Chancen und Herausforderungen für kulturelle Bildungskooperationen im Ganztag: Zu Wirkungsfragen formaler und non-formaler Bildungspraxis
Abstract
Kooperationen im Ganztag bedingen Aushandlungsprozesse zwischen den Bedürfnissen und Ansprüchen non-formaler Kultureller Bildung und den Rahmenbedingungen formaler Bildung. Dabei stellt sich immer wieder die Frage: Inwieweit kann non-formale Kulturelle Bildung hier Kompromisse eingehen, ohne ihren selbst definierten Bildungsanspruch zu verlieren? Und wie kann der Ganztag gestaltet werden, der spezifische Wirkungen non-formaler Kultureller Bildung in formalen Settings ermöglicht? Spezifische Wirkungskontexte der non-formalen Kulturellen Bildung liegen nach der nachfolgenden Betrachtung vor allem in der Chance, die Interessenbildung für Kunst und Kultur, also letztlich die kulturelle Teilhabe, positiv zu beeinflussen, Perspektivwechsel anzuregen sowie in der subjektspezifischen Stärkung, aus der eigene „nachhaltige“ Haltungen und Selbstbildungsprozesse resultieren. Es bedarf jedoch prozessorientierter Freiräume für die Entwicklung eigener Interessen und Haltungen. Innerhalb formaler Strukturen, die eine wesentlich stärkere Planung, Strukturierung und Festlegung von Bildungsabläufen verfolgen müssen, sind solche Freiräume – das zeigt die bisherige Praxis kultureller Bildungskooperationen – kaum zu realisieren. Müssten Koproduktionen des Ganztags auf Augenhöhe daher nicht noch einmal neu gedacht werden?
Innerhalb kultureller Bildungskooperationen im Ganztag ergibt sich eine Vielzahl an Herausforderungen. Formale und non-formale Kulturelle Bildung verfolgen unterschiedliche Ziele, unterschiedliche Didaktiken, mit daraus resultierenden unterschiedlichen pädagogischen Haltungen (vgl. BKJ 2010). Im Sinne der unterschiedlichen Ziele unterscheiden sich auch die Rahmenbedingungen von formaler und non-formaler Bildung. Bei Kooperationen entstehen daher Aushandlungsprozesse zwischen den Bedürfnissen und Ansprüchen non-formaler Kultureller Bildung und den Rahmenbedingungen formaler Bildung. Und es stellt sich immer wieder die Frage: Inwieweit kann non-formale Kulturelle Bildung hier Kompromisse eingehen, ohne ihren selbst definierten Bildungsanspruch zu verlieren? Und wie kann der Ganztag gestaltet werden, der spezifische Wirkungen non-formaler Kultureller Bildung in formalen Settings ermöglicht?
Um diesen Fragen nachzugehen, werden in einem ersten Schritt die Motive von formaler und non-formaler Bildung für kulturelle Bildungskooperationen retroperspektivisch betrachtet. In einem zweiten Schritt werden Wirkungsstudien zur Kulturellen Bildung thematisiert. Wenn die Ziele von formaler und non-formaler Bildung divergieren, ist zu vermuten, dass sich auch Wirkungseffekte beider Bildungsbereiche unterscheiden. Dies soll exemplarisch anhand der Wirkung von formaler und non-formaler Kultureller Bildung auf kulturelle Teilhabe untersucht werden. Um spezifische Wirkungseffekte non-formaler Kultureller Bildung herauszuarbeiten, die sich nicht grundsätzlich aus dem non-formalen Bildungskontext ergeben, werden in einem dritten Schritt Ziele und Grundprinzipien der Kulturellen Bildung mit anderen non-formalen Bildungsbereichen, hier exemplarisch politische Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), verglichen. Abschließend werden die Bedingungen kultureller Bildungskooperationen im Ganztag in Bezug gesetzt zu den so herausgearbeiteten Spezifika non-formaler Kultureller Bildung, unter der Fragestellung: Bestehen Chancen, spezifische Wirkungseffekte der non-formalen Kulturellen Bildung innerhalb kultureller Bildungskooperationen im Ganztag zu bewahren?
