der die Verbindungen nie glatt sind, sondern immer gebrochen bleiben. Das Verwenden bestimmter Collageteile kann dabei Aspekte des ursprünglichen Kontextes zutage fördern, der sich nur oder erst durch sein Fortleben in anderen, neuen Zusammenhängen zeigt. Die Fortführung des Prinzips der Collage in digital-ästhetischen Praktiken der Postproduktion mit bereits bestehenden Bildern (vgl. Bourriaud 2002; Zahn 2014) oder auch der Remix als kulturelle Form der Netzwerkgesellschaft (vgl. Stalder 2009) erlauben es, vielfältige Perspektiven auf ästhetische Art und Weise miteinander zu verbinden und Begegnungen zu ermöglichen, in denen unterschiedliche Verhältnisse zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung entstehen und zum Tragen kommen.
«Geht es um Selbstverwirklichung oder Gruppenverwirklichung?» (Frage von Teilnehmenden aus dem Workshop, notiert auf dem Whiteboard)
Digitalität und Unsicherheiten
Die Situation einer Videokonferenz ist aufgrund der weltweiten Pandemie seit 2020 für viele zur Alltagsroutine geworden. Es bleibt jedoch oft unausgesprochen, wie vertraut, zugänglich und selbstverständlich die damit verbundenen (Un-)Möglichkeiten der Einzelnen tatsächlich sind und wie sich das auf ihre Aktivitäten, ihr Verhalten und ihr wahrnehmbares Engagement auswirkt.
Der Workshop bietet Anlass, die Bedingtheiten des Austauschs im Digitalen sensibel und kritisch wahrzunehmen sowie ihre Wirkungen in der Interaktion mit den anderen und dem Medium zu reflektieren. In dem von uns vorgeschlagenen Setting ist der Möglichkeitsraum einerseits durch die Themen und Handlungsprinzipien des Clusters, andererseits durch die verfügbaren digitalen Werkzeuge bestimmt, die immer Begrenztheiten und Unberechenbarkeiten mit sich bringen, – und durch die Menschen, die diesen Raum nutzen. Die Existenz digitaler Werkzeuge mit ihren in diesen Zeiten kaum verzichtbaren Vorteilen darf nicht über Ungleichheiten hinwegtäuschen, sei es in Bezug auf den Besitz von Hard- und Software oder die Kenntnisse von Gestaltungsmöglichkeiten, Handlungsoptionen und Selbstermächtigungsstrategien. Es gilt, sich nicht nur in der sozialen Situation zu orientieren und zu verhalten, sondern eben auch im technischen Setting – welches die einen hemmt, die anderen ermutigt. Hierbei spielt die Frage eine zentrale Rolle, wie das Zusammenwirken von digitaler Struktur und interaktivem Handeln sowie die Verbindung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteurinnen und Akteuren unter den genannten Bedingungen beschrieben werden können. Im Rahmen des Workshops werden die Möglichkeiten, sich zu begegnen und in Austausch zu treten, auf unterschiedliche Weise hergestellt und sichtbar: Sie erfolgen über das Kamerabild in der Videokonferenz, zeigen sich in Form von Bewegungen der Mauszeiger auf dem Board. Blicke folgen den Zeichnungen auf dem Board oder Zeilen im Chat, im wahren Wortsinn vermittelt das digitale Medium zwischen den Teilnehmenden und überbrückt die physische Distanz. Begegnungen bleiben anonym oder werden persönlich, Namen werden in der Videokonferenz nicht immer angegeben, teilweise mit oder ohne akademische Titel. Während Meinungen und Momente im digitalen Setting geteilt werden, sind alle Teilnehmenden zugleich auch Teil eines anderen, je unterschiedlichen Settings mit verschiedenen Sinneseindrücken.
Experimentelle Formate, zum Beispiel das im Workshop erprobte, eröffnen einen Raum, um die Funktionsweisen digitaler Formen des Austauschs und der Zusammenarbeit im Modus ästhetischen Denkens ergebnisoffen und spielerisch zu nutzen und zu befragen. Dabei gilt es zu erkunden, welche Rolle ästhetisches oder künstlerisches Denken und Handeln für die Entwicklung eines «sensorial shift» (Kholeif 2018, 95) spielen bzw. spielen können –
«by using art, that great barometer of cultural change, to build the kind of vocabulary necessary for narrating its [the world’s] recent history» (Kholeif 2018, 95).
Mit Kholeif können ästhetische und künstlerische Formen und Strategien zum Überdenken der möglichen Beziehungen zwischen «realer» und «virtueller» Welt (ebd., 127) oder der Simulation als sinnliche Stimulation (ebd., 134) anregen, um auf diesem Wege neue Dimensionen für Kulturelle Bildung zu erschließen.
