Choreografie einer Diversität. Transkulturelle Methoden aus der Tanzpädagogik
Die Fremde erstreckt sich über Sehnsuchtsbögen, die man sich beim Tanzen in den Zwischenraum zwischen sich und den Anderen wünscht. Das Fremde ist nicht außerhalb unserer Wahrnehmung, sondern ein zentraler Bestandteil von ihr. Es ist der verborgene Schatten in unserem Gesicht, der Raum, der uns weggenommen wird, die Zeit, in der wir unser Mitgefühl verloren haben. Da die eigene Reflexion schmerzhaft sein kann, werden Wut und Angst auf den Anderen projiziert. Der wirkliche Reichtum des Anderen ist aber das menschliche Potential, das die Möglichkeit eröffnet, ein schöpferisches Leben zu erfahren. Diese Möglichkeiten bedeuten, eine Freiheit in Anspruch zu nehmen, die aus elementarer Neugier und alltäglicher wie auch künstlerischer Beweglichkeit entsteht. Die Freiheit, zu entscheiden und zu handeln, entspringt zwar aus den persönlichen Fähigkeiten, wird aber stark eingeschränkt, wenn die politischen und wirtschaftlichen Begebenheiten nicht vorhanden sind.
Der ANDERE im kulturellen Diskurs
Dieser Andere wird, über seine objektive Fremdheit hinaus, von uns als subjektiver Fremder wahrgenommen. Diese Subjektivität darf nicht nivelliert, im Tanzgeschehen überspielt oder vergessen werden. Sie soll als harmonischer Klang in das choreografische Handeln integriert werden und, wie bei einer Bachschen Fuge, die Musik der Wirklichkeit begleiten (Kristeva 1988:9-11 in der hebräischen Übersetzung). Tag für Tag entwickelt sich für uns eine neue Dimension des Sehens und Beobachtens von neuen sich bewegenden Körpern. Die Menschen, denen man im tänzerischen Experiment mit der Fremde begegnet, sind TänzerInnen der neuen Räume. Sie tanzen in einer neuen Zeitdimension, in einem neuen Wirklichkeitsverständnis. Von Augenblick zu Augenblick erschließen sich bewegende Existenzen vor den Augen der TänzerInnen. Wir lernen, das Fremde als Metapher für die räumliche Distanz zu erkennen und erleben, dass diese Distanz von uns selbst ausgeht und unsere ureigenen Grenzen und Befremdlichkeiten widerspiegelt.
Unser tänzerisches Selbst agiert als mehrstimmige Widersprüchlichkeit, die wir im tänzerischen Experiment als eine inspirierende Ressource einsetzen (ebd.:144). Was für unser Selbst zählt, ist der Mut, sich in all seinen verkörperten Facetten zu präsentieren. Der Gewinn von neuen Einblicken aus dem tänzerischen Experiment im Rahmen der Fortbildung an der Akademie Remscheid im Frühjahr 2015 schärfte die Verantwortung, selbst präsent zu sein, um das Fremde und das Bekannte sozusagen miteinander zu ‚komponieren’. In der Unmittelbarkeit der befremdeten Tanzimprovisation entdeckt der Mittänzer eine inspirierende Unruhe und ein essentielles Unbehagen. Der gemeinsame Versuch, einen festen Boden zu finden, auf dem das Brodeln zur Ruhe kommt, kann ein erster pädagogischer Schritt der Annäherung sein und zu einer schöpferischen Intensität aller Mitwirkenden führen.