Zu den Hintergründen und Motiven kultureller Bildungskooperationen
Vereinzelt hat es immer schon Kooperationen zwischen formaler und non-formaler kultureller Bildungspraxis gegeben. Die systematische Förderung kultureller Bildungskooperationen im Ganztag wurde jedoch durch verschiedene Impulse und Motive befördert.
Ein Motiv kann auf den „großen“ (vgl. PISA-Konsortium 2001) und den „kleinen“ PISA-Schock zurückgeführt werden, mit der Erkenntnis, dass Schulbildungserfolge, aber genauso der Zugang zur Kulturellen Bildung, abhängig sind von der Schulbildung der Eltern. So wurden 2004 erstmals in einer bundesweiten repräsentativen Befragung, im 1. Jugend-KulturBarometer (Keuchel/Wiesand 2006), kulturelle Teilhabe und kulturelle Bildungsverläufe systematisch untersucht. Das Ergebnis war ernüchternd: Sowohl innerhalb der formalen als auch der non-formalen Kulturellen Bildung konnten deutliche Chancenungleichheiten beobachtet werden. Beispielsweise gaben nur 15 Prozent der Hauptschüler*innen bzw. Hauptschulabsolvent*innen an, dass sie mit ihrer Schule schon einmal ein Theater, Museum, Konzert oder ein anderes kulturelles Angebot besucht haben. Bei den Abiturient*innen lag der Anteil vergleichsweise bei 50 Prozent (vgl. ebd.: 78). Auch der Zugang zu non-formalen Bildungsangeboten war sehr deutlich abhängig vom Bildungshintergrund. So hatten beispielsweise nur acht Prozent der Hauptschüler*innen bzw. Hauptschulabsolvent*innen in ihrem bisherigen Lebensverlauf schon einmal ein Angebot der Musikschule besucht, dagegen jedoch vergleichsweise 55 Prozent der Abiturient*innen bzw. Gymnasiast*innen (vgl. ebd.: 49). Diese Beobachtungen förderten die Bereitschaft zu kulturellen Bildungskooperationen. So entdeckte der non-formale Bildungsbereich in den Kooperationen mit formalen Strukturen die Chance, alle Kinder und Jugendliche zu erreichen und der formale Bereich die Verpflichtung, jenseits der künstlerischen Unterrichtsfächer kulturelle Teilhabe nicht einseitig zu gestalten, sondern innerhalb aller Schulformen zu fördern.
Ein weiterer Impuls, der die Kooperationsbereitschaft in der Kulturellen Bildung förderte, war die zunehmende Erkenntnis, die über Zeitreihenvergleiche (vgl. Hamann 2005; Keuchel 2006) manifestiert wurde, dass kulturelle Präferenzen eher generations- statt altersspezifisch geprägt werden (vgl. Keuchel 2013). Die vergleichsweise geringe Zeiterfahrung mit Jugendkulturen, die sich vor allem erstmals mit dem Rock ’n’ Roll etablierten, hatte Kultureinrichtungen verleitet, davon auszugehen, dass Jugend ihre eigene Kultur hat und sich dann im Alter wieder der sogenannten etablierten Kultur zuwende. Zeitreihenvergleiche (vgl. Hamann 2005; Keuchel 2006) belegten jedoch, dass heute junge Senior*innen und zunehmend auch die Elterngeneration nicht klassische Musikkonzerte, sondern im Bereich von Rock, Pop und Jazz den Musikgewohnheiten ihrer jungen Erwachsenenaltersphase treu bleiben. Hatten Kultureinrichtungen bis zu diesem Zeitpunkt Jugendliche als Zielgruppe vernachlässigt, entwickelte sich jetzt im Sinne der Zielperspektive eines Kulturpublikums von morgen die Motivation, neue Formate für Jugendliche zu entwickeln und hier insbesondere mit Schulen zu kooperieren.
