Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit als Merkmale von Spiel in interaktiven Performances des Performancekollektivs Turbo Pascal
Abstract
Der Artikel greift den Begriff der „Unberechenbarkeit“ als Merkmal von Spiel auf und überträgt ihn auf Konzeption, Proben und Aufführungen der interaktiven Performancearbeiten des Kollektivs Turbo Pascal, die im Zwischenbereich von Theaterperformance, Kultureller und Politischer Bildung angelegt sind. Anhand der Arbeiten „Unterscheidet euch!“ für junges Publikum und „Vertrauensfragen“ für erwachsenes Publikum wird das Spannungsverhältnis von Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit in der Entwicklung von interaktiven Theatersettings, aber auch im Bezug auf mögliche Bildungsprozesse bei der Rezeption dieser Arbeiten beschrieben. Daran schließen sich Überlegungen zu ambivalenten Erscheinungsformen von Spiel im Kontext Sozialer Medien und digitaler Gamifizierung, mit ihren Potentialen der Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens, an.
Wiederaufnahme: Fachtexte zum Spiel neu entdeckt und befragt
Dieser Beitrag entstand vor dem Hintergrund des gemeinsam von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Spiel & Theater und dem Profilstudiengang Theater als Soziale Kunst an der FH Dortmund initiierten Projektes Theater – Auf(s) Spiel setzen. 12 Autor*innen wurden gewonnen, die Diskursfäden des 1998 von Hans-Wolfgang Nickel und Christian Schneegass herausgegebenen Sammelbandes zur Spieltheorie wiederaufzunehmen und mit Resonanz auf die in den 90er Jahren entwickelten Fachpositionen und mit aktuellem Bezug auf den heutigen Fachdiskurs die Begrifflichkeiten und Besonderheiten von Spiel/en im Zusammenhang einer gegenwärtigen und zukünftigen Theaterpädagogik zu reflektieren. Der beim Symposium: Theater – Auf(s) Spiel setzen (1995) vorgetragene und in dem Sammelband veröffentlichte Beitrag „Was ist Spiel?“ von Silvia Gregarek und Bärbel Homann steht als Download auf kubi-online zur Verfügung.
Neben dem Autor dieses Artikels gehören Felix Büchner, Isabel Dorn, Stefanie Husel, Norma Köhler, Martina Leeker, Dietmar Sachser, Mira Sack, Hanne Seitz, André Studt, Sören Traulsen und Michael Zimmermann zu den Autor*innen, die in den kommenden Wochen auf kubi-online zu einer aktuellen Auseinandersetzung und Neupositionierung beitragen. Sie werden in ihren Fachbeiträgen ausloten, welche begrifflichen und anwendungsbezogenen Verschiebungen über die Jahrzehnte zu beobachten sind und welche Potenziale und Entfaltungsmöglichkeiten dem Spiel innewohnen.
„Was ist Spiel?“ fragen Silvia Gregarek und Bärbel Homann in ihrem Text für die Dokumentationsschrift „Symposion Spieltheorie“. Das Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Berliner Hochschule der Künste hatte 1996 zu einem „mehrtägigen Dialog […] zwischen den Disziplinen Kunst, Theater, Pädagogik, Wirtschaft, Mathematik, Naturwissenschaften“ geladen und in der Reihe „Materialhefte“ der Landesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater e.V. wurden ausgewählte Beiträge der Tagung 1998 publiziert (Nickel 1998:7). Die Vieldeutigkeit des Begriffs ‚Spiel‘ in der deutschen Sprache, der beispielsweise die Unterscheidung in play und game, die das Englische vornimmt, fehlt, die aber den Begriff auch zur Beschreibung aller möglichen Naturphänomene verwendet („Wind spielt in den Blättern“), steht am Anfang der Überlegungen beider Autorinnen. Diese Pluralität der Bedeutungen wird noch sichtbarer, wenn der Text sich im Folgenden sowohl mit naturwissenschaftlichen, als auch mit gesellschaftswissenschaftlichen Spieltheorien beschäftigt: die sogenannte „Chaostheorie“ wird als „umfassendste […] Spieltheorie“ aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich eingeführt und steht zahlreichen historischen und zeitgenössischen Erklärungs- und Definitionsansätzen aus Philosophie, Psychologie, Soziologie und Pädagogik gegenüber (Gregarek/Homann 1998:255). Der Text spannt am Ende den Bogen zurück zur Chaostheorie, „die das Spielerische als zentrales Element des Werdens bezeichnet“, und versucht eine Synthese dieser umfassenden Aussage mit den Überlegungen Johan Huizingas, der vielfältige kulturelle Phänomene auf den menschlichen Spieltrieb zurückführt: „Kultur entsteht durch spielerische Elemente und entwickelt sich in Form von Spiel" (Gregarek/Homann 1998:259).