Bildungsarbeit als humanistische Haltung
Das Hauptanliegen der transkulturellen Bildungsarbeit ist die Dynamik, in der Prozesse der Verbundenheit beobachtet werden und Begegnungsmomente die Stoßrichtung für ästhetische Erfahrungen geben. Dieser Arbeitsprozess entwickelt neue Spielregeln, die mindestens so stark und prägend sein können, wie die alten Spielregeln des Umgehens miteinander. Sie werden im pädagogischen Raum explizit ausgehandelt und unterliegen den Prinzipien der tänzerischen Dynamik. Darüber hinaus besitzen sie die Fähigkeit, in jedem tänzerischen Begegnungsmoment ihre angemessene Rolle einzunehmen und Handlungskompetenz für die nächste dynamische Veränderung zu zeigen. Zu dieser Kompetenz gehörten auch die kritischen Auseinandersetzungen mit den methodischen Interventionen, die ich in meiner Leitungsfunktion eingebracht habe und die im Sinne von Ulrich Beck im Kontext der kosmopolitischen Menschenwürde diskutiert wurden. Diese Interventionen, die ich als Coach in internationalen Tanzprojekten für geflüchtete Menschen einbringe (www.yante-yante-icanmove.org, community dance palestine), fordern eine pluralistische Perspektive, mit der die Vielfalt und Komplexität der menschlichen Qualitäten, ‚richtig‘, aber nicht mit einem einzigen Maßstab, eingeschätzt werden kann. (Vgl. Nussbaum 2015:31).
Leider ist die hiesige politische Struktur unzureichend, um die substantiellen Ressourcen der, bei uns lebenden, geflüchteten Menschen, kreativ und innovativ einzusetzen. Das neue Paradigma des human development soll die mannigfachen Fähigkeiten der Menschen, sowohl in ihrem Alltag als auch im Kontext Kulturelle und ästhetische Bildung integrieren. Dies geschieht leider zu selten. Die Insensibilität, die die Menschen täglich erfahren, entsteht aus der Haltung, alle an den gleichen Normen messen zu wollen. Hier und da werden kleine Teilaspekte der fremden Sichtwesen angenommen. Die Herausforderung, große, kohärente Teilaspekte anzunehmen, steht uns noch bevor. (Vgl. ebd.:105). Aus meiner aktuellen Erfahrung spiegelt die künstlerische Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen, wie unterschiedlich sie Entscheidungen treffen und wie unterschiedlich sie ihren Anspruch, diese überhaupt zu treffen, wahrnehmen.
Da die meisten Menschen, die zu uns kommen, andere gesellschaftliche Strukturen kennen, als die, die hier vorhanden sind, müssen unsere normativen Konzepte des Austauschs und des Dialogs einem Umdenken unterzogen werden. Jede Erfahrung, Entscheidung und Handlung eines Menschen wird von seinen gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Identitäten geprägt. Auch das Maß an Verantwortung wird von diesen Voraussetzungen mitgeprägt. Die Aufgabe der Kulturellen Bildung könnte sein, das Fördern und Unterstützen von klaren Äußerungen und eindeutigen Verantwortungen sowie diese als gesellschaftlichen und politischen Wert zu thematisieren. Mit der Perspektive des kulturellen Pluralismus muss auch unsere Moralkonzeption hinterfragt werden. Mein Blick auf das Phänomen Körper, das wesentliche Ausdrucksmittel der tänzerischen Arbeit, habe ich in mehrfacher Hinsicht zu sensibilisieren gelernt. Oft war das Würdigen ihrer Freiheitsbereiche ein Widerspruch zu meinen künstlerischen Qualitätsmaßstäben. Die praktischen politischen Zwänge waren der Nährboden für kontroverse Fragen, die dann wiederum im Sinne der prozessorientierten Arbeit zu neuen Ausdrucksmitteln geführt haben.
