Begründungen frühkindlicher ästhetischer und Kultureller Bildung

Versuch einer Systematik

Artikel-Metadaten

von Fabian Hofmann

Erscheinungsjahr: 2021

Peer Reviewed

Abstract

Wie wird frühkindliche Kulturelle Bildung im Unterschied zu Kultureller Bildung in anderen Altersgruppen begründet, und wie wird sie im Unterschied zu anderen frühkindlichen Bildungsbereichen begründet? Verfolgt man diese Frage, zeigen sich unterschiedliche Begründungen aus unterschiedlichen Diskursen. Vier Dimensionen können dabei ausgemacht werden: Die Schlüsselkompetenz-Dimension, die anthropologische Bildungsprozess-Dimension, die soziale Dimension und die kunstspezifische Dimension der Begründungen. Ihre Kontur erhält frühkindliche Kulturelle Bildung dann durch eine jeweils spezifische Verknüpfung dieser Dimensionen.

Lange Zeit wurde Kulturelle Bildung mit kleinen Kindern im Diskurs eher vernachlässigt oder zwar wahrgenommen, aber nicht spezifisch thematisiert. Zunehmend bildet sich frühkindliche Kulturelle Bildung nun als eigenes Feld heraus. Dies ist erkennbar an Publikationen mit spezifisch frühkindlichem Fokus (Duncker et al. 2010; Reinwand 2013; Staege 2016a; Braun et al. 2019; Robert Bosch Stiftung 2019), an Tagungen mit entsprechender Ausrichtung (Hofmann und Roßkopf i. V.), an einem ersten Studiengang zur frühkindlichen kulturellen Bildung (Kultur - Bildung - Teilhabe. Kunst und Pädagogik in der frühen Kindheit, M.A. - Fliedner Fachhochschule), an Programmen und Förderungen (z.B. Kunst und Spiele - Robert Bosch Stiftung) und an verbandlichen Aktivitäten (insb. Netzwerk frühkindliche Kulturelle Bildung). Im Zuge dieser Herausbildung einer spezifisch frühkindlichen kulturellen Bildung werden auch entsprechende Begründungen formuliert. Es stellt sich die Frage, wie _frühkindliche_ Kulturelle Bildung im Unterschied zu Kultureller Bildung in anderen Altersgruppen begründet wird und frühkindliche _kulturelle_ Bildung im Unterschied zu anderen frühkindlichen Bildungsbereichen.

In diesem Beitrag sollen solche Begründungen zusammengetragen, kritisch eingeordnet und systematisiert werden. Begründungen werden dabei verstanden als Verbindungen einer bestimmten Auffassung oder Praxis von frühkindlicher Kultureller Bildung mit Diskursen, die als gültig oder zumindest relevant angesehen werden. In diesem Beitrag sollen anhand exemplarisch ausgewählter Publikationen diese Diskurse identifiziert oder rekonstruiert und historisch-kritisch eingeordnet werden. Im Unterschied zu anderen Begriffsbestimmungen und Systematisierungen (Deutscher Kulturrat 2002; Fuchs 2008a, 2008b; Bockhorst et al. 2012; Liebau 2013; Zirfas/Klepacki 2013; Weiß 2017; Jebe 2019; Zirfas et al. 2021) wird speziell der Diskurs um _frühkindliche_ Kulturelle Bildung beleuchtet. Dabei ist zu beachten, dass begrifflich ästhetische Bildung und Kulturelle Bildung im Diskurs teils unterschieden, teils synonym verwendet werden. Weil dieser Beitrag auf Begründungslinien blickt, die im Zusammenhang mit beiden Begriffen auftauchen, wird eine heuristische Perspektive eingenommen und grundsätzlich der Begriff „frühkindliche Kulturelle Bildung“ genutzt.

Vier Begründungsdimensionen für frühkindliche Kulturelle Bildung

An die inzwischen doch zahlreichen Veröffentlichungen zur frühkindlichen kulturellen Bildung wird also die Frage gestellt: Welche argumentativen Verbindungen werden hergestellt? Welche Begriffe und Diskurse, Theorielinien werden genutzt? Dabei lassen sich folgende Dimensionen herausarbeiten:

  1. Frühkindliche Kulturelle Bildung fördert die natürliche Kreativität von Kindern und stärkt diese Schlüsselkompetenz
    Die Schlüsselkompetenz-Dimension der Begründungen
     
  2. Frühkindliche Kulturelle Bildung ist eine Alltagspraxis und anthropologische Grundtatsache. Der kindliche Weltzugang ist grundsätzlich aisthetisch
    Die anthropologische Bildungsprozess-Dimension der Begründungen
     
  3. Frühkindliche Kulturelle Bildung befähigt zum Menschsein und führt Menschen zu ihrer Bestimmung. Sie ist ein Kinderrecht
    Die soziale Dimension der Begründungen
     
  4. Frühkindliche Kulturelle Bildung qualifiziert zu Kunst und Lebenskunst
    Die kunstspezifische Dimension der Begründungen

Im Folgenden sollen diese Dimensionen geklärt werden anhand exemplarischer Texte bzw. Positionen, die im wissenschaftlichen Diskurs eine bedeutende Rolle spielen: „Kreativitätsförderung“ (Braun 2009; Braun et al. 2019); „Die Bildung der ästhetischen Erfahrung“ (Schäfer 2005b, 2011), die Bildungspläne bzw. Bildungsgrundsätze der Bundesländer (zur Übersicht: Heinen 2020), „Anfänge ästhetischer Bildung“ (Dietrich 2010; Dietrich et al. 2013), „Kinderrechte in der frühkindlichen kulturellen Bildung“ (Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung 2021) und „Ästhetische Elementarerziehung (Seitz 1978).