In den Ausführungen zur Chaostheorie zitieren die Autorinnen den Physiker, Philosophen und Biologen Bernd-Olaf Küppers: „Das Geheimnis der Vielfalt liegt in einer als ‚Nichtlinearität‘ bezeichneten Eigenschaft komplexer Systeme verborgen. […] Es führt mathematisch gesehen in endlicher Zeit zu unendlichen Zustandsgrößen … Chaos ist also hier im Grunde genommen nur ein anderes Wort für das Unberechenbare“ (Gregarek/Homann 1998:255). „Das Unberechenbare“ - dieses Motiv des Textes möchte ich aufgreifen und im Folgenden in Bezug zu meiner eigenen künstlerischen und theaterpädagogischen Arbeit diskutieren.
Das Publikum als unberechenbare Größe
Als Mitglied des Performance-Kollektivs Turbo Pascal bin ich regelmäßig an der Entwicklung interaktiver Theaterprojekte mit Spielelementen beteiligt. Wir bezeichnen diese Arbeiten, von einem Ausnahmefall abgesehen, nicht dezidiert als Spiele; zentrale Spiel-Kennzeichen weisen unsere Aufführungen jedoch häufig auf: alle Beteiligten, also auch die Zuschauer*innen, übernehmen in gewisser Weise Rollen und können nach bestimmten Regeln miteinander interagieren, sie werden so zu Mitspielenden. Durch die von uns vorher festgelegten Formate und Handlungen der Interaktion bestimmen sie den Verlauf der Vorstellung mit. Dabei handelt das Publikum beispielweise durch Positionierung zu Aussagen, durch das Einspeisen eigener Aussagen, durch Kommunikation oder kommunikative Handlungen mit anderen Mitspieler*innen, durch das Einnehmen bestimmter Körperhaltungen oder das Ausführen von Bewegungsabläufen.
Einiges deutet darauf hin, dass die Interaktionen in unseren Arbeiten Spielcharakter haben. Gleichzeitig fehlen auch zentrale Elemente, die wir häufig mit Spiel in Verbindung bringen: es gibt kein definiertes Spielziel, kein klar benanntes agonales oder kooperatives Prinzip, keine Gewinn-mechaniken und damit keine Gewinner*innen oder Verlierer*innen; es gibt Regeln, aber keine Sanktionen; die Teilnehmer*innen können sich entscheiden, ob sie beispielsweise ihre eigenen Haltungen und Meinungen offenlegen oder als Figur eine Aussage treffen.
Fragen nach Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit spielen in den Konzeptions- und Probenprozessen immer eine wichtige Rolle, wenn es um die Vorhersagbarkeit von Publikumsverhalten und Publikumswahrnehmung in interaktiven Settings geht. Diese Publikumsinteraktion muss dabei immer mehreren Anforderungen gerecht werden: sie soll keine Fake-Interaktion sein, also kein reines Anspielen des Publikums, bei dem die Reaktionen des Publikums für den weiteren Verlauf irrelevant sind. Die Interaktion soll das Potential zur Eigendynamik enthalten, das bedeutet, dass von unserer Seite zwar einzelne Interaktionsmodule vorher festgelegt werden, darüber hinaus jedoch durch das Zusammenspiel der einzelnen Zuschauer*innen, in einem Prozess der Herausbildung von Emergenz, ungeplante und unberechenbare Ereignisse auftreten können.
Gleichzeitig muss auch diese Eigendynamik von uns kontrollierbar und einhegbar sein, also die Möglichkeit bieten, wieder in den Ablauf der Vorstellung zurückzukehren. Diese Interaktions- und Spielmomente entsprechen deshalb innerhalb der Gesamtvorstellung meist (aber nicht immer) bestimmten Phasen der Performance.
Nicht zuletzt muss die Interaktion für alle Anwesenden nachvollziehbar anmoderiert und mit klaren Regeln strukturiert sein. Idealerweise erfordert sie ein Ausmaß und eine Form der Teilnahme, die es allen Besucher*innen ermöglicht, mitzumachen. Sie muss also der Angst und dem Unwohlsein vieler Menschen Rechnung tragen, nicht mehr nur Zuschauer*in zu sein, sondern Teil des Geschehens zu werden, „auf der Bühne zu stehen". Unterschiedliche Ängste kommen hier zusammen: das Unwohlsein, aufgrund der Theatersituation anders und intensiver von den Anwesenden beobachtet zu werden, die Angst vor Beurteilung oder Bloßstellung und auch die Sorge in eine Falle zu tappen und als Einzelne*r oder Gruppe unbemerkt ein problematisches Verhalten an den Tag zu legen.