Das Fremde als neuer Wirkungsraum
So sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass der Fremde ein Individuum ist, das gezwungen ist, seine künstlerische und alltägliche Identität jeden Tag aufs Neue herzustellen, sich in seine eigenen kulturellen Wachstumsprozesse zu begeben und sich den Gegensätzen der neuen Wirklichkeit zu stellen. Er ist im Gruppenprozess erfinderisch und nachdenklich zugleich und spielt mit den Gegebenheiten und mit den Grenzen der ästhetischen Freiheiten. Er setzt diverse Mittel der körperlichen Kommunikation ein, um ein Teil des Ganzen zu werden. Seine Reflexion ist nie zurückhaltend. Sie bildet den Rohstoff für seine neuen künstlerischen Handlungen und beschleunigt seine Bewegungsprozesse im neuen Wirklichkeitsraum. Er muss aber die Grenzen der Freiheit im Rahmen einer extremen Ungleichheit von Anregungen und Gegebenheiten immer neu definieren und ein neues Instrumentarium für die eigene Reflexion entwickeln. Die neue Situation bringt neue Gefahren für ihn mit sich, wenn er seinen individuellen Handlungsraum nicht klar definiert. Um die Angst vor Ausgrenzung zu minimieren, gehen die TeilnehmerInnen in Kontakt. Sie entwickeln eine Vielfalt von Kommunikationsmodi und überprüfen sie in einem für sie fremden Kulturraum. Sie halten aber gleichzeitig an Bildern fest, die sie an Erfahrungen der Ausgrenzung erinnern. Diese Erinnerungen können neben der Sprache, in der sie ihre Erlebnisse und Erinnerungen wahrnehmen und kommunizieren und die Gegenstand ihres mentalen und emotionalen Zustand sein können, auch ästhetische Formen von „Abreisen, Ankünften, Abschieden, Exil, Heimweh, Nostalgie, Zugehörigkeit“ sein (Said 2000:9).
Die scheinbar unbegrenzten Explorationsmöglichkeiten, die in der Tanzimprovisation ausprobiert und reflektiert wurden, ermöglichten aus der pädagogischen Perspektive eine unverwechselbare Prägung der eigenen Flexibilitätskompetenz. Die Frage, was es bedeute in der Fremde zu sein und doch bei sich zu bleiben, wurde zu einer biografisch-tänzerischen Fragestellung, für die eine neue Wahrnehmungs- und Reflexionskompetenz nur langfristig entwickelt und geschult werden kann. Diese Kompetenz kann sich ausschließlich aus der beweglichen Pluralität von praktisch orientierten Prozessen erschließen und zusammensetzen lassen. Der Prozess des ästhetischen Handelns brachte am Beispiel des Tanzes die nötige Großzügigkeit und Offenheit zum Ausdruck und thematisierte die menschliche wie auch die künstlerische Perspektive der Kulturellen Bildung. Leitung und Teilnehmergruppe waren sich aber auch gleichzeitig der Gefahr bewusst, dass unangemessene Akzente gesetzt und unausgesprochene Bedürfnisse verkannt werden können (da wäre es pädagogisch zu empfehlen, bekannte Erwartungen und Vorstellungen zu verlassen und die Aufmerksamkeit auf die Dynamik von neuen Impulsen zu richten. Widersprüchliche Bedürfnisse müssten losgelassen werden, um gemeinsame Wünsche und Erwartungen neu benennen zu können).
Ästhetische Erfahrungen und Differenzierungsfähigkeiten
Die Idee des Transfers von sozialen, kulturellen und biografischen Ausgrenzungserfahrungen in den Tanzprozess und ihre unmittelbaren Folgen auf die Gruppenarbeit wurde für die Teilnehmergruppe so anschaulich evaluiert, dass die persönliche Sicht zum Unterbau der künstlerischen Arbeit wurde. Die Frage „Was habe ich mit dem Thema zu tun?“ wurde durch eine transdisziplinäre Erfahrung beantwortet. Die Vorstellung, dass die Begegnung mit einem fremden Phänomen mittels kultureller Praxis erlebt, wahrgenommen, reflektiert und integriert werden kann, wurde von den TeilnehmerInnen als Ergebnis benannt.