Nicht weiter ausgeführt werden hier spezifisch fachdidaktische Beiträge beispielsweise aus der Musikpädagogik (Beck-Neckermann 2016; Dartsch 2021) oder der Kunstpädagogik (Winderlich 2010; Peez 2015; Engels 2021). Ebenso kann hier nicht auf die Wirkungsforschung (Rat für Kulturelle Bildung 2013; Rittelmeyer 2016; Konietzko et al. 2017; Pürgstaller et al. 2020) zur frühkindlichen kulturellen Bildung eingegangen werden.

Frühkindliche Kulturelle Bildung fördert die natürliche Kreativität von Kindern und stärkt diese Schlüsselkompetenz

Die Schlüsselkompetenz-Dimension der Begründungen

Braun: Kreativitätsförderung

Eine vielzitierte Grundannahme ist, dass Kinder quasi von Natur aus über künstlerische oder kreative Fähigkeiten verfügen. Unterschiedlich akzentuiert, ist dies die Grundlage für Begründungen einer frühkindlichen kulturellen Bildung im Sinne von Kreativitätsförderung. In jüngerer Zeit stechen dabei die Arbeiten der Künstlerin und Sozialpädagogin Daniela Braun hervor (Braun 2009; Braun et al. 2019); der deutlich ältere Ansatz des Kunstpädagogen Rudolf Seitz (Seitz 1978) wird jedoch auch später in diesem Beitrag behandelt. In der zentralen Fokuspublikation zur frühkindlichen kulturellen Bildung in der Schweiz wird eine Verbindung von Kreativitätsförderung und Ko-Konstruktions-Ansatz hergestellt (Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz und Hochschule der Künste Bern HKB 2017).

Braun beschreibt Kinder als grundsätzlich kreativ. Mit Bezug auf die psychologisch orientierte Kreativitätsforschung (insb. Mihaly Csikszentmihaly, John P. Guilford und Karl-Heinz Brodbeck) zitiert sie: „Kreativität ist die Hervorbringung von etwas Neuem, das auf gewisse Weise wertvoll ist“ (Brodbeck zit. n. Braun/Krause/Boll 2019:13). Bei kindlicher Kreativität bedeutet dies genauer: etwas, das für das Kind neu und wertvoll ist. Insofern sind Kinder ständig kreativ; und Kinder sind logischerweise kreativer als Erwachsene, weil für Kinder ganz viel noch neu ist (kritisch beleuchtet dies Peez 2015:116).

Kreativität wird jedoch auch als Antwort auf konkrete Herausforderungen gesehen, als „Problemlösungskompetenz“ (Braun/Krause/Boll 2019:15) oder als „Lebensgestaltungskompetenz“ (Braun/Krause/Boll 2019:19). Angesichts vielfältiger Anforderungen an das Kind ist Kreativität dann ein Teil von Lebensbewältigung und Resilienz. Auf diese Weise wird die Begründung, die vom Wesen des Kindes her argumentiert, mit einer zweiten Begründungslinie verknüpft, nämlich den gesellschaftlichen Anforderungen (s. später).

Die Begründungslinie der Kreativitätsförderung greift in der Regel (abweichend: Seitz, s. später) einen bestimmten Diskurs auf, der geprägt ist von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), einer wirtschaftspolitischen (genauer: neoliberal-wirtschaftspolitischen) Organisation (Braun/Krause/Boll 2019 zitieren verschiedene OECD-Quellen). Frank Jebe bezeichnet dies daher auch als „ökonomischen Diskurs“ (Jebe 2019:119 ff.). Dort ist von einer ungewissen Zukunft die Rede, auf dessen Anforderungen das Individuum antworten muss (nicht z. B. die Gesellschaft als Ganzes), und zwar durch individuelle Anpassung und Problemlösung. Kreativität wird entsprechend als Schlüsselkompetenz angesehen, und Kreativitätsförderung als zentrale pädagogische Aufgabe. Die Anbindung an diesen Diskurs wird spätestens dann problematisch, wenn man die Formulierungen isoliert und das zugrundeliegende Menschenbild genau betrachtet. So schreiben Braun/Krause/Boll in der Einleitung, dass Kinder „anpassungsfähig“ sein müssen und „Unternehmergeist“ brauchen (Braun/Krause/Boll 2019:7). Und: „Die kritischste Determinante des Erfolgs sind übrigens nicht Talent oder Fähigkeit, sondern wieviel Durchsetzungsvermögen, Entschlusskraft und Widerstandskraft jemand hat“ (Braun/Krause/Boll 2019:7).

Doch das „Kreativitätsdispositiv“ wird auch in anderer Hinsicht grundlegend kritisiert (Reckwitz 2013): Das Konzept wurde aus ökonomisch-technischen Zusammenhängen auf die Pädagogik übertragen, glorifiziert das Neue und führt nicht unbedingt zu Fortschritt (sondern nur zu „Neuartigem“, zur Abweichung vom Üblichen). Es geht zudem davon aus, dass alles kreativ-Neue grundsätzlich positiv ist. Und es treibt letztlich Allmachtsphantasien an: Kreativität heißt, gottgleich alles zu können und alles zu dürfen. Die Gefahr besteht dann auch in einer Überforderung des einzelnen Menschen durch einen „Kreativitätsimperativ“.