Im Prozess der Proben müssen Formate, inhaltliche Frames, Ansprachen, Interaktionswerkzeuge gefunden werden und in dem Versuch, das Verhalten der Besucher*innen zu antizipieren, mögliche Reaktionen, Missverständnisse, Widerstandsimpulse, Deutungsmöglichkeiten oder auch die Potentiale der Teilnehmer*innen, die Interaktion eigenständig kreativ weiterzuführen, einberechnet werden. Wir operieren in diesen Phasen des Probenprozesses durchaus mit Zahlenwerten, um beispielsweise exaktes Timing für die Durchführung von Handlungen oder Gesprächen, die Anzahl möglicher Begegnungen in einer bestimmten Gruppengröße, den Platzbedarf von sich zusammenballenden Menschengruppen oder die mögliche Frequenz einer sich widerholenden Handlung zu bestimmen. Nicht selten spielen dann Diagramme, Tabellen und Grafiken eine Rolle, um die Komplexität dieser „nicht-linearen" Interaktionen selbst zu verstehen und handhabbar zu machen. Bei allen Versuchen, den Ablauf dieser Interaktionen vorauszuberechnen, ist es aber auch immer wieder nötig, mit einem „Testpublikum" das Design des Interaktionssettings zu überprüfen und herauszufinden, an welchen Stellen unsere Berechnungen stimmig waren oder wo wir uns verrechnet hatten.
Ich möchte unsere Form der Publikumsinteraktion und das Spannungsfeld aus Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit an zwei Arbeiten von Turbo Pascal erläutern. Die eine Arbeit, „Vertrauensfragen" entstand 2018 und wurde in den Berliner Sophiensaelen, vornehmlich für ein erwachsenes Publikum, zur Aufführung gebracht. Die andere Arbeit „Unterscheidet euch!" hatte 2019 am Theater an der Parkaue Premiere und ist für ein junges Publikum im Alter von 9-13 Jahren konzipiert. In beiden Arbeiten ist das Publikum die gesamte Vorstellung über das Zentrum der Aufführung: die Besucher*innen sind füreinander immer sichtbar und werden durch die Bühnensituation, die Beleuchtung und die Moderation sichtbar gemacht. In beiden Fällen agieren die Besucher*innen sowohl individuell als auch als Gruppe, also in chorischen Formationen. Die Kommunikation und Bewegung der Zuschauer*innen bilden den Großteil der Handlung.
Vertrauensfragen
„Vertrauensfragen" setzt sich mit der Dynamik und Eigendynamik von Kommunikationsflüssen innerhalb einer Gesellschaft und der Frage nach Vertrauenswürdigkeit von Informationen und Informationsgeber*innen auseinander und ist dadurch auch eine Beschäftigung mit Dynamiken sozialer Medien. Zu Beginn der Aufführung stehen im Bühnenraum 180 Stühle, wobei jeweils ein Stuhlpaar so arrangiert ist, dass man sich versetzt nebeneinander gegenüber platzieren kann, eine Position, die ein nahes und intimes Gespräch ermöglicht. Gleichzeitig besteht ausreichend Abstand zu umliegenden Stuhlpaaren, um sich ungehört von den Nachbar*innen unterhalten zu können und sich zwischen den 90 Stuhlinseln durch den Raum bewegen zu können. Beim Einlass werden die Teilnehmer*innen gebeten, sich ein freies Stuhlpaar zu suchen, so dass sie sich zunächst neben einem leeren Stuhl befinden. Eine Off-Stimme spricht das Publikum als „Gesellschaft" an - um was für eine Gesellschaft, beispielsweise eine Abendgesellschaft, es sich handelt, bleibt dabei offen.
Nach und nach betreten die vier Performer*innen den Raum, setzen sich zu einer einzelnen Person, erzählen ihr eine kurze Geschichte und bitten sie, diese einer beliebigen anderen Person im Raum weiterzuerzählen und sicherzustellen, dass diese Person ihrerseits das Gehörte weitergibt.
Bei den Erzählungen handelt es sich um Anekdoten, Nachrichten, Kernaussagen aus wissenschaftlichen Studien oder vermeintlich selbst Erlebtes, das jeweils in wenigen Sätzen erfasst werden kann. Komisches steht hierbei neben Bedrohlichem, Unglaubwürdiges neben Banalem: mal ist von einem Restaurant die Rede, das Essen verschenkt, ein andermal von rechtsextremen ökologischen Landwirtschafts-Projekten im Berliner Umland. Als eine sich langsam entwickelnde Kettenreaktion bewegen sich nach und nach mehr Menschen durch den Raum und erzählen das Gehörte weiter, bis alle Anwesenden im Gespräch sind. Die oder der Einzelne muss entscheiden, welche der gehörten Erzählungen weitergegeben und was verschwiegen wird. Die Erzählungen verändern sich, vermischen sich, treffen in unterschiedlichen Versionen wieder aufeinander usw. Wie im Kinderspiel „Stille Post" sind schon nach wenigen Zyklen des Weitererzählens die Ausgangsgeschichten deutlich verändert. Die Eigendynamik der Situation führt auch dazu, dass Besucher*innen die Geschichten kommentieren, bewusst abändern oder eigene Geschichten in die „Gesellschaft" einspeisen.