Auch die Freiheit, offene Fragen im Raum stehen zu lassen, wurde als wichtiger Bestandteil der praktischen wie auch der theoretischen Anteile der kulturellen Arbeit bezeichnet. In unseren internationalen Foren unter anderem in Zusammenarbeit mit der Universität von Ankara haben wir öfter Situationen erlebt, in denen die Diskussionen über die Definition von Freiheit im interkulturellen Diskurs im Mittelpunkt der Begegnungen stand. Diese Freiheit beruht auf der Annahme, dass die Kunst ein System ist, dass polykontextuelle Realitäten zulässt und damit die „Pluralität und Komplexität“ einer postmodernen Gesellschaft widerspiegelt. Die Kunst, und in diesem Fall die Tanzimprovisation, kann das Generieren von Konfliktpotentialen in den Kunstprozess integrieren und sowohl „Gelungenes als auch Misslungenes“ stehen lassen und aushalten (Luhmann 1995:494-495, 506-507). Es wurde allerdings auch die Symbiose zwischen dem Erlebten und der ästhetischen Form hinterfragt.
In einem System, in dem sowohl die Erfahrung als auch die Form zum kommunikativen Bestandteil werden, müsste ein zusätzliches Instrumentarium entwickelt werden, um zwischen den diversen Perspektiven der biografischen Betrachtung oder genauer formuliert: zwischen der empathischen Perspektive auf den Erfahrungen des Anderen und der erlebten Selbstreferenz, unterscheiden zu können. Das Ziel, einen postmodernen Paradigmenwechsel im Sinne von Gadamer und Bauman, anzuregen und den Lernprozess so anzulegen, dass jeder von jedem lernt (siehe auch das Interview mit Zygmunt Bauman in Hudzik 2011), muss voraussetzen, dass eine nachhaltige, teilnehmende Reflexion stattfindet. Es geht nämlich in diesem Lernprozess um eine Kunst, so zu lernen, dass nicht das Wissen um die Sache im Mittelpunkt steht, sondern die Symbiose zwischen der „Selbst- und der Fremdbeobachtung“ ermöglicht wird (Luhmann 1995:92-97).
Die Spannung in der dialektischen Beziehung zwischen einem fremden Sein und einem bekannten Sein spaltet das Bewusstsein vieler zeitgenössischen KünstlerInnen. Sie sind in unserer Zeit NomadInnen, die einen Begegnungsdialog mit anderen KünstlerInnen suchen. Dieser Dialog basiert auf einer Sprache, die sich jenseits eines kulturell heimatlichen Bodens entwickeln muss. Ein neuer künstlerischer Heimatraum muss gestaltet werden, der von der biografischen Ursprungsheimat radikal abweicht. Dieser neue (Tanz)Raum entsteht da, wo gemeinsam mit anderen Kunstschaffenden neue Dimensionen von Ideen, Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen entwickelt werden.
Das Ziel der ästhetischen Bildung ist dann, ein Forum zu schaffen, in dem die starke Ausdruckskraft der Menschen im Mittelpunkt steht und in dem sie ihre Vorstellungen von Heimaträumen künstlerisch thematisieren können.
Die Auseinandersetzung mit Vertreibung und Heimatlosigkeit stärkt noch einmal die persönliche Wahrnehmung für Raum und Zeit. Die Dimensionen der Raumvorstellungen verändern sich, wenn sich die wahrgenommene Zeit verändert. Jede bedrohliche Erfahrung in der eigenen Biografie ist eine einmalige Korrespondenz von Raum, Dynamik, Intensität und Zeit. Der ästhetische Handlungs- und Beobachtungsprozess ermöglicht, im Gegensatz zur biografischen Erfahrung, das Phänomen der Bedrohung zu reflektieren und künstlerisch zu entfremden. Der ästhetische Raum ermöglicht dem Körper und der Wahrnehmung eine Metamorphose von schmerzlichen Erlebnissen. Das Erschließen-wollen neuer Terrains in der tänzerischen Handlung ist im metaphorischen Sinne das Erschließen von neuen Raumvorstellungen auch im gesellschaftlichen und politischen Sinne. Die Ritualisierung der Erinnerung schafft Raum für ein neues Zuhause-sein. Ein Tanz- oder Bühnenraum ist oft eine bewusste und freie Entscheidung für eine Reise in ein ‚fremdes Land’. Der Abschied von überholten ästhetischen oder kulturellen Formalismen korrespondiert mit anderen Lebensbereichen und kann in der neuen Wirklichkeit als Überlebensstrategie angewendet werden und die Wahrnehmung für die Kontextabhängigkeit von Raum und Zeit schärfen.