Ein weiterer Impuls kam außerhalb des Handlungsfelds der Kulturellen Bildung in Form des Ausbaus der Ganztagsschulen 2004 im Rahmen des Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung (IZBB)“ (vgl. MSB NRW 2004; KMK 2015) und des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ (vgl. DKJS o. J.). Dies führte vonseiten des formalen Bereichs zu einer aktiven Suche nach Kooperationspartnern, die den Ganztag sinnvoll füllen, wobei die Akteur*innen aus Kultureller Bildung und Sport hier wichtige Ansprechpartner*innen waren. Hierdurch entstand für die non-formale Kulturelle Bildung auch eine gewisse Notwendigkeit, auf „Schule“ zuzugehen. Denn mit dem Ausbau der Ganztagsschulen stand der Nachmittag dem non-formalen Bildungsbereich nur noch eingeschränkt zur Verfügung. So entstanden im Rahmen des Programms erste Verständigungsrichtlinien und Hilfen für formale und non-formale kulturelle Bildungskooperationen (vgl. Keuchel/Aescht 2007).
All diese Impulse führten zudem zu einer Vielzahl an neuen bundes- und landesweiten sowie regionalen kulturellen Bildungsprogrammen, die sich zum Ziel setzten, formale und non-formale kulturelle Bildungskooperationen anzustoßen und hier vor allem auch Hauptschulen (vgl. Keuchel 2009: 25f.) und Schulen in sozialen Brennpunkten stärker mit Kultureller Bildung zu vernetzen. Seit dieser Zeit hat sich der Diskurs um angemessene Rahmenbedingungen formaler und non-formaler Bildungskooperationen intensiviert und ist bis heute noch nicht abgeschlossen.
Zum Diskurs um Wirkungen Kultureller Bildung
Welche Wirkungen werden allgemein mit der Kulturellen Bildung verbunden? Hier gilt es, zunächst zwischen Primär- und Transfereffekten zu unterscheiden.
Einen sehr großen Raum innerhalb des Fachdiskurses der Kulturellen Bildung nehmen Transferwirkungsstudien ein, die in Zeiten einer zunehmenden Ökonomisierung von Bildung deutlich an Bedeutung gewonnen haben, hier vor allem der Versuch, die Effizienz von Bildung in einer technokratisierten Gesellschaft messbar zu gestalten. Transferwirkungsstudien messen nicht die Wirkung auf den fachspezifischen Vermittlungserfolg, sondern die Wirkung auf fachfremde Fähigkeiten bzw. Kompetenzen, hier oft auch den Erwerb sogenannter Schlüsselkompetenzen (vgl. Bamford 2006; Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013). Eine der ersten großen Transferwirkungsstudien in Deutschland war die sogenannte Bastian-Studie (Bastian 2002), die in einer Langzeitstudie mit Grundschüler*innen untersuchte, ob zusätzliche Musikförderung auch die Intelligenz und das Erlangen von Sozialkompetenzen besonders beeinflusst. Aktuell findet sich eine Vielzahl an Wirkungsstudien zur Kulturellen Bildung, die 2013 in einer Metastudie der OECD (Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013) systematisch zusammengefasst und durchaus kritisch in ihrem Aussagegehalt betrachtet wurde. Ein grundsätzliches Problem dieser Transferwirkungsstudien liegt in ihrer Methodik, die sich in der Regel dadurch auszeichnet, dass Gruppen in ihrer Entwicklung von Fertigkeiten, wie Konzentration, Durchhaltemögen oder Intelligenz, miteinander verglichen werden. Die eine Gruppe erhält dabei einen zusätzlichen kulturellen Bildungsimpuls, den die andere Gruppe, die sogenannte Kontrollgruppe, nicht erhält. Schneidet dann die eine Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe bezogen auf die gemessene Fertigkeit im Zeitverlauf besser ab, wird von einem Transfereffekt ausgegangen. Eine solche korrelative Annahme kann jedoch streng genommen nicht als kausale Erklärung herangezogen werden. So könnte es vielmehr sein, dass der Transfereffekt nicht auf den spezifischen fachlichen Impuls zurückgeführt werden kann, sondern einfach nur auf den zusätzlich gesetzten Bildungsimpuls. Möglicherweise hätte ein zusätzlicher mathematischer Impuls bei der Bastian-Studie zu ähnlichen Ergebnissen geführt wie die Studie zum zusätzlichen musikalischen Impuls. Nicht auszuschließen ist auch, dass Impulse von außen, außerhalb des Messungsversuchs, zum Beispiel eine neue Erfahrung oder eine unternommene Reise, zu einer Verbesserung von nicht fachlichen Fertigkeiten führte, denn ein Bildungsimpuls am lebenden Subjekt kann nicht isoliert betrachtet werden.