Als ein weiteres Element, das neben der Ebene der Gespräche den Raum langsam verändert, kommt die Möglichkeit hinzu, sich mittels Masken, Sturmhauben, Sonnenbrillen und von einer undurchsichtigen Gaze umhangener Hüte zu anonymisieren oder zumindest unkenntlicher zu machen. Ein Teil der „Gesellschaft" ist nicht mehr identifizierbar, die weitergegebenen Informationen sind keiner eindeutigen Quelle mehr zuordenbar, die*der Einzelne wird durch die Verschleierung ermutigt, zur eigenmächtigen Variation der Nachrichten, zum Übertreiben oder Umdeuten.
Unberechenbar sind in dieser Performance nicht nur die Kommunikationsflüsse, sondern auch Haltung und Reaktion der Teilnehmenden zur dystopischen Gesamtsituation. So bildete sich in einer Vorstellung eine Gruppe, die die Möglichkeit der Anonymisierung und Maskierung ablehnte und versuchte, andere Besucher*innen dazu zu bringen, ihre Verkleidungen abzulegen. In einer anderen Vorstellung wurden von einigen Teilnehmer*innen neue und falsche Erzählungen in Umlauf gebracht, die mit den vorhandenen Erzählungen um Aufmerksamkeit konkurrierten.
Eine Live-Situation ist in gewisser Weise immer unberechenbar - das gilt ebenso für herkömmliche Schauspielaufführungen, in denen es auf der Bühne und unter den Zuschauenden Abweichungen von einstudierten und geprobten Abläufen und Spieldynamiken oder von erwarteten Publikumsreaktionen geben kann. Hierbei muss es sich nicht nur um Überraschungen, Unfälle, Pannen, Hänger, Protestbekundungen usw. handeln, im Gegenteil: auch das Ausbrechen aus einstudierten Spielabläufen oder Rezeptionskonventionen kann Methode haben.
Interaktive und immersive Formate erweitern jedoch, durch ihre Ermächtigung der Zuschauenden, die Qualität und Quantität des Unberechenbaren in der Aufführung erheblich. Das Unberechenbare, hier die Abweichung der Aufführungssituation von vorher geplanten, geprobten und erhofften Abläufen, wird damit zu einer zentralen Frage der Probensituation.
Die Entwicklung solcher interaktiven Arbeiten orientiert sich an einem idealen Verlauf der Interaktion, das schließt ein bestimmtes Maß an Kooperation, ein Verständnis für die eröffneten Interaktionsmöglichkeiten, eine Bereitschaft zur Übernahme einer spezifischen Rolle und Perspektive von Seiten der einzelnen Besucher*innen ein, muss aber auch Dynamiken der gesamten Zuschauenden-Gruppe einbeziehen. Bezogen auf die Performance „Vertrauensfragen" war es in der Entwicklung also ganz wesentlich, sehr detailliert zu imaginieren, wie der*die Zuschauer*in sich bewegt, angesprochen wird, welche Informationen er*sie erhält und was er*sie erlebt.
Die Antizipierung des idealen Zuschauerpfads durch die gesamte Aufführung kann und muss aber nur Ausgangslinie sein für Möglichkeiten der Abweichung, der Modifikation, des Zufalls, des Widerstands.
Gleichzeitig müssen die Freiräume der Abweichung derartig austariert sein, dass sie für die einzelne Person oder die Gesamtgruppe das Verlassen oder Beenden der Spielsituation möglichst unwahrscheinlich machen. Das soll an der folgenden beispielhaften Situation im Stück „Vertrauensfragen" verdeutlicht werden: in der ersten Phase der Performance kann ein*e Teilnehmer*in von den Performenden oder anderen Teilnehmenden eine Geschichte erzählt bekommen und gebeten werden, diese weiter zu erzählen. Die Person hat nun verschiedene Möglichkeiten mit dieser Interaktionsaufforderung umzugehen: sie kann versuchen der Beauftragung möglichst genau Folge zu leisten, sie kann sich dem Weitererzählen verweigern, sie kann das Weitererzählen mit eigenen Kommentierungen und Überlegungen ergänzen, sie kann auch eine ganz eigene Geschichte einspeisen oder aber ein Gespräch zu einem beliebigen anderen Thema beginnen. Die meisten Möglichkeiten sind innerhalb der Spiellogik, also hier einer Art Simulation der Dynamiken sozialer Medien, spielerhaltend. Einzelne Handlungsvarianten, wie z.B. die Fortsetzung eines vor dem Theaterbesuch geführten Gesprächs, unterbrechen eher die Spielteilnahme, vor allem dadurch, dass sie den inhaltlichen Bezugsrahmen, das Kursieren von Nachrichten und Botschaften innerhalb einer temporären Gesellschaft, verlassen.