Um den Anderen im Tanzraum zu begegnen, brauchten die TeilnehmerInnen eine Brücke, ein Symbol des Übergangs. Gezielt eingesetzte Darstellungen, die bewegungslose Personen auf einer Brücke oder in einem leeren Raum zeigten, erzeugten bei den Teilnehmenden ein Gefühl von Ungleichgewicht, von einem Prozess, der nicht abgeschlossen wurde.
Dieses Ungleichgewicht verkörperte aber gerade die prozessorientierte Handlung sowie das Erleben einer kulturellen Diversität und stand künstlerisch für das Nichtbewältigte, das Nicht – irgendwo – angekommen sein.
Als Rahmen für die kulturelle Entfaltung des Fremden reicht eine institutionelle Förderung Kultureller Bildung nicht aus. Für die verschiedenen Zivilisationen, die miteinander in einen Austausch kommen möchten, braucht es ein von der Basis auf durchdachtes soziales System, das sie miteinander verbindet, ineinander verankert.
PolitikwissenschaftlerInnen aus dem islamischen Raum, wie zum Beispiel Bassam Tibi, betrachten die Synthese zwischen dem Prinzip der transparenten Systeme und dem Prinzip der kulturellen Entfaltung als grundlegend für ein befriedigendes Zusammenleben von religiös und ethnisch verschiedenen Segmenten.
Das Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Stabilität ist eine körperliche Erfahrung, die sich von räumlichen und zeitlichen Empfindungen ableitet. Die Verankerung der ästhetischen Erfahrung in der Alltagswirklichkeit wird für die Teilnehmenden zu einer neuen Wirklichkeit ihrer Biografie werden. Eine Existenz, die von Bedrohungs- und Ausgrenzungsängsten geprägt war, könnte mit dem aus der Fortbildung mitgenommenen Instrumentarium weiter reflektiert und als Strategie zum Schutz vor weiteren Ausgrenzungserfahrungen verwendet werden.
Uncertain Citizen oder das Konzept der Zugehörigkeit
Das Konzept des Citoyens, der vom Politikwissenschaftler Bassam Tibi als Alternative zum Fremden definiert wurde, ist eine Strategie, die der Fremde sich aneignen könnte, um semantische Begriffe, die seine Entkörperung stigmatisieren, in einen angemessenen Diskurs zu bringen und in sein Umfeld zu integrieren. Um im Tanzraum handlungsfähig zu sein, wurde dieser Denkimpuls körperlich umgesetzt und als Bewegungsimpuls für eine Vielfalt von Improvisationen eingesetzt. Bei diesem Konzept wird das Individuum nach seiner Vielfalt gefragt und soll die Diversität seiner Identitäten, kulturell und gesellschaftlich, in Einklang bringen. Da die postmoderne Gesellschaft und damit die europäische Identität auf einer konsensuellen und nicht auf einer ethnischen Gemeinschaft beruht, muss ein neues Denkmodell „von Bürgern im Sinne von Citoyen/Citizen“ entwickelt werden (Tibi 1996:377), in dem die ethnisch-exklusive Zugehörigkeit eine neue Rolle spielt. Übertragen auf die ästhetische Bildung, und damit auch auf die Tanzpädagogik, bedeutet dieser Ansatz eine Arbeitsmethode, die das Exklusive wie auch das Inklusive eines Individuums in den Vordergrund eines kulturellen Dialogs stellt. Die enge Beziehung zwischen Bewegung, Dynamik und Raum stärkte in der Fortbildung das Gleichgewicht von Flexibilität und Stabilität und hat zu einem neuen Diskurs über zwischenmenschliches Vertrauen und Misstrauen geführt. Sie hat Normen des Umgangs miteinander thematisiert und systemische Strukturen künstlerisch umgesetzt. Die Fähigkeit zum kreativen Diskutieren und Umsetzen neu erlernter kultureller Inhalte erleichterte den Umgang mit einem unbekannten gesellschaftlichen Relativismus und bot ein Spielfeld für die Verkörperung des eigenen Seins.