Macht: Möglichkeiten der Aushandlungsprozesse
«Was gebe ich? Was nehme ich? Was sind eigentlich Tauschwerte in partizipativen Projekten und Prozessen?» (Fragen der Teilnehmenden, notiert auf dem digitalen Whiteboard)
Die Einladung zur Mitwirkung an den kollaborativen Collagen war gewissermaßen eine zwingende Aufforderung. Die Teilnehmenden hatten nicht die Wahl, eine Rolle als reine Zuhörende einzunehmen. Dieser «Zwang zur Partizipation» gehört zu den Grunddilemmata von Partizipation (vgl. Braun und Witt 2017). Gleichzeitig scheint es im Fall unseres Workshops sehr leicht, sich diesem Zwang zu widersetzen, sich beispielsweise aus der Online-Veranstaltung auszuklinken bzw. herauszuklicken oder auch das vorgeschlagene Handlungsprinzip «eigenmächtig» anders zu interpretieren und zu nutzen als von uns als Workshopleitende intendiert (vgl. Abb. 3). Im Workshopverlauf lassen sich zu Beginn Unsicherheiten beobachten. Ein anfängliches Gefühl von Überforderung lässt sich teilweise mit der Tatsache erklären, dass solche interaktiven Tagungssettings (noch) ungewohnt, die Möglichkeiten, Arten und Weisen der aktiven Mitgestaltung (noch) nicht vertraut sind. Zum Zeitpunkt der Tagung waren digitale Großveranstaltungen zwar schon üblicher geworden, viele davon allerdings eher unidirektional angelegt. Die Aushandlungsprozesse während solcher Veranstaltungen entwickeln sich im Laufe der Zeit – kommen weniger über Bewegungen oder den Körper zum Ausdruck, wie zum Beispiel durch Aufstehen, Vereinnahmung von Raum oder Rückzug. Stattdessen werden andere Aspekte der Diskursmacht bedeutender, zum Beispiel in Form von Redezeiten und Dominanzen, Sprachgebrauch, Anwendung der ästhetischen Mittel und Vereinnahmung von Platz auf dem digitalen Whiteboard.
Die Auswahl der Tools zur Umsetzung des Workshops bestimmt dabei wesentlich, wenn auch nicht immer bewusst, welche Möglichkeiten der Aushandlungsprozesse und Machtverhältnisse entstehen. Die mediale Herausforderung besteht hier auch darin, verstehen zu lernen, dass der Umgang mit den verborgenen Strukturen von Medialität, ihre Bedingungen und Effekte immer ein Umgang mit etwas sind, was sich systematisch der Sichtbarkeit wie Gegenständlichkeit und dadurch auch einer machtkritischen Reflexivität entzieht (vgl. Jörissen 2017, 4).
«Wir haben viel reflektiert, wie das für uns war. Am Anfang war das nicht sehr angenehm, sich zu orientieren: Was kann ich machen? Wie funktionieren die Tools? Und auch der sehr offene Auftrag, mit dem man sich in dem Moment erstmal finden musste, war anspruchsvoll. Aber dann war es sehr spannend, sehr gut!» (Rückmeldung einer Teilnehmenden in der Abschlussrunde)
Perspektiven zur digitalen Vernetzung in der Kulturellen Bildung
Gemeinschaftlichkeit in digitalen Räumen
Die Einladung zur Interaktion, zum eigenständigen und gemeinsamen digitalen Collagieren, wurde von den Teilnehmenden in der abschließenden Feedbackrunde unterschiedlich bewertet – grundsätzlich positiv, doch im Rückblick auch mit anfänglicher Unsicherheit verbunden: Viele fragten sich, was zu tun sei und was erwartet werde, wie viel Freiraum sie sich nehmen und anderen lassen konnten. Das Setting wurde wahrgenommen als eines, das Partizipation anbietet und erwartet, als Freiraum und Zumutung zugleich. Falls niemand aktiv geworden wäre, wäre folglich nichts passiert.
Die verschiedenen Gruppen entwickelten unterschiedliche Vorgehensweisen. Nicht immer waren sie klar ausgesprochen und vereinbart, oft eher prozessual entstanden. Das Setting bot unterschiedliche Handlungsoptionen: Während beispielsweise einige in der Gruppe diskutierten, beteiligten sich andere durch Textergänzungen oder Bildbeiträge auf dem digitalen Board. Teilweise wurde lange geschwiegen, da alle Gruppenmitglieder mit dem Arrangieren des Materials beschäftigt waren und auf einer visuellen Ebene in den Austausch gingen – was im Digitalen ein anderes Denken als qua Begriff (vgl. Mersch 2015, 10) eröffnete. Die Interaktion zwischen zwei Gruppen lässt sich auch im Nachhinein (vgl. Abb. 3) noch nachvollziehen – als Einladung der einen Gruppe zur Zusammenarbeit und als Kommunikationsanlass (vgl. oben). Im digitalen, ästhetisch-spielerischen Interaktionsprozess wurde dies erst abgelehnt, dann aber doch nach Aushandlungsprozessen freundlich zugelassen. Auf diese Weise wuchsen zwei zuvor getrennte Arbeitsbereiche auf dem digitalen Whiteboard zu einem großen gemeinsamen Arbeitsbereich zusammen. Die Interaktionen sowie Artikulationen zwischen diesen beiden Gruppen, die zwar auf demselben Whiteboard agierten, jedoch in verschiedenen Breakoutrooms waren, erfolgte bedingt durch die und innerhalb der Infrastruktur des digitalen Mediums, das als Handlungsträger performativ Bedeutungen generierte. Die inhaltlichen Zusammenhänge, die zwischen den Beiträgen und Gedanken der Gruppen bestehen, erfahren so erst eine Visualisierung und damit Verhandelbarkeit.