Diese Handlungsoption ist grundsätzlich möglich und wird auch nicht sanktioniert. Die Dramaturgie der Informationsvergabe auf der Ebene der Inhalte und auf der Ebene der Spielregeln und Spielanweisungen muss jedoch sicherstellen, dass eine Rückkehr in das Kommunikations- und Spielsystem möglich ist. Dies wurde dadurch gewährleistet, dass die kommunikativen Kettenreaktionen immer wieder unterbrochen wurden, und in einer Art Reset neue Handlungsanweisungen und neue Inhalte oder Fragestellungen in die Gruppe eingespeist wurden.
Die Frage nach Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit stellt sich auch auf einer hermeneutischen Ebene. Natürlich ist nicht in jeder Aufführungssituation festlegbar, welche Informationen und Eindrücke einzelne Zuschauende wahrnehmen, wie sie diese deuten und in Zusammenhang bringen, welche emotionalen und intellektuellen Prozesse das Gesehene und Gehörte in ihnen auslösen. Trotzdem geht jedes dramaturgische Kompositionsverfahren und jeder Inszenierungsansatz davon aus, dass beispielsweise ein Plot oder ein Diskurs nachvollzogen, bestimmte Atmosphären oder Spannungsverhältnisse wahrgenommen, vielleicht auch ganz bestimmte Inhalte, Perspektiven, Konflikte vermittelt werden können. Mit welchem Element des Theatererlebnisses die*der Einzelne am Ende in ein Resonanzverhältnis eintritt, bleibt offen, ganz besonders auch in Kontexten Kultureller Bildung: der Handlungsverlauf, die Art der Sprachgestaltung, die Wucht optischer Eindrücke, die Identifikation mit einer Figur sein, oder manchmal auch nur das umwerfende Erlebnis mit mehreren hundert Menschen in Stille und Konzentration an einem Ort zu sein und gemeinsam dem Geschehen zu folgen.
Bei interaktiven und spielartigen Formaten sind die Berechenbarkeit und Planbarkeit der Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse komplexer: die Struktur der Informationsvergabe, die Abfolge der Erlebnisse und Begegnungen kann sich für die einzelnen Besucher*innen deutlich unterscheiden. Hinzu kommt ein sehr individuelles Ringen mit der eigenen Haltung, Handlung und Rolle in der interaktiven Spielstruktur. Auch die Fähigkeit und Bereitschaft der*des Einzelnen mitzuspielen, gleichzeitig sich selbst als Teil eines artifiziellen Systems wahrzunehmen und zu reflektieren oder auch ganz von sich selbst zu abstrahieren, ermöglicht eine breite Variation von Perspektiven. Diese Gleichzeitigkeit von Rezeption, Aktion und Reflexion ähnelt der Nutzung digitaler Medien, insbesondere auch der sozialen Medien, und unterscheidet sich deutlich von der zentralperspektivischen und linearen Wahrnehmungsstruktur herkömmlicher Theaterformate.
Die Kontrollabgabe, die Spiel-Formate in den darstellenden Künsten bedeutet, kann jedoch mit einer intensiveren Involviertheit der Teilnehmenden einhergehen. Mit den Arbeiten von Turbo Pascal haben wir insbesondere mit jungem Publikum die Erfahrung gemacht, dass die Bereitschaft zur Mitwirkung an den Interaktionen einhergeht mit einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung.
Unterscheidet euch!
Das Stück „Unterscheidet euch!" ist am Theater an der Parkaue in Berlin entstanden, wurde für Kinder und Jugendliche zwischen neun und 13 Jahren konzipiert und trägt schon im Untertitel das Wort „Spiel": „ein Gesellschaftsspiel" heißt es dort. Der Begriff ist hier nicht im Sinne eines geselligen Brettspiels gemeint, sondern die Gesellschaft, in diesem Fall die Berliner Stadtgesellschaft und die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, werden in eine spielerische Analyse verwickelt.
Ausgangspunkt der Arbeit waren eine Reihe von Workshops und Interviews mit Berliner Schüler*innen der Klassenstufen vier bis sieben. Wir trafen vier Klassen in ihren Schulen in Lichtenberg und Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain, und wollten von den Schüler*innen erfahren, welche Unterscheidungskategorien zwischen Menschen in ihrem (Schul-) Alltag eine Rolle spielen, wie sie Unterschiede zwischen Gruppen und Individuen benennen und wie sie sich selbst bezeichnen bzw. welchen Gruppen sie sich zuordnen.
„Die Coolen“, „die Verrückten“, „die Streber“, „die Grundschüler“, „die Wessis“ - viele der genannten Kategorien und Bezeichnungen fanden später Eingang in das Stück, das zunächst ganz unterschiedliche Unterscheidungskategorien, wie Alter, Kleidung oder Hobbys, behandelt und sich nach und nach immer stärker mit Fragen nach Armut und Reichtum und damit nach Chancen und Ausschlüssen im Leben der Heranwachsenden beschäftigt.