Um kulturelle Botschaften anderer Kulturen in unseren Kulturraum zu integrieren, bedarf es im Sinne von Gaston Bachelard einer Klärung der Begrifflichkeit von Außen und Innen: „Draußen und Drinnen bilden eine Zerstückelungsdialektik [….]. Sie hat die scharfe Deutlichkeit der Dialektik des Ja und des Nein, die alles entscheidet. Ohne dass man es merkt, macht man daraus eine Basis von Bildern, die sämtliche Gedanken des Positiven und des Negativen beherrschen“ (Bachelard 1987:211). Beherrschung des kulturellen Lebensraumes bedeutet, dass wir der Überzeugung sind, dass Botschaften aus fremden Kulturen unseren eigenen sozialen, ästhetischen und emotionalen Erwartungen entsprechen müssen. Eine von Grund auf veränderte Einstellung zum Draußen und zum Drinnen bzw. zum Fremden und zum Bekannten kann ausschließlich durch einen Prozess der wechselseitigen Erfahrungen unterstützt werden. Der Bruch mit den eigenen kulturellen Normen kann dabei unvermeidbar sein. Da sich dabei allerdings neue Dimensionen des Verständnisses entfalten, könnte er ein Anreiz für weitere ästhetische Erfahrungen werden.
Biografische Körper in politischen Räumen
Körperliche Prozesse können aber nur aus biografischer Sicht durchlaufen und erlernt werden, was bedeutet, dass auch in der Fortbildung körperliche Lernprozesse nicht ganz vorurteilsfrei abgelaufen sind. Eine wichtige Erkenntnis der TeilnehmerInnen war, dass körperliches Lernen nur aus den schon vorhandenen Ressourcen denkbar ist. Das Alte wird in der Auseinandersetzung mit dem Neuen zu einem neuem Bewusstsein, einem neuen Sinn. Es findet für alle beteiligten Seiten ein Umlernen von alten Mustern statt. Jeder neue Ausdruck, der vorgebracht wird, spiegelt das „Bedürfnis nach einem andern Ausdruck, dass das Sein alsbald zum Sein eines anderen Ausdruck werden muß“ (ebd.:213-214).
Zu den körperlichen Lernprozessen gehört ebenfalls ein Gefühl der Zugehörigkeit, das vielen Menschen, die zu uns kommen, fehlt. Da sie alte Strukturen verlassen haben und neue noch nicht aufgebaut haben, können der Raum und der Kontext des körperlichen Lernens zu einem Raum der Würde und Achtung werden. Die Gefühle der Zugehörigkeit und der Solidarität sind sowohl Zwecke wie auch Mittel, alle anderen individuellen Fähigkeiten zu stärken und besser zu strukturieren (Vgl. Nussbaum 2015:47). Über die Gefühle der Menschen mit diskutieren zu können erfordert, mit ihren Erlebnissen vertraut zu sein und die Bereitschaft hervorzubringen, mit ihnen künstlerisch an ihren Erlebnissen zu arbeiten und sie in ihrer Komplexität zu respektieren.