Primärwirkungsstudien sind in der Kulturellen Bildung deutlich seltener anzutreffen als Transferwirkungsstudien (vgl. Keuchel/Reinwand-Weiss 2016). Primäreffekte sind Wirkungen bezogen auf die zu vermittelnden Fachdisziplininhalte, die sich innerhalb der künstlerischen Einzeldisziplinen wie Musik, Theater oder Kunst teils sehr deutlich voneinander unterscheiden können. In formalen Kontexten werden zu vermittelnde Fachdisziplininhalte in den Curricula beschrieben, wie das Analysieren von Musikstücken, das Beherrschen der dreidimensionalen Zeichnung etc. In Forschungen zu Primäreffekten geht es vor allem darum, didaktische Methoden und Grundlagen auf ihre Wirkung zur Vermittlung von diesen fachspezifischen Inhalten hin zu untersuchen. Daneben hat speziell die non-formale Kulturelle Bildung auch spartenübergreifende Grundprinzipien der Vermittlung entwickelt, wie Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbildung oder auch einen emanzipatorischen Ansatz (vgl. Braun/Schorn 2012). Auch diese Aspekte wurden vereinzelt in Wirkungsstudien untersucht (vgl. Lindner 2003). Es gibt dabei einen spartenübergreifenden Primäreffekt, dem sich alle künstlerischen Einzeldisziplinen verpflichtet sehen: Die Förderung von kultureller Teilhabe, die laut Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) ein Menschenrecht ist (vgl. UN-Vollversammlung 1948).
So heißt es in einem Positionspapier der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) über „Kulturelle Bildung“: „Indem sie bei den Stärken jedes einzelnen Menschen ansetzt, eröffnet sie allen die Chance zur Teilhabe an Kultur und Bildung und damit zu gesellschaftlicher Teilhabe.“ (Witt 2012: 131) Auch Karl Ermert hebt bezogen auf Kulturelle Bildung deren „Fähigkeit zur erfolgreichen Teilhabe an kulturbezogener Kommunikation mit positiven Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe insgesamt“ (Ermert 2009) hervor.
Zu Wirkungen formaler und non-formaler Kultureller Bildung auf kulturelle Teilhabe
Es wurde im vorherigen Kapitel darauf verwiesen, dass kulturelle Teilhabe ein Wirkungsziel ist, dem sich Kulturelle Bildung allgemein verpflichtet fühlt. Interessant wird es daher, die Wirkungseffekte der formalen und der non-formalen Kulturellen Bildung bezüglich kultureller Teilhabe zu vergleichen. Dabei stellt sich jedoch eine große Herausforderung in einer messbaren Eingrenzung von kultureller Teilhabe. Umfasst diese ausschließlich den Besuch kultureller Angebote wie Theater, Museen oder Konzerte? Oder bezieht diese, wie Ermert es umschreibt, nicht nur die künstlerische Produktion, sondern auch das Beherrschen kultureller Symbole und Techniken einer Gesellschaft mit ein? Die Spannbreite der Definitionsversuche von kultureller Teilhabe ist sehr facettenreich und reicht von einer starken Fokussierung auf die aktive und passive Auseinandersetzung mit den Künsten bis hin zu Fragen nach kulturellen Identitäten und Werten. Für Adolfo Morrone bezieht beispielsweise kulturelle Teilhabe neben dem Besuch von kulturellen Angeboten auch individuelle mediale Aktivitäten – wie Fernsehrezeption, Lesen oder die Nutzung von Internet sowie kulturelle Identitätsbildung, Amateur-Praktiken, die Mitgliedschaft in kulturellen Vereinigungen –, aber auch ethnische Kultur, Gemeinschaftspraktiken oder Jugendkultur ein (vgl. Morrone 2006).