Die jungen Besucher*innen stehen auch in dieser Arbeit selbst im Zentrum der Aufführung. Wenn sie den Aufführungsraum betreten, gibt es nicht - wie vielleicht gewohnt - Sitzreihen gegenüber einer Spielfläche, sondern die Sitzmöglichkeiten sind auf unterschiedlich hohen Podesten in kleinen Gruppen über den ganzen Raum verteilt. Flächen mit wechselnden Bodenbelägen wie Kunstrasen, Sisal- und Flokatiteppich, Zebrastreifen und Metallböden erinnern entfernt an unterschiedliche städtische Bereiche: Grünflächen, Fabriken, Wohnräume, Verkehrswege. Die Schüler*innen müssen zunächst entscheiden, wo sie in diesem Raum Platz nehmen: eher versteckt am Rand, direkt am skizzierten Pool, nahe an einem großen roten Boxsack oder ganz zentral in der Raummitte - gut sichtbar für alle anderen.
Mit Stückbeginn treten die Performer*innen aus einer Nebelschwade heraus in Erscheinung, blicken von einem turmartigen Gerüst auf die Besucher*innen und berichten einander ihre Beobachtungen: „Es sind ziemlich viele.", „Die sehen harmlos aus", „Die scheinen nach Altersgruppen geordnet". Wie ein Expeditionstrupp Außerirdischer durchwandern sie den Raum, benennen, welche Unterschiede sie sehen und spekulieren auch gleich, was diese Unterschiede bedeuten könnten: Welche Statusgruppen sind anwesend? Wer sind hier die Herrschenden, wer die Untertanen? Mit Hilfe tragbarer LED-Tafeln werden Einzelne oder Gruppen probehalber mit Labels und Begriffen versehen: „Gymnasium", „Klassenclown", „typisch Mädchen", „Ossis", „Neudeutsche".
Fühlen sich die Kinder durch dieses Spiel mit Zuschreibungen schon von selbst aufgefordert ins Spiel miteinzusteigen - aus Verlegenheit zu lachen, sich zu distanzieren, Stolz auf eine Zuschreibung zu zeigen, versuchen, ein Schild umzulenken -, so werden sie im nächsten Schritt explizit gebeten, sich zuzuordnen, indem sie sich um Schilder herumgruppieren, die ihnen entsprechen: sie ballen sich zur Gruppe der „Fußballfans" und „Pferdefans", der „Rapper" und der „Zocker", derjenigen, die ein Musikinstrument lernen dürfen oder müssen, oder derjenigen, die schon mal zum Demonstrieren auf die Straße gegangen sind.
An einem Punkt der Performance findet für die Kinder ein Rollenwechsel statt: sie ziehen Lose mit knappen Informationen über Wohn-, Vermögens- und Konsumverhältnisse („Du lebst mit deinen Eltern und zwei Geschwistern in einem Haus mit Garten“, „Du hast keine Ersparnisse für Notfälle“, „Du kaufst regelmäßig im Bioladen ein“, „Du lebst in einer Villa mit Pool“, „Du hast eine Jahreskarte für’s Schwimmbad“, „Du kaufst im Supermarkt vor allem das, was im Sonderangebot ist“) und sind anschließend aufgefordert, sich mit diesem Los einer von drei Gruppen zuzuordnen: den Armen, der Mitte oder den Reichen. In dieser neuen Rolle werden sie im Folgenden auch angesprochen, diskutieren mit anderen Mitgliedern ihrer temporären, sozialen Peergroup über Gründe für soziale Ungleichheit und werden Ziel agitatorischer Ansprachen.
Auch bei „Unterscheidet euch!“ stellten sich im Konzeptions- und Probeprozess Fragen nach Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit der interaktiven Situation. Die Kontrollabgabe betrifft zunächst aufmerksamkeitsökonomische Aspekte: durch die ständige Bewegung der Kinder und Performenden im Raum ist der Wahrnehmungsfokus der Einzelnen nur sehr eingeschränkt kontrollierbar und die Grundsituation ist derartig angelegt, dass Kommunikation unter den Kindern immer möglich und erwünscht ist, was zu einem durchgehend erhöhten Geräusch-, manchmal auch Lärmpegel führt. Die Spielelemente in „Unterscheidet euch!“ schaffen aber auch eine gespannte Aufmerksamkeit und ziehen die Kinder in die Performance hinein. Wie wir aus Nachgesprächen wissen, führen sie auch dazu, dass vorherige Erwartungen an die Konventionen eines Theaterbesuchs positiv gebrochen werden.
Die Kinder entscheiden selbständig, ob und in welchem Maße sie interagieren: ob und welchen Gruppen sie sich zuordnen oder ob sie bewusst falsch antworten. Auch wenn die Kinder nicht konkret zu ihrer eigenen sozioökonomischen Lage befragt werden, so gibt es doch auch Fragen zu Hobbys, Interessen, Wünschen oder familiärem Hintergrund, die durchaus auf sozioökonomische Situation und habituelle Klassenzugehörigkeit verweisen. Ebenso sind die Gespräche der Kinder untereinander, die sich ihre eigenen Gedanken und Meinungen zu Gründen für Armut und Reichtum mitteilen sollen, nicht durch die Performer*innen kontrollierbar.