Der Kreativitätsbegriff ist also kein genuin pädagogischer oder künstlerischer und wird in den anderen genannten Diskursen in der Regel nicht verwendet. Gerade dies kann aber auch als Vorteil gesehen werden: Es ist ein Begriff, der auch über die Kulturelle Bildung hinaus verständlich und akzeptiert ist.

Frühkindliche Kulturelle Bildung ist eine Alltagspraxis und anthropologische Grundtatsache. Der kindliche Weltzugang ist grundsätzlich aisthetisch

Die anthropologische Bildungsprozess-Dimension der Begründungen

Schäfer: Die Bildung der ästhetischen Erfahrung

Gerd Schäfer ist Erziehungswissenschaftler, stellt sich aber gegen eine klassische bildungstheoretische bzw. bildungsphilosophische Argumentation. Weil der Bildungsbegriff in der Tradition Humboldts sich nicht problemlos auf die frühe Kindheit übertragen lässt, wählt er stattdessen ein induktives, im Grunde empirisches Vorgehen: Er denkt Kulturelle Bildung von der Lebenswirklichkeit und Erfahrung des Kindes aus, und zwar ab der Geburt.

Schäfer lenkt den Blick auf die Wahrnehmung des kleinen Kindes, das sich in einer ihm noch unbekannten Welt orientieren muss. Diese Wahrnehmung versteht er konstruktivistisch als „wahrnehmende Teilhabe an der Wirklichkeit“ (Schäfer 2005a:126), als aktive Tätigkeit, als Erfahrungen-Machen. In diesem Zusammenhang betont er, dass der fundamentale Weltzugang aisthetisch erfolgt.

Mit dem griechischen Wort „aisthesis“ wird versucht, ein komplexes Geschehen auf den Begriff zu bringen: Es geht um das gleichzeitige Wahrnehmen, Erinnern und Bewerten; es geht um einen Wahrnehmungsprozess, der von den Sinnen ausgeht, aber nicht bei der Sinneswahrnehmung im engeren Sinn stehen bleibt: Wenn man am Strand sitzt, mit Meeresluft in der Nase, den warmen Sand an den Händen spürt, ihn zwischen den Fingern rinnen lässt (Peez 2015) … das ist „aisthesis“. Auf dieser bauen Bildungsprozesse grundsätzlich auf.

Noch einen Schritt weiter geht die „ästhetische Erfahrung“ (Tatarkiewicz 2003; Mattenklott und Rora 2004; Brandstätter 2013; Rittelmeyer 2016; Peez 2018). Über „aisthesis“ hinaus beschreibt sie einen besonderen Zustand. Hierbei tritt erstens etwas dem Menschen in Erscheinung, d.h. die untergehende Sonne erscheint uns als Sonnenuntergang, Farben auf Leinwand als ein ergreifendes Gemälde. Und zweitens löst es etwas in uns aus, z. B. Staunen, Lust, Irritation, Genuss, Schaudern, Nachdenken. Der Philosoph Martin Seel spricht in seiner „Ästhetik des Erscheinens“ (Seel 2000) von „Aufmerksamkeit für das phänomenale Erscheinen der Welt“ und von einer „Vergegenwärtigung der vergehenden Gegenwart des menschlichen Lebens“, Immanuel Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ (Kant 1790/2021) vom „freien Spiel der Erkenntniskräfte“, Friedrich Schiller in seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ (Schiller 1795/2021) vom „Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung“ – ein zentrales Moment der Freiheit, der Selbsterfahrung und des Menschseins.

Gerd Schäfer bleibt eher bei den Sinneswahrnehmungen. Diese müssen jedoch vom Kind eingeordnet und be-deutet werden. Das Kind versucht also, Muster zu bilden. Mit Bezug auf Piaget einerseits und die jüngere Hirnforschung andererseits erklärt er, dass dies durch Handeln geschieht. So bildet das Kind Handlungsschemata heraus und mit zunehmendem Alter (ab ca. 1 Jahr) innere Repräsentationen – Schäfer spricht von Bildern bzw. von Szenen (Schäfer 2011), d. h. das Kind stellt Bezüge zu vergangenen Erfahrungen her und entwirft Möglichkeiten für die Zukunft. Hier spricht Schäfer von „aisthetischem Denken“ bzw. „aisthetischer Tätigkeit“. Er bevorzugt den Begriff „aisthetisch“, weil „ästhetisch“ für ihn zu stark mit dem Feld der Kunst und Hochkultur verbunden ist (Schäfer 2011:135).

Für die Orientierung des kleinen Kindes ist es enorm wichtig, die Wahrnehmungen mit Bedeutung zu versehen, also nach der Bedeutung von Menschen, Dingen und Situationen in Hinblick auf die eigene Person zu fragen. Dies umfasst ausdrücklich auch die Gefühlswelt: Sind bestimmte Handlungen angenehm, oder sollte man sich eher davor hüten? Um die Wahrnehmungen der Welt zu deuten, sind andere Menschen zentral. Die Deutung erfolgt in Auseinandersetzung mit dem, „was die Umwelt dieses Kindes für bedeutsam hält“ (Schäfer 2011:138). Notwendig ist eine Antwort, eine „Resonanz“, ein „Spiegeln“ der kindlichen Wahrnehmungen durch die Erwachsenen (Schäfer 2011:159).