Um unterschiedliche Wirkungen der formalen und non-formalen Kulturellen Bildung untersuchen zu können, wird sich im Folgenden auf einen spezifischen messbaren Bereich der kulturellen Teilhabe konzentriert, hier der aktive Besuch von außerhäuslichen, kulturellen Angeboten und/oder aktive künstlerisch-kreative Freizeitbeschäftigungen wie das Spielen eines Instruments, Malen oder das Theaterspielen. Breitere Perspektiven werden ausgeblendet. Als Datengrundlage wird hierzu auf die Reihe des Jugend-KulturBarometers (Keuchel/Wiesand 2006) zurückgegriffen, innerhalb derer 2004 erstmals systematisch der ungleiche Zugang auf Kulturelle Bildung bezogen auf den Bildungshintergrund der Eltern beobachtet wurde. Seit der ersten Messung 2004 entstand eine Vielzahl an kulturellen Bildungsprogrammen und Initiativen, wie „Kinder zum Olymp“ (siehe www.kulturstiftung.de/kinder-zum-olymp) oder „MIXED UP“ (siehe www.mixed-up-wettbewerb.de), die kulturelle Bildungskooperationen innerhalb aller Schulformen förderten. Diese vielfältigen Aktivitäten im Feld kultureller Bildungskooperationen waren 2011 ein Grund für die Durchführung eines 2. Jugend-KulturBarometers (Keuchel/Larue 2012), um zu untersuchen, ob diese Maßnahmen einen messbaren Einfluss auf die kulturelle Teilhabe junger Menschen hatten. Innerhalb der zweiten Befragung, die sich an 14- bis 24-Jährige richtete, konnten in verschiedenen Kontexten tatsächlich mehr Berührungsaspekte im Bereich Kunst und Kultur beobachtet werden, vor allem bei jungen Leuten mit niedrigem Schulbildungshintergrund. So konnte beispielsweise der 2004 gemessene Anteil von 15 Prozent Hauptschüler*innen bzw. Hauptschulabsolvent*innen, die bisher mindestens einmal mit der weiterführenden Schule ein Museum, Theater oder Konzert besuchten, mit 27 Prozent nahezu verdoppelt werden (vgl. ebd.: 70) – wenngleich damit immer noch keine Chancengleichheit hergestellt wurde. Irritierend in diesem Zusammenhang war jedoch die Beobachtung, dass trotz der Zunahme der Berührungspunkte junger Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Bildungshintergrund mit Kunst und Kultur das Interesse an außerhäuslichen kulturellen Angeboten – und das unter dem Blickwinkel eines breiten Kulturbegriffs – in dieser Gruppe sogar noch deutlicher abgenommen hatte.
Dies warf eine kritische Frage auf: Trägt Kulturelle Bildung doch nicht zu mehr aktiver kultureller Teilhabe bei? Oder gibt es hier möglicherweise Wirkungsunterschiede zwischen formaler, non-formaler und informeller Kultureller Bildung?
Um dies untersuchen zu können, wurden die bisherigen kulturellen Bildungsimpulsgeber zu kulturellen Besuchen und/oder künstlerischen Aktivitäten innerhalb des Bildungsverlaufs in drei Gruppen unterteilt: formale, non-formale und informelle kulturelle Bildungsimpulse. Wird hier der Zusammenhang betrachtet zwischen dem Interesse am Kulturgeschehen und den bisherigen kulturellen Bildungsimpulsen aus dem formalen, non-formalen und informellen Bereich, kann festgestellt werden, dass junge Leute, die non-formale und informelle bzw. formale, non-formale und informelle Impulse oder auch nur non-formale kulturelle Bildungsimpulse erhielten, sich besonders stark für das außerhäusliche Kulturgeschehen interessieren.