Auch hier lag und liegt in jeder Aufführung Unberechenbares: was löst die Thematisierung von Ungleichheit bei den Kindern aus? Was bedeutet das Verhandeln dieser Themen beispielsweise für Kinder mit eigener Armutserfahrung oder auch für Kinder, die mit ihrer eigenen Privilegiertheit konfrontiert sind? Im Sinne einer maximalen Sicherheit der Teilnehmenden, beispielsweise vor retraumatisierenden Äußerungen, wäre einerseits eine Behandlung der Thematik Ungleichheit und andererseits eine Verhandlung des Themas in einem spielerischen Setting mit vielfältigen unberechenbaren und unkontrollierbaren Situationen nicht angezeigt. Und in der Tat wurde das Stück bei einem Publikumsgespräch im Rahmen einer Festivaleinladung von Seiten der Gesprächsmoderator*innen ausschließlich auf Potentiale von Diskriminierung, Retraumatisierung und Machtasymmetrien abgeklopft.
Die Entscheidung, „Unterscheidet euch!“ sowohl thematisch, als auch in der beschriebenen Form umzusetzen, ist auch eine Entscheidung für das Vertrauen in die Fähigkeit der Kinder, im spielerischen Setting von der eigenen Lebenssituation abstrahieren zu können und vielleicht auch in ihrem Alter mit einem „soziologischen Blick“ sowohl auf die konkrete, anwesende Spielgesellschaft, als auch auf die dahinterliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse blicken zu können. Der Zugang im Format des Spiels macht eine Auseinandersetzung mit der Thematik möglich und bewältigbar und ermöglicht einen Perspektivwechsel.
Spielsettings in der Kulturellen Bildung
In diesem Perspektivwechsel, den das Spiel ermöglicht, besteht ein besonderes Potential für Spiel- und Gamingformate in der Theaterpädagogik und in Politischer und Kultureller Bildung. „Differenzerfahrung“, „Selbstdistanz“ und „Selbstreflexion“ als zentrale Ereignisse von Bildungsprozessen und ästhetischen Erfahrungen, wie sie beispielweise Ulrike Hentschel für das Theaterspielen in theaterpädagogischen Kontexten beschreibt, sind ebenso für das mitspielende Publikum in interaktiven Spielsettings möglich (Hentschel 2012:66f). Hentschel weist an gleicher Stelle darauf hin, dass diese Erfahrungen voraussetzen, „dass die theatrale Wirklichkeit als eine eigenständige, gerahmte Wirklichkeit verstanden wird“ – ebenso verhält es sich mit ästhetisierten Spielsettings, mit ihren Spielregeln, Spieler*innen-Rollen, räumlichen Rahmungen und Abgrenzungen von der Alltagsrealität. Diese „Abgeschlossenheit und Begrenztheit“, räumlich, temporär und durch die Etablierung einer eigenständigen „Ordnung“ nennt Johan Huizinga als eines der zentralen Kennzeichen jedweden Spiels (Huizinga, 1956:17).
Hentschel betont, dass „[…] sich allerdings weder normative, inhaltliche Bestimmungen von Zielen ästhetischer Bildung ableiten [lassen], noch lässt sich die notwendig vorausgehende ästhetische Erfahrung zuverlässig didaktisch und methodisch ansteuern“. Offensichtlich liegt den Bemühungen um ästhetische Bildung auch eine Unberechenbarkeit zugrunde, die an anderer Stelle als ein grundsätzliches „Technologiedefizit der Pädagogik“ beschrieben wird (Sting 2005:137). Auch spielartige Performances können immer nur Bildungsmöglichkeiten eröffnen.
Interaktive Projekte als work-in-progress
Der Blick auf die beiden Beispiele von spielartigen Interaktionssettings soll deutlich machen, welche Fragen, Herausforderungen und Möglichkeiten sich mit der Einbindung von Interaktionsmöglichkeiten in Theaterperformances stellen und bieten. Der Versuch der Vorausberechnung von Publikumsverhalten und Publikumswahrnehmung muss hierbei immer wieder einhergehen mit der Akzeptanz der grundsätzlichen Unberechenbarkeit individuellen und kollektiven Verhaltens. Im Gegensatz zu einer Theaterarbeit, die prinzipiell von der Regieposition aus im Probenprozess weitgehend fertig gestellt und auch ohne weitere Zuschauende betrachtet werden kann, sind die Premieren interaktiver Projekte meistens die ersten vollständigen Realisierungen der konzipierten Vorgänge. Unweigerlich wird die Premiere damit auch zu einem Abgleich von Idee und Realität und zwingt häufig zu weiteren Modifikationen. Interaktive Arbeiten sind damit immer work-in-progress-Arbeiten, noch dazu, wenn wesentliche Variablen, beispielsweise die Altersstruktur der Besucher*innen, sich von Vorstellung zu Vorstellung ändern und dadurch immer neue Eigendynamiken entstehen.