Die Verletzung der körperlichen Integrität löst eine Kettenreaktion von Angst und Wut aus und spiegelt für den Betroffenen seine Rolle in einem befremdeten Lebensraum. Diese Befremdung kann schnell zur Bedrohung werden, vor allem, wenn die Bedeutung des unverletzten Körpers eine andere Rolle in der Ursprungskultur spielt. In der Absicht, Angst und Agitationen zu verhindern, müssen Formen eines postmodernen Kommunikationssystems gelernt und geübt werden. Ich verstehe die nächste Phase der kulturellen Vielfalt als Phase des authentischen und gegenseitigen Altruismus, bei dem ein Dogmatismus in der Fragestellung wie in der Begriffsfindung vermieden wird. Die Rolle der transkulturellen Bildung ist diesbezüglich, den dogmatischen Egoismus durch einen flexiblen Altruismus zu ersetzen, in dem zivilisatorische Integration und die Bewahrung der eigenen Identität Hand in Hand gehen. Dazu gehört auch eine grundlegende kulturpolitische Diskussion, die die vorhandenen Konfliktbereiche ohne Scheu zum Ausdruck bringt und sie praktisch umsetzt. Diese Diskussion muss politische Innovationen thematisieren, damit sie mit Mitteln der Kulturellen Bildung umgesetzt werden und nicht nur als politisches Postulat verkommen. Sie muss dringend auch in den Behörden stattfinden, die den Alltag der geflüchteten Menschen vorschreibt bzw. einschränkt. Diese verinnerlichen nämlich sehr schnell ihren untergeordneten Status und stärken damit ihr Erscheinungsbild in der Gesellschaft, das häufig ungerecht sein kann. Die negative Selbsteinschätzung spiegelt sich dann auch wider, wenn mit diesen Menschen kreativ und innovativ gearbeitet wird. Dieser Teufelskreis der Hilfslosigkeit und der Anpassung an gesellschaftlichen Erwartungen (ich kann nichts, ich bin nichts, ich schaffe es nicht usw. sind Stigmatisierungen, die fast alle marginalen Gruppen charakterisieren) wird auf den Kopf gestellt, wenn ein ressourcenorientierter Zugang angewendet wird. Darüber hinaus wirkt die Aussicht auf eine sichere Zukunftsperspektive auf die emotionale Gesundheit und kreative Haltung der Menschen. Die Lust und die Motivation, eigenständig und frei zu entscheiden und zu handeln, um für sich ein zufriedenes Leben zu gestalten, würde wachsen, wenn die zuständigen Behörden mehr Gestaltungsfreiheit und weniger Vorschriften und starre Vorgaben zugelassen hätten.
Zum Abschluss möchte ich ein Plädoyer für eine Leichtigkeit und eine Gelassenheit im Umgang mit diesem Thema aussprechen. Das Heranwachsen, die Orientierung und das künstlerische Handeln in mehreren Kulturen gleichzeitig kann eine schmerzhafte Erfahrung sein. Oft fühlt man sich, wie Edward Said seine Autobiografie genannt hat, am falschen Ort (Said 2000). Auch der künstlerische Ort kann von widersprüchlichen Wirklichkeiten geprägt sein, so Said. Er plädiert diesbezüglich für Distanz und Ironie in jedem Umgang mit kultureller Diversität. Diese ‚färben’ die Identitätsfindung sowie das Selbstbewusstsein und das Wahrnehmen des Anderen. Unserer dynamischen Identität, die jeder von uns immer von neuem reflektieren sollte, täte es gut, wenn sie sich ihrer Brüchigkeit, aber auch ihrer Virtuosität, ihrer Inspiration und ihrer emotionalen Komplexität bewusst wäre. ‚Anders’ sein ist nämlich ein lebenslanges explizites Erforschen der persönlichen Bedürfnisse, das auf einen gereiften Blick auf die kulturelle, räumliche und zeitliche Distanz zwischen einem Möglichkeitsraum und einem Wirklichkeitsraum nicht verzichten kann. Die Perspektive auf das inhärent Kosmopolitische im eigenen Dasein begleitet den Anderen in jeder seiner Entscheidungen und Handlungen. Vielleicht gerade weil es so unverzichtbar ist, fällt es uns so schwer, in einem Kaleidoskop von Diversitäten und schöpferischen Ressourcen zu leben und die kulturelle Heterogenität als zeitgemäße Alternative zur Homogenität zu entdecken.
Dabei kann die ressourcenorientierte Bildung, die die persönlichen Fähigkeiten fördert und das körperliche und emotionale Wohlbefinden im Auge behält, eine wichtige Rolle spielen. Als Schlüssel für eine lebenslange Zufriedenheit, als Grundlage für den Einsatz gegen Benachteiligung und als Chance für gesellschaftliche und kulturelle Teilnahme ist sie nach wie vor von herausragender Bedeutung.