Digitale Collagen und Kultur der Digitalität
In seiner Zeitanalyse misst Felix Stalder der Gemeinschaftlichkeit als drittem übergeordneten Merkmal einer «Kultur der Digitalität» (Stalder 2016) neben Referenzialität und Algorithmizität einen zentralen Stellenwert bei. Gemeinschaftliche Formationen entstehen nach Stalder in einem Praxisfeld, das durch informellen, aber strukturierten Austausch geprägt, auf die Generierung neuer Wissens- sowie Handlungsmöglichkeiten fokussiert sei und durch die reflexive Interpretation der eigenen Praxis zusammengehalten werde (vgl. ebd., 136-137). Die Handlungsfähigkeit einzelner entsteht dabei im Austausch mit anderen.
Den Bedingungen der Beziehungsgestaltung in digitalen Räumen bzw. in einer Kultur der Digitalität muss daher eine fundamentale Bedeutung auch für gelingende Vernetzungen in der Kulturellen Bildung beigemessen werden. So kann abschließend festgehalten werden, dass Auslöser von Austausch und inhaltlicher Vernetzung nicht nur Menschen bzw. die Teilnehmenden eines Workshops wie in unserem Fall sind, sondern stets auch die digitalen Möglichkeiten, in denen kommunikative Vernetzungen mittels Applikationen stattfindet. Sie nehmen eine zentrale, agierende Position ein, interagieren mit, formen digitale Kommunikations- und Austauschprozesse und entscheiden dadurch immer auch, wer wie partizipieren kann und darf. In Anbetracht einer Kultur der (Post-)Digitalität und zunehmender Digitalisierungsprozesse, inklusive ihrer Gestaltungsmöglichkeiten, liegt auch das Potenzial, Austausch- und Vernetzungsprozesse umfassender zu gestalten und durch ästhetisch-experimentelle Formen kollaborative Möglichkeits- und Erfahrungsräume zu eröffnen. Das Prinzip der digitalen Collage erscheint uns nach den Erfahrungen des Workshops als geeignete Strategie, damit Positionen und Perspektiven aller Beteiligten über Text, Bild, Sprache, Ton usw. in vielfältigen, vernetzenden Artikulationsformen in Interaktion treten können.
Weiterentwicklung von Interaktion und Partizipation in der Kulturellen Bildung im Rahmen des Forschungsclusters
Unterstützt durch die Arbeit im Workshop entwickelt sich eine Agenda zur Weiterentwicklung des Forschungsclusters. Entscheidend ist dabei die Reflexion von Macht: Wir erkennen, dass die Forschung zur Kulturellen Bildung eine stärkere demokratie- und wissenschaftstheoretische Reflexion von Macht erfordert. Es geht darum, die Kritik ernst zu nehmen am «god trick» (Haraway 1988) der Wissenschaft, der darin besteht, einen überlegenen Standpunkt zu reklamieren. Entsprechend gilt es, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern sich Wissen, das in dafür offiziell vorgesehenen Institutionen generiert wird, von anderen Wissensformen unterscheidet und welche Ansprüche an die Wissensgenerierung speziell in der Kulturellen Bildung gestellt werden müssen – und wer die Macht hat, darüber zu entscheiden. Zudem zeigen die Ausführungen, dass auch die Einbeziehung von digitalisierten Arbeitstools nicht als «stumme Verfügungsmasse» verstanden werden können, sondern ihr je spezifischer Eigensinn und ihre Handlungsmacht auf menschliche Akteure und deren Interaktionsformen einwirken und dadurch mitbestimmen, wie und von wem Wissen generiert wird (vgl. Hoppe und Lemke 2021, 10). Diese Fragen wird der Forschungscluster weiterverfolgen und dabei auch die Suche nach geeigneten Vorgehensweisen fortsetzen. Die hier berichteten Erfahrungen auf der Tagung sind wichtige Grundlagen dieser wissenschaftstheoretischen, methodologischen und forschungsmethodischen Arbeit.