Umgekehrt ist das Kulturinteresse junger Leute, die nur formale kulturelle Bildungsimpulse erhielten, deutlich geringer. Mit dieser Beobachtung können natürlich ebenfalls nur korrelative und keine kausalen Zusammenhänge festgehalten werden. Die Ergebnisse legen jedoch nahe, dass möglicherweise formale, non-formale und informelle Kulturelle Bildung unterschiedliche Wirkungen erzielen, zumindest im Kontext der kulturellen Teilhabe. Hypothetisch könnte beispielsweise angenommen werden, dass formale Kulturelle Bildung aufgrund der festgelegten Curricula wenig Spielraum für Interessenbildung bietet, aber natürlich wichtig für eine flächendeckende Vermittlung von Grundlagenkenntnissen zur Kulturellen Bildung ist. Der non-formale Bereich hingegen, der auf Prinzipien der Freiwilligkeit, Selbstbildung und Partizipation beruht, mit einem Blick auf die subjektiven Bedarfe, ist möglicherweise besonders prädestiniert für eine positive Interessenbildung. Der informelle Bereich, der offensichtlich auch einen positiven Einfluss auf kulturelle Teilhabe hat, ist möglicherweise für eine Relevanz der erworbenen kulturellen Erfahrungen und/oder Fertigkeiten für das soziale Umfeld wichtig.
Zu den Grundprinzipien und Bildungszielen der non-formalen Kulturellen Bildung im Vergleich zu anderen non-formalen Bildungsbereichen
Bei der eben skizzierten Annahme, dass non-formale Kulturelle Bildung die Interessenbildung bezogen auf Kunst und Kultur positiv beeinflusst, stellt sich die berechtigte Frage: Ist dies ein spezifischer Wirkungseffekt der non-formalen Kulturellen Bildung oder ist dies nicht vielmehr ein grundsätzliches Phänomen non-formaler Bildung, die die Interessenbildung fördert, aufgrund ihrer spezifischen Rahmenbedingungen wie der Freiwilligkeit und partizipativer Ansätze? Werden in diesem Sinne Grundprinzipien der non-formalen Kulturellen Bildung in den Blick genommen, finden sich hier Prinzipien, die auch für andere non-formale Bildungsbereiche gelten, wie eben genannte, aber auch spezifische Prinzipien der Kulturellen Bildung, wie Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbildung, Subjektorientiertheit, Stärkenorientierung, Perspektivwechsel, emanzipatorischer Ansatz, Lebensweltorientiertheit, kulturelle Vielfalt oder Inklusion (vgl. Braun/Schorn 2012).
Um spezifische Wirkungseffekte der Kulturellen Bildung im Vergleich zu anderen Bildungsbereichen herausarbeiten zu können, die sich auch in weiten Teilen innerhalb non-formaler Lernkontexte bewegen, werden im Folgenden Grundprinzipien und Bildungsziele der non-formalen Kulturellen Bildung exemplarisch mit denen der politischen Bildung und der BNE verglichen.
Eine zentrale Wirkungsweise der Kulturellen Bildung ist der subjektorientierte und subjektstärkende Ansatz. Es geht hier um die Stärkung individueller Haltungen und Positionierungen, letztlich um die Frage der eigenen Identitätsbildung. Um neue, eigene Standpunkte zu entdecken, lädt das Medium der „Künste“ zum Perspektivwechsel ein, Alltägliches wird in einen neuen künstlerischen Kontext gesetzt und damit Bestehendes in seiner bisherigen Deutung hinterfragt. Innerhalb der „Künste“ ist zugleich der Regelbruch fest verankert und damit die Erkenntnis, es gibt keine „richtige“ oder „falsche“ Kunst bzw. Lösungen. Eine solche Offenheit in der Gestaltung fördert zugleich den stärkenorientierten Ansatz innerhalb der Kulturellen Bildung, da es in diesem Sinne keine „Fehler“ gibt.