Diesen gesamten Prozess der Wahrnehmung, der Musterbildung und der Erzeugung von Bedeutungen, der gleichzeitig aktiv und passiv ist, der vom Kind ausgeht und „gemeinsam geteilte Erfahrung“ (Schäfer 2011:61) ist, und der quasi im Vollzug erlernt und verfeinert werden muss, nennt Schäfer „Die Bildung der ästhetischen Erfahrung“ (Schäfer 2011:133).

„Wegen seiner grundlegenden Bedeutung stelle ich das ästhetische Denken dem urteilenden Denken gegenüber und meine, dass der wichtigste Bildungsprozess in der frühen Kindheit in der Ausformung und Differenzierung dieses ästhetischen Denk- und Tätigkeitsbereichs liegt.“ (Schäfer 2005a:126)

In 12 Thesen zu einer basalen aisthetischen Bildung (Schäfer 2011:156 f.), 5 Thesen zur ästhetischen Bildung (Schäfer 2005c:126 f.) sowie 15 Thesen zur frühkindlichen Bildung (Schäfer 2005c:62 ff.) fasst er diese Position zusammen und zieht daraus Schlüsse für die pädagogische Praxis. Besonders wichtig ist ihm die Anregung der Bildung der ästhetischen Erfahrung, allein schon durch eine sinnliche und bedeutungsreiche Umgebung, aber auch die Beteiligung des Kindes an seiner sozialen und kulturellen Umwelt. Hier sieht er pädagogischen Handlungsbedarf in Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit: Kinder brauchen reichhaltige Anregungen, damit ihre Sinne und ihr ästhetisches Denken als basale menschliche Eigenschaft überhaupt umfassend ausgebildet werden. Über das Elternhaus hinaus sind hier pädagogische Institutionen gefordert.

Schäfer vertritt also eine Position, die aus der Beobachtung von kleinen Kindern entwickelt ist. Kritisch ließe sich hier fragen, inwiefern diese nicht näher beschriebene Beobachtung, deren Methodik entsprechend nicht nachvollziehbar ist, wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen kann. Bildungstheoretisch hat sie Bezüge zu Humboldt (Potenzial, Neugier, „Bildungstrieb“), Fröbel (Kindheit als Bildungszeit, Spiel, Beziehung), Montessori (Empirie, Material), Bildungsreformdebatten (Ernstnehmen des Elementarbereichs, Kampf gegen soziale Ungleichheit, Bezug zur Entwicklungspsychologie) (Schäfer 2011:13 ff.). Und sie erwächst aus einer umfangreichen Beschäftigung mit dem Reggio-Ansatz, wie es im Untertitel von (Schäfer und Beek 2013) herausgestellt wird: „Von Reggio lernen und weiterdenken“.

Parmentier: Ästhetische Erfahrungen sind kein Kinderspiel

Einen kritischen Einwurf macht an dieser Stelle der Erziehungswissenschaftler Michael Parmentier (Parmentier 2004). Er beklagt, dass in vielen Konzepten - konkret nennt er John Dewey, Hartmut von Hentig, Wolfgang Welsch, Gernot Böhme, die Kunstdidaktik insb. von Gunter Otto (Parmentier 2004:101 f.) - die Radikalität ästhetischer Erfahrung abgemildert würde. Wenn ästhetische Erfahrung mit Sinneslust oder Befriedigung gleichgesetzt werde, fehle das entscheidende Charaktermerkmal: Ästhetische Erfahrung ist eine Erfahrung jenseits des Alltäglichen. „Die ästhetische Lust kann sich nur jenseits der alltäglichen Praxis in der ganz anderen Sphäre des Spiels und der Imagination entfalten“ (Parmentier 2004:102). Sie erfolgt abrupt und plötzlich, „das Ich steht auf einmal ganz ungeschützt“ da, „überwältigt bis zur Auflösung“ (Parmentier 2004:102). Dies läuft auf ein „Verschwinden des Subjekts“ (Parmentier 2004:103) hinaus, gleichzeitig aber auf Ungebundenheit, Freiheit, „schrankenlose Potentialität“ (Parmentier 2004:103), das „Vermögen zur Menschheit“ (Schiller 1795 zit. n. Parmentier 2004:103). Will man diesen Zustand absichtlich herbeiführen, gelingt dies nach Parmentier im Bereich der Kunst. Sie ist erstens imaginär und insofern jenseits des Alltags. Und sie ist zweitens ironisch, d. h. sie steht selbst über der Trennung von Alltag und Imagination, erhebt sich über jenes dialektische Verhältnis.

Worauf der kritische Einwurf von Parmentier aufmerksam macht: Nicht jede Sinneswahrnehmung von Kindern, nicht alles leibbezogene Handeln von Kindern mit sinnlich erfahrbarem Material ist eine ästhetische Erfahrung. Der sinnliche Weltzugang von Kindern ist wichtig, aber ästhetische Erfahrung geht weit darüber hinaus. Hier liegt das besondere Potenzial frühkindlicher Kultureller Bildung. Während beispielsweise naturkundliche Aktivitäten auch sinnlich und leibbezogen sind, bietet frühkindliche Kulturelle Bildung ästhetische Erfahrungen, bei denen Wirklichkeit und Phantasie auf eigenartige Weise verschmelzen, bei denen das Kind einen intensiven und freien Zustand erleben kann, in dem alles möglich scheint.