Ambivalente Potentiale des Spiels
Im zweiten Teil des zu Anfang genannten Textes „Was ist Spiel?“ blicken die Autorinnen auf philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Spieltheorien und versammeln zwölf Positionen, von Aristoteles bis zu Theorien der frühen 1990er-Jahre. Zwei Dinge fallen an diesem Überblick auf: der durchweg positive Blick auf das Phänomen Spiel, das als Akt der „Reinigung", als Zeichen eines „Kraftüberschuß[es]", „lebensnotwendige Aktivität" und als „ernsthafte Dimension der Humanität" gedeutet wird, dem „Momente der Freiheit", „heilende Kräfte" und „positive Emotionen" zugesprochen werden (Gregarek/Homann 1998:256f). Wenn in Zusammenhang mit Jean Chateaus Überlegungen zum Spiel das Wort „Zerstreuung" fällt, ist das schon das Höchstmaß an kritischer Perspektive auf Spiel. Hier wird natürlich deutlich, dass die Zitierten anschreiben gegen religiöse, politische, ökonomische Positionen, die im Spiel Nutzlosigkeit, Zeitverschwendung oder Sünde witterten. Gleichzeitig operiert diese Rehabilitierung und Nobilitierung des Spielens häufig mit einer Nützlichkeitslogik: Gelerntes soll angewendet werden, „Disziplin entwickelt" oder „Realität bewältigt" werden. Das Verwertungspotential des Spielens und die Stimulation von Kraft-, Aufmerksamkeits- und Begeisterungsressourcen durch das Spiel werden hier angesprochen.Aus einer heutigen Perspektive verbindet sich der Spiel-Begriff eben auch mit ambivalenteren Phänomenen wie Gamifizierung oder ökonomischen Spieltheorien. Mit den Begriffen Gamifizierung oder Gamification wird die Durchsetzung von Arbeits-, Bildungs-, Konsum- oder Trainingsprozessen mit Spielelementen zum Zwecke einer Steigerung von Motivation, Identifikation und Leistung bezeichnet. Der digitale Wandel weitet die Möglichkeiten zur Gamification aller Lebensbereiche in zuvor nie gekannter Weise aus: Sprachlern-Apps mit Punktesystemen und Ranglisten, To-Do-Listen-Programme oder Fitness-Software mit Spielelementen zur Leistungssteigerung sind Beispiele für diese Entwicklung. Aber auch die Nutzung sozialer Medien wird mit den Möglichkeiten der Bewertung und Kommentierung und den Mechaniken des Teilens und Retweetens zu einem Raum der Spiel- und Spekulationsdynamiken, bei dem je nach persönlichem Netzwerk oder Vorlieben Faktoren wie Reichweite, Skandalisierung oder weltanschauliche Übereinstimmung zu den angestrebten Zielen im konkurrierenden Spiel und Kampf um die immer knapper werdende Aufmerksamkeitsressource werden können. Mit der Teilnahme an diesen digitalen sozialen Hybriden aus Spielzeug und Kommunikationswerkzeug werden Nutzer*innen selbst zu Objekten der Berechenbarkeit. Wie wenig harmlos dieser Prozess ist, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass seit Barack Obamas erstem Wahlerfolg im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 der auf Big Data gestützte digital-analoge Verbundwahlkampf über die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika entscheidet. Die Berechenbarkeit der Wähler*innen ist dabei derartig fortgeschritten, dass auf Grundlage von Datenanalysen nur in ausgewählten, „unsicheren" Bundesstaaten, Distrikten oder Straßenzügen überhaupt noch eine direkte Wähler*innen-Adressierung stattfindet. Ähnlich stark durchdrungen von den Dynamiken der Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit ist die ökonomische Sphäre: Anwendungen der aus dem militärischen Kontext des Kalten Krieges stammenden Spieltheorie finden sich vor allem im ökonomischen Kontext (Schirrmacher 2013:28ff). Gregareks und Homanns Aussage „Das spielerische Element ist das elementare Lebensprinzip alles Lebendigen, oder: das Spielerische ist das zentrale Element des Werdens“ schließt politische Entscheidungsprozesse, militärische Szenarioplanung, globale Wirtschaftsaufschwünge und -krisen mit ein, die alle Objekt und Resultat von spielerischen Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen sind und die dem Versuch unterliegen, die Sphäre des Unberechenbaren in menschlichen Interaktionen zu reduzieren und sowohl individuelles als auch kollektives menschliches Verhalten berechenbar zu machen. Auch diese Aspekte von Spiel müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir uns Spieldynamiken, Spielmechaniken oder Spieldramaturgien in Theater und Theaterpädagogik zu eigen machen.