Die politische Bildung nimmt weniger die Belange des*r Einzelnen bzw. des Subjekts in den Fokus als vielmehr gesellschaftspolitisch relevante Fragestellungen bzw. Interessen, hier die Demokratiebildung. So heißt es in einer Handreichung zur politischen Bildung: „Die Aufgabe der politischen Bildung besteht zum einen darin, die Grundlagen der demokratischen Gesellschaftsordnung zu bereiten, sie zu fördern und nachhaltig zu gewährleisten.“ (Kalina 2014: 18) Das heißt, es gibt ein klares Bildungsziel: das einer demokratischen Gesellschaft. Zugleich will politische Bildung aber auch politische Teilhabe fördern und hier „die Toleranz-, Kritik-, aber auch Konfliktfähigkeit der Bürger – und damit die Pluralität der Gesellschaft“ (ebd.). Es geht also immer auch um das Aushandeln von Regeln und Interessen Einzelner, hier aber zum Wohl und zur Weiterentwicklung einer Gemeinschaft.
In der BNE geht es darum, „Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln“ (Nationale Plattform für BNE 2017: 7) zu befähigen, sodass diese „die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt“ (ebd.: 8) verstehen lernen. Es geht also letztlich vor allem um moralisches Handeln (vgl. de Haan 2009: 21), mit einem sehr konkreten Bildungsziel: nachhaltig zu denken und zu gestalten, im Sinne der Nachhaltigkeitsagenda 2030 (vgl. UNESCO-Kommission 2017). Das heißt, auch hier stehen das Wohl und die Weiterentwicklung der Gesellschaft im Fokus und nicht die Stärkung des Subjekts. Der*Die Einzelne soll lernen, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Das Medium hierzu ist interdisziplinäres (vgl. de Haan 2009: 21) und vor allem globales Wissen (vgl. ebd. 2002: 15). Und auch hier wird eine kritische Reflexionsebene eingefordert, nämlich die Auswirkungen des eigenen Handels kritisch auf Dritte zu reflektieren.
Es zeigen sich also in den hier grob skizzierten Bildungszielen und Prinzipien der BNE und der politischen Bildung im Vergleich zur Kulturellen Bildung vor allem zwei zentrale Unterschiede: Steht in der Kulturellen Bildung die Weiterentwicklung des Subjekts im Fokus, sind bei den anderen beiden Bildungsbereichen gesamtgesellschaftliche Ziele entscheidend. Mit dem Auftrag der Demokratiebildung bzw. der Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda 2030 sind zudem klar zu vermittelnde Bildungsziele gesetzt. Die Kulturelle Bildung hingegen steht vor allem für Selbstbildungs- und offene Prozesse mit der Referenz auf die Künste als Medium, wo es keine gesetzten „richtigen“ bzw. „falschen“ Wege bzw. Lösungen gibt. Dies ist sicherlich ein Grund, warum in der Kulturellen Bildung tendenziell sogar Berührungsängste bestehen, mit BNE oder der politischen Bildung zu kooperieren, hier vor allem aus der Angst heraus, für konkrete Bildungsziele funktionalisiert (vgl. bpb 2009) zu werden und damit die eigene Prozesshaftigkeit zu verlieren. Damit steht Kulturelle Bildung in einem produktiven Spannungsverhältnis zu den anderen beiden non-formalen Bildungsbereichen. Die Chancen der Kulturellen Bildung in ihren spezifischen Grundprinzipien für andere non-formale Bildungsbereiche wie BNE oder politische Bildung liegen dabei vor allem in folgenden Potenzialen:
- Selbstbildungsprozesse anzustoßen, aus denen „nachhaltigere“ subjektspezifischere Haltungen resultieren als durch das Setzen normativer Vorgaben zur Demokratie oder Nachhaltigkeit.