Kulturelle Bildung als Spiel- und Erfahrungsraum

Kulturelle Bildung hat also das Potenzial, als besonderer „Raum“ zu dienen. Kulturelle Bildung findet natürlich in einem konkreten Raum statt (der nicht nur den physischen oder digitalen Raum umfasst, sondern beispielsweise auch den Sozialraum). Meist sind Räume Kultureller Bildung besondere Räume. Sie sind spannend, weil sie Erfahrungsräume sind (Hofmann und Preuß 2017; Preuß und Hofmann 2019). Und darüber hinaus ist der Bereich der Kunst wie der Bereich des Spiels ein spezieller „Raum“, ein „Dazwischen“ (Schiller 1795/2021): Kunst und Spiel findet einerseits in der normalen, alltäglichen Welt statt – und andererseits ist es herausgelöst aus den Zwängen und Routinen des Alltags. Das schafft Freiraum. In der Psychoanalyse und Psychologie ist von „intermediären Räumen“ die Rede (Dietrich 2010). Gerade für Kinder ist das Spiel ein wichtiger und alltäglicher „Raum“. Kinder brauchen und nutzen diesen Spielraum. Hier darf man sich anders verhalten als sonst, man darf jemand anderes sein, man ist frei – in Schillers Worten ist man nur dort wirklich Mensch. Kulturelle Bildung ermöglicht und schafft solche Räume. Hier geht es darum, „Gespenster und Feen nicht als Einbildung abzutun, sondern sie im Gegenteil zum Leben zu erwecken“ (Reinwand-Weiss 2019:29).

Frühkindliche Kulturelle Bildung befähigt zum Menschsein und führt Menschen zu ihrer Bestimmung. Sie ist ein Kinderrecht

Die soziale Dimension der Begründungen

Bildungspläne bzw. -grundsätze der Bundesländer: Kultur

Der Bezug zur Kultur findet sich prominent in den Bildungsplänen bzw. Bildungsgrundsätzen der Bundesländer, wie in den Analysen von Heinen bzw. Schulze deutlich wird (Heinen 2021; Schulze 2021). Die dort implizit oder explizit angegebenen Begründungen sind meist nicht ausdrücklich auf Quellen bezogen. Die meisten Bildungspläne sind geprägt entweder vom Selbstbildungsansatz nach Gerd E. Schäfer oder vom Ko-Konstruktions-Ansatz nach Wassilios Fthenakis. Während Fthenakis allgemein-lernpsychologisch argumentiert (kindliches Lernen als aktiver Prozess der Konstruktion von Welt, aber immer in Interaktion mit anderen und anderem, daher: Ko-Konstruktion), argumentiert Schäfer speziell bezogen auf ästhetische Bildung (s.o.).

Die Bildungspläne betonen den aisthetischen Weltzugang von Kindern, insbesondere wenn sie am Selbstbildungsansatz orientiert sind. Sie betonen aber immer auch die gesellschaftliche Dimension Kultureller Bildung, und zwar rund um den Begriff „Kultur“. Hier werden Aspekte wie „soziale und kulturelle Herkunft, Geschlecht, Religion und Weltanschauung aber auch Begriffe wie Familienkultur und Multikulturalität aufgeführt. Es geht überwiegend um Themen wie Toleranz, Internationalität, Interkulturalität und Integration“ (Heinen 2021). Damit zeigt sich, dass von den verschiedenen Kulturverständnissen (Reckwitz 2000; Nünning 2009) in der Regel ein normativer Kulturbegriff verwendet wird. Im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan ist beispielsweise die Rede von „Kinder mit verschiedenem kulturellem Hintergrund“, „andere Kulturen“, „anderen Kulturkreisen“ und „fremden Kulturen“ (Schulze 2021). Nordrhein-Westfalen nennt einen Bildungsbereich „soziale und (inter-)Kulturelle Bildung“, der nicht in Verbindung mit dem Bildungsbereich „musisch-ästhetische Bildung“ steht (MfSW und MfFKJKS 2016) und sich auf das gesellschaftlich-kulturelle Miteinander bezieht. Die mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Begründung für Kulturelle Bildung ist daher eine soziale: Durch Kulturelle Bildung werden Kinder befähigt, das Zusammenleben mit anderen zu gestalten.

Problematisch ist, dass der in den Bildungsplänen vertretene kulturessentialistische, normative Kulturbegriff überholt ist (Reckwitz 2000); weder empirisch noch theoretisch kann davon ausgegangen werden, dass Menschen genau einer Kultur angehören, die wiederum genau bestimmt und abgegrenzt werden kann. Vielmehr ist von Transkulturalität zu sprechen, von ethno-natio-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, von hybriden Kulturen – und von Differenzbildung, wenn doch Grenzziehungen vorgenommen werden (Mecheril 2019). Vielleicht wird an dieser Stelle aber auch deutlich, dass Bildungspläne nicht allein wissenschaftliche, sondern vor allem bildungspolitische Dokumente sind und politischen Setzungen folgen.

In den Bildungsplänen wird also die Enkulturation, die Einführung in die „kulturell-ästhetischen Symbolbestände“ (Dietrich 2010:2) der Erwachsenenwelt gefordert. Insofern wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft thematisch: Kinder sind Rezipient*innen und Produzent*innen von Kultur; Kulturelle Bildung muss sie einerseits dazu qualifizieren, andererseits damit rechnen, dass kleine Kinder Kultur mitgestalten.