- Stärkenorientierte Gestaltungsräume zu offerieren, die positive und nicht negative Narrative (Ressourcenverzicht) für Handlungsorientierungen ermöglichen und
- Perspektivwechsel anzuregen, die die Chance zur Entwicklung alternativer Lösungswege bieten.
Fazit – kulturelle Bildungskooperationen: Quo vadis?
Spezifische Wirkungskontexte der non-formalen Kulturellen Bildung liegen nach der vorausgehenden Betrachtung vor allem in der Chance, die Interessenbildung für Kunst und Kultur, also letztlich die kulturelle Teilhabe, positiv zu beeinflussen, Perspektivwechsel anzuregen sowie in der subjektspezifischen Stärkung, aus der eigene „nachhaltige“ Haltungen und Selbstbildungsprozesse resultieren. Der positive Einfluss auf Interessenbildung steht in Zusammenhang mit den Grundprinzipien non-formaler Kultureller Bildung, hier vor allem der Freiwilligkeit, der Subjektorientiertheit, der Stärkenorientierung und der Prozessorientierung, die zugleich auch wichtige Grundlagen für die Entwicklung eigener Haltungen und Selbstbildungsprozesse bilden. Das heißt, den Einzelnen wird ein individueller Raum zur Gestaltung gegeben, innerhalb dessen sich prozessorientierte Selbstbildungsprozesse entfalten können. Diese Praxis steht in einem deutlichen Widerspruch zu werkorientierten Zielvorgaben formaler Bildung, die den klaren Auftrag hat, die im Curriculum festgehaltenen Bildungsziele zu vermitteln. Es bedarf jedoch prozessorientierter Freiräume für die Entwicklung eigener Interessen und Haltungen. Innerhalb formaler Strukturen, die eine wesentlich stärkere Planung, Strukturierung und Festlegung von Bildungsabläufen verfolgen müssen, sind solche Freiräume – das zeigt die bisherige Praxis kultureller Bildungskooperationen – kaum zu realisieren. Zur Integration non-formaler kultureller Bildungsangebote in formale Strukturen bedarf es beispielsweise der Festlegung konkreter Zeitfenster und der Präsenzpflicht spezifischer Gruppen, die sich zudem oft – aufgrund des wesentlich höheren Personenaufkommens an Schulen als in der offenen Jugendarbeit – aus wesentlich größeren Teilnehmerzahlen zusammensetzen. Da sich das Gros kultureller Bildungskooperationen im Ganztag bisher immer noch weitgehend über Projektförderung finanziert (vgl. Keuchel 2013), ergibt sich für die non-formale kulturelle Bildungspraxis zudem oftmals die Notwendigkeit, im Rahmen von Projektanträgen, konkrete Bildungsziele für den Ganztag zu benennen, die jedoch mit einem prozessorientierten Vorgehen schwierig in Einklang zu bringen sind.
Das Ringen um den Erhalt der spezifischen Wirkungseffekte non-formaler Kultureller Bildung innerhalb kultureller Bildungskooperationen im Ganztag findet bis heute immer unter der Prämisse statt, dass non-formale Angebote in formale Strukturen des Ganztags integriert werden sollen. Möglicherweise muss diese Prämisse, der Erhalt der bestehenden Systemstrukturen, grundsätzlich infrage gestellt werden, um erfolgreiche kulturelle Bildungskooperationen im Ganztag zu ermöglichen. Das Heraustreten aus einem bestehenden System kann oftmals bei der Entwicklung neuer Lösungswege hilfreich sein und der Perspektivwechsel ist eine Stärke der Kulturellen Bildung. Wie wäre es beispielsweise, wenn nicht das eine System in das andere integriert wird, sondern Bildungsaufgaben in Teilen formal und in Teilen non-formal strukturiert, gesteuert und verantwortet werden? Müssten Koproduktionen des Ganztags auf Augenhöhe nicht noch einmal neu gedacht werden?