Dietrich: Teilhabe

An dieser Stelle wird die Bedeutungs-Dimension von Kultur hervorgehoben: „die Sinnestätigkeit wird zur Sinnfiguration“ (Dietrich 2010:2). Diese Argumentation schließt an Positionen der ästhetischen bzw. kulturellen Bildung an, die eine Doppelstruktur (Dietrich 2010) betonen: „Ästhetische Bildung als Bildung durch ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung als rezeptive und produktive Teilhabe an künstlerisch-kulturellen Praktiken lassen sich so als komplementäre Bestimmungen ästhetischer Bildung auffassen. Während die erste das _Selbstverhältnis fokussiert, rückt die zweite das Weltverhältnis theoretisch ins Zentrum“ (Staege 2016b:44). Das Verständnis von Bildung als Selbstbildung darf daher nicht so eng gefasst werden, dass das Kind völlig allein frühkindliche Kulturelle Bildung praktiziert – vielmehr ist es so, dass in der „(reflexiven) Verknüpfung von Kultur und Individualität“ (Zirfas 2004:80), „im Sich-zu-eigen-Machen von Überindividuellem (Denk- und Ausdrucksformen, Praktiken und Techniken, Symbolbeständen usf.) der Mensch sich eine Form gibt (sich bildet), die er bloß aus sich selbst nicht herstellen könnte.“ (Staege 2016b:43).

Wenn Kinder diese Verknüpfung von Kultur und Individualität lernen, können sie auch an Kultur teilhaben: „Wenn Elementare Ästhetische Bildung also zweitens in kulturell-ästhetische Symbolbestände (…) hineinführt, so beinhaltet auch dies ein Moment der Partizipation, nun aber nicht mehr auf der Ebene des unmittelbaren Mitseins, sondern auf der Ebene des vermittelten Teilnehmens am kulturell-symbolischen Austausch.“ (Dietrich 2010:10)

Kinderrechte: Volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben

In Hinblick auf die soziale Dimension wird frühkindliche Kulturelle Bildung auch über die Kinderrechte begründet (Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung 2021). Grundlage dafür ist die UN-Kinderrechtskonvention (Unicef 1989/2021), die verschiedene Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte von Kindern aufführt. Die Begründung ist hier eine juristische; sie baut jedoch auf Vorstellungen vom Menschen im Allgemeinen und vom Kind im Speziellen auf, die in der europäischen Moderne seit der Aufklärung entwickelt wurden und sich auch in der europäischen Bildungstradition finden. Diese Vorstellungen erhalten nun eine normative Stärkung über eine juristische Argumentation und positives Recht.

Zu Kultureller Bildung heißt es in Art. 31, Abs. 2: „Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung“ (Unicef 1989/2021).

Diese Begründung hat Folgen für das Verständnis von Pädagogik: Kinder werden in der Begründungslinie der Kinderrechte als eigenständige Rechtssubjekte aufgefasst. Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen wird also anders konzipiert als in vielen gebräuchlichen pädagogischen Konzepten. Während Erziehungstheorien in der Regel von einem asymmetrischen Verhältnis ausgehen, in dem Erwachsene als reifer und klüger angesehen werden und daher über Kinder bestimmen, wird bei Kinderrechten eine Gleichrangigkeit postuliert. Sofern Erwachsene eine machtvollere Position (z.B. in Institutionen) innehaben, sind sie verpflichtet, diese im Sinne der Kinder auszuüben. Nach UN-Kinderrechtskonvention ist das Kindeswohl (in der englischen Fassung „best interests of the child“) in allen Angelegenheiten, die Kinder betreffen, sogar vorrangig. Und Kindeswohl ist mehr als der Schutz vor Vernachlässigung, körperlicher oder psychischer Gewalt – es geht über diese Schutzrechte hinaus und umfasst auch Förderrechte und Beteiligungsrechte (Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung 2021).

Die Begründung auf Basis der Kinderrechte impliziert ein spezifisches Verständnis von frühkindlicher Kultureller Bildung: Kinder haben ein Recht auf Bereitstellung „geeigneter“ (und gleicher) Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung. Mit dem frühpädagogischen Fokus bedeutet dies: es müssen ihnen altersspezifische Möglichkeiten bereitgestellt werden. Und sie müssen beteiligt werden. Mit der Formulierung „_volle_ Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben“ (Art. 31, Abs. 2, Hervorhebung FH) wird sogar ein Maßstab gesetzt. Aus der Begründung der Kinderrechte lässt sich also ableiten, dass es eine spezifisch frühkindliche Kulturelle Bildung braucht, die auf jeden Fall altersspezifisch und partizipativ ist.

Der Teilhabe-Aspekt wird in den Artikeln 28 („Recht auf Bildung; Schule; Berufsausbildung“) und 29 („Bildungsziele; Bildungseinrichtungen“) klarer konzipiert. Die UN-Kinderrechtskonvention baut die Bildungsrechte auf einen weiten Bildungsbegriff auf, der u.a. „Persönlichkeitsbildung“, „Entfaltung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten“ und „Vorbereitung auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft“ (Art. 29) umfasst. Partizipation wird also einerseits über ein Recht bestimmt, andererseits aber auch an eine Pflicht gebunden, nämlich Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Entsprechend muss frühkindliche Kulturelle Bildung partizipative Voraussetzungen schaffen für die Teilhabe an Kultureller Bildung, Partizipationsmöglichkeiten in der Kulturellen Bildung bereitstellen und schließlich Teilhabefähigkeiten durch die Kulturelle Bildung vermitteln (Zirfas 2015).  

Frühkindliche Kulturelle Bildung qualifiziert zu Kunst und Lebenskunst

Die kunstspezifische Dimension der Begründungen

Eine Begründung frühkindlicher Kultureller Bildung aus den Künsten heraus findet sich kaum. Zwar wird die rezeptive und produktive Beschäftigung mit den Künsten immer wieder erwähnt (Braun 2009; Staege 2016b), jedoch weniger als konzeptuelle Grundlage, sondern als einer von mehreren Bezugspunkten (bei Braun in Zusammenhang mit Kreativität, bei Staege in Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung) oder als praktische Ergänzung (beispielsweise wird in den Bildungsgrundsätzen NRW vorgeschlagen, mit Künstler*innen zusammenzuarbeiten – ansonsten taucht der Begriff „Kunst“ nicht auf, (MfSW und MfFKJKS 2016). Dies ist einerseits erstaunlich, da beispielsweise der kunstpädagogische Diskurs zum Kunstunterricht eindeutig kunstspezifische Positionen aufweist (zur Übersicht: (Peez 2018). Andererseits ist dies vielleicht schon ein Teil der Erklärung: Gerade der kunstpädagogische Diskurs ist kaum auf die frühe Kindheit bezogen; in den Diskursen um frühkindliche Kulturelle Bildung fehlt diese fachdidaktische Perspektive. Zum anderen wird in den frühpädagogischen Publikationen immer wieder der Begriff „Ästhetik“ und das Konzept der „ästhetischen Erfahrung“ stark gemacht (s.o.); dabei wird betont, dass dies nicht unbedingt mit Kunst zu tun hat bzw. auch ohne Kunst möglich ist.

Seitz: Ästhetische Elementarerziehung

Aus jahrzehntelanger Praxis in Kindergärten und einem 10-jährigen Modellversuch über ästhetische Elementarerziehung in einer Münchener Tagesstätte heraus entwickelte der Kunstpädagoge Rudolf Seitz bereits vor gut vierzig Jahren sein Konzept der „Ästhetischen Elementarerziehung“. Mit dem Buchtitel „Kunst aus der Kniebeuge“ (Seitz 1978) wird deutlich, dass er dabei eine auch spielerische pädagogische Grundhaltung einnimmt. Sicherlich hat die damalige Auffassung von Kunst einen Einfluss darauf - Beuys‘ Diktum „Jeder Mensch ist ein Künstler“ bringt die Vorstellung auf den Punkt, dass jede*r durch schöpferische Tätigkeit die Welt, die Gesellschaft und sich formen kann. Und die zeitgenössische kunstpädagogische Praxis in München, wo Seitz lebt und arbeitet, initiiert unter den Namen „KEKS“ (Kunst – Erziehung – Kybernetik – Soziologie), später „Pädagogische Aktion“ bzw. „PA/ SPIELkultur“ (Baar 2014) neuartige sozialräumlich, spielerisch und kreativ ausgerichtete Angebote für Kinder und Jugendliche.

In der Einleitung macht Seitz deutlich, dass das Ziel von Kreativität der mündige Mensch ist (Seitz 1978:11 ff.): „Sie [die Kreativität, Anm. FH] meint den Menschen, der offen und spontan ist, der in der Lage ist, Veränderungen anzugehen, der spielerisch und nicht durch Vorurteile beengt denken kann und der auch etwas bewirken will“ (Seitz 1978:13).

Kreativität wird hier nicht in erster Linie als Problemlösekompetenz gesehen, sondern als Gestaltungskompetenz und als schöpferische Haltung zur Welt: „Unsere Gemeinschaft ist nur eine von zahlreichen möglichen. Allzu vieles ist verbesserungsfähig. Veränderungen sind nötig. Sie sind aber nur möglich, wenn das Kind von sich aus lernt, Gegebenheiten als eben mögliche zu sehen, wenn es auch neu definieren kann, wenn andere Lösungen denkbar erscheinen. Das ist keine Erziehung zum Aufruhr, sondern zur Freiheit“ (Seitz 1978:12). Entsprechend sind die zentralen Punkte seines Ansatzes „Erziehung der Sinne“, Erfahrungen und Selbstfindung.

Versuch einer Systematik

Die verschiedenen Begründungen, die auf unterschiedliche Diskurse zurückgreifen, lassen sich damit folgendermaßen systematisieren:

  1. Frühkindliche Kulturelle Bildung fördert die natürliche Kreativität von Kindern – diese Argumentation führt an, dass Kinder grundsätzlich kreativ sind und in dieser Hinsicht auch den Künstler*innen ähnlich sind. Dies zu fördern bereitet sie auch gut auf eine ungewisse Zukunft vor, in der Kreativität eine Schlüsselkompetenz sein wird. Diese Begründungen entspringen Diskursen in Psychologie und Ökonomie und bieten fachübergreifende Akzeptanz, verlaufen jedoch eher unabhängig von traditionellen erziehungswissenschaftlichen Diskursen.
     
  2. Frühkindliche Kulturelle Bildung ist eine Alltagspraxis und anthropologische Grundtatsache – diese Argumentation besagt, dass der kindliche Weltzugang grundsätzlich „aisthetisch“ ist. „Aisthesis“ beschreibt das gleichzeitige Wahrnehmen, Erinnern und Bewerten; „aisthesis“ meint einen Wahrnehmungsprozess, der von den Sinnen ausgeht, aber nicht bei der Sinneswahrnehmung im engeren Sinn stehen bleibt. Darauf bauen Bildungsprozesse grundsätzlich auf. Diese Argumentation schließt mehr oder weniger deutlich an Vorstellungen eines grundlegend menschlichen „Bildungstriebs“ an (ausführlicher dazu: (Bilstein 2016)), an Schillers „ästhetische Erziehung“ und deren Weiterführung in der Reformpädagogik, an Humboldts Vorstellung einer „allgemeinen Bildung“, an die frühpädagogische Tradition seit Fröbel, und an den frühpädagogischen Reggio-Ansatz. Die Argumentation betont das Spiel ebenso wie die Erfahrungen des Unbekannten, Kontingenten und Fremden. Diese Aspekte werden auch in phänomenologischen Positionen stark gemacht (Brinkmann 2019; Widdascheck 2021). Frühkindliche Kulturelle Bildung ist somit der zentrale Modus frühkindlicher Bildung, eine „Grundkategorie frühkindlicher Bildung“ (Reinwand 2013).
     
  3. Frühkindliche Kulturelle Bildung befähigt zum Menschsein und führt Menschen zu ihrer Bestimmung – diese Argumentation betont Kulturelle Bildung als ein Kinderrecht. Zu singen ist demnach etwas bedeutsam Menschliches; Menschen sollten singen können und dürfen, und das muss in der Kita angebahnt werden. Die Kinderrechte bauen auf einem weiten Bildungsbegriff auf, der u.a. „Persönlichkeitsbildung“, „Entfaltung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten“ und „Vorbereitung auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft“ (UN-Kinderrechtskonvention, Art. 29) umfasst. Sie postulieren das Recht des Kindes auf „volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben…aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung“ (Art. 31). Kulturelle Bildung wird also auch in Hinblick auf die soziale Dimension begründet. Hier wird an eine Tradition der Kulturpädagogik und kulturellen Bildung angeschlossen, die die Enkulturation mit einschließt und partizipatorische Ansätze betont.
     
  4. Frühkindliche Kulturelle Bildung qualifiziert zu Kunst und Lebenskunst – diese Argumentation spricht davon, Kunst verstehen zu lernen und Kunst praktizieren zu lernen. Doch sie reicht noch weiter: Es geht darum, ein „virtuoso“ des Lebens zu werden (zur Geschichte dieser Idee Bilstein 2016); es geht mit Joseph Beuys („Jeder Mensch ist ein Künstler“) oder Wilhelm Schmid („Lebenskunst“) darum, gestalten zu können; sich und die Welt mitgestalten zu können; utopisch denken zu können. Der Bereich der Künste und der kulturellen Bildung ist ein „intermediärer Raum“ (Dietrich 2010 verweist auf David Winnicott), ein Feld des Spiels (Schiller), der Utopie und des „ästhetischen Ichs“ (Mollenhauer 1990). Das schöpferische Potenzial von Kindern wird dabei betont.

Verglichen mit der Systematik von Jebe zur Kulturellen Bildung im Allgemeinen (Jebe 2019) zeigen sich im frühkindlichen Diskurs einige Ähnlichkeiten, aber auch entscheidende Unterschiede: Die „Schlüsselkompetenz-Dimension“ (bei Jebe „ökonomischer Diskurs, Jebe 2019:119) tritt deutlich stärker auf, findet sich in vielen Publikationen und auch in den Bildungsplänen. Bezogen auf die anthropologische Dimension werden im frühkindlichen Bereich Bildungsprozesse stärker betont. Es geht also um das Wesen des (jungen) Menschen als sich bildendes Wesen, daher ist der Begriff „anthropologische Bildungsprozess-Dimension“ hier präziser. In der sozialen Dimension geht es im frühkindlichen Diskurs nicht nur um Teilhabegerechtigkeit; der Umgang mit Kultur wird auch in konservativer oder affirmativer Weise beschrieben (z. B. als Heranführung von Kindern an Hochkultur); hier erscheint mir der Begriff „sozial“ treffender als „gerechtigkeitsakzentuiert“ (Jebe 2019:102 ff.). Die kunstspezifische oder kunstakzentuierte Dimension konnte im frühkindlichen Bereich selten aufgefunden werden.

Damit zeigt sich, dass frühkindliche Kulturelle Bildung nicht aus einer einzelnen Begründung heraus konstituiert wird. Es lässt sich nicht „das eine“ Verständnis frühkindlicher Kultureller Bildung finden. Das mag man in gewisser Hinsicht bedauern, aber es bringt doch auch einen entscheidenden Vorteil mit sich: Frühkindliche Kulturelle Bildung lässt sich auf unterschiedliche Weise und mit Rückgriff auf unterschiedliche Diskurse begründen – und damit anschlussfähig machen. Es können und müssen also immer wieder Begründungen hergestellt werden, die für die Beteiligten gültig, hilfreich und tragfähig sind. Für beteiligte Pädagog*innen mögen andere Begründungen sinnvoll sein als für Bildungspolitiker*innen, für Kinder andere als für Verbände, für Eltern andere als für die Bildungsadministration. Stets gilt es dann, die oben genannten Begründungen angemessen zu verknüpfen. Ihre Kontur erhält frühkindliche Kulturelle Bildung also durch eine jeweils spezifische Verknüpfung bestimmter Begründungen und Diskurse.

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Anmerkungen

Credits

Wichtige Anregungen und Einblicke verdanke ich den Studierenden des Master-Studiengangs „Kultur – Bildung – Teilhabe. Kunst & Pädagogik in der frühen Kindheit“ an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, insbesondere Bärbel Pöls zu Rudolf Seitz und Miriam Schulze zu den Bildungsplänen.

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Fabian Hofmann (2021): Begründungen frühkindlicher ästhetischer und Kultureller Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/begruendungen-fruehkindlicher-aesthetischer-kultureller-bildung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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