Begegnung von Posthumanismus und Wissenstransfer. Ein Gedankenexperiment durch Improvisationstanz

Artikel-Metadaten

von Luise Fischer

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

In diesem Artikel setze ich Prozesse der Begegnung kreativ in Beziehung: Begegnung im improvisierten brasilianischen Zouk, im Wissensdialog bzw. Wissenstransfer und im Denken mit Posthumanismus. Indem ich diese drei Bereiche zusammenbringe, führe ich ein konzeptionelles Gedankenexperiment durch (Manning/Massumi 2014; St Pierre 2019) und frage, wie das Denken über Zouk unter posthumanistischer Perspektive den Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung zu bereichern vermag. Indem ich mich insbesondere auf den Aufbau von Kontakt in der ersten Begegnung konzentriere, lade ich die Leser*innen zu etwa 30 Minuten improvisiertem Zouk-Tanzen ein. Dabei spüre ich nach, wie eine bewusste Offenheit für Transformation bewirken kann, dass sich Selbstbilder und ihre Wissenswelten durch nicht-nur-menschliche Einflüsse ändern. Mithilfe dieses tänzerischen Gedankenexperiments schlage ich vor, die Debatten zu Wissensproduktion und -transfer in der Kulturellen Bildung um den posthumanen Dialog bzw. die posthumane Begegnung zu erweitern.

Ich befinde mich in einem weiten offenen Raum in einem alten Gebäude – wahrscheinlich aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Wärmende Sonnenstrahlen dringen durch die großen alten Fenster ein. Das Licht ist hell an diesem Morgen. Es berührt all die Ecken, die hohen Decken und sogar die alten Kronleuchter. Und ich bin begeistert: Der flache hölzerne Boden scheint so wunderbar tanzbar. Ich fühle mich eingeladen und spüre neue Möglichkeiten und Potenziale. Er wirkt in seiner scheinbaren Unberührtheit fast wie eine leere Bühne, die meine Lebendigkeit weckt, sich hier zu entfalten. Es ist eine Einladung zum Erkunden und Werden, zum Erschaffen von Bewegungen.

Ich höre eine Melodie erklingen. Plötzlich spüre ich eine Ungeduld in mir wachsen. Es drängt mich, in Bewegung zu kommen, zu tanzen, zu kreieren. Ich bin bewegt von der Lebendigkeit, die noch kommen wird und doch schon da ist, Vergangenheit und Gegenwart zugleich, nicht linear. Ich möchte brasilianischen Zouk tanzen – hier, mit der Musik, den anderen Tänzer*innen, und all den anderen Entitäten, die mich bewegen. Ich beeile mich, meine Tanzschuhe anzuziehen: Sie sind flach und bequem, eher wie Socken, die ein sanftes Überqueren und eine Verbindung mit diesem Holzboden ermöglichen, auf dem wir unsere Bewegungen stützen werden. Dann höre ich die innere Stimme, die mir sagt, den Moment zu genießen und voreilige Bedeutungszuschreibungen zu vermeiden.    

Ich lade Sie, liebe Leser*innen, ein, diesen Raum für etwa 30 Minuten gemeinsam mit mir zu betreten. Ich werde hier mit imaginären Tanzpartner*innen brasilianischen Zouk tanzen, in Bewegung Wissen und Erfahrungen kreieren und diese reflektieren. Dabei möchte ich durch mein tänzerisches Werden über Wissenstransfer und besonders die Möglichkeiten des posthumanen Dialogs in der Kulturellen Bildung und Forschung nachdenken. Anne Hartmann und Kerstin Hübner, für die Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel und das Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung (NFKB) verantwortlich für die Tagung „Experiment Wissen“ und das Dossier, haben den Raum und die Musik organisiert. Sie haben uns eingeladen, zu experimentieren – verschiedene Möglichkeiten des Wissenstransfers in der Kulturellen Bildung und Forschung zu tanzen und darüber zu reflektieren. Damit haben sie uns auch ermutigt, bisher noch weniger populäre erkenntnistheoretische Annahmen und methodische Prinzipien auszuprobieren. In Ihrer Anwesenheit, liebe*r Leser*innen, möchte ich daher Tänze zu den Möglichkeiten des posthumanen Dialogs – des Wissenstransfers – in der Kulturellen Bildung erproben. Dieser Tanzraum hier ist daher auch eine Fortsetzung des kürzlich geschaffenen Experimentierraums – des Buches Raus aus dem Haus. Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung, herausgegeben von Elke Harnisch-Schreiber et al. (2023).

Bevor ich mit dem Tanzen beginne, werde ich kurz erläutern, weshalb die hier kombinierten Themen für mich von Bedeutung sind und wo sich die Tänze in Bezug auf aktuelle Debatten in der kulturellen Bildungsforschung und im Posthumanismus/ Neuen Materialismus bewegen. Nachdem ich unser Gedankenexperiment (Manning/Massumi 2014) vorbereitet habe, frage ich, wie eine (posthumane) Art der Verbindung und Bewegung die kulturelle Bildungsforschung und den entsprechenden Wissenstransfer informieren kann. Ich lade uns ein, eventuell unbewusste Annahmen und Praktiken der Zusammenarbeit zu reflektieren und neue Begegnungsweisen zu suchen. Dabei bewege ich mich in diesem Text immer wieder zwischen gedanklichen Auseinandersetzungen und meinen (wieder)gelebten Erinnerungen und Fantasien. Lassen Sie uns gemeinsam sehen, wohin uns die nächste halbe Stunde führen und was sich entfalten kann.

1. Warum tanzen? Warum posthuman und als konzeptionelles Gedankenexperiment?

Die Melodie wird deutlicher. Der Rhythmus zeigt sich klarer und beginnt durch meinen Körper zu vibrieren. Es ist ein typischer Zouk-Rhythmus – langsam, schnell, schnell. Ich spüre, wie die Aufregung in mir aufsteigt. Der Rhythmus und der Klang aktivieren meine Energien. Mehrere Instrumente beginnen, die Schwingungen der Luft und meines Körpers zu steuern. Ich kann nicht still bleiben. Meine Füße und mein Oberkörper sind bereits in Bewegung. Ich möchte tanzen. Und ich frage mich:

Warum tanze ich?
Wenn ich tanze, beginnt die Welt scheinbar stillzustehen.
Die Musik – der Rhythmus, die Melodie, der Text – bewegen meinen Körper.
Jeder Nerv, jeder Muskel, jeder Knochen erwacht.
Ich beginne, mich mit meinem tiefsten Inneren zu verbinden.
Nach den ersten Takten schließe ich zuweilen die Augen
und begebe mich auf eine Reise in eine scheinbar andere Welt.
Fortgetragen von einem Gefühl des Staunens
folgt ein Tanz dem anderen.
Zeit hat scheinbar keine Bedeutung mehr.
Bis der Durst mich an die menschlichen Zwänge erinnert.

Das (improvisierte) Tanzen hat seit vielen Jahren eine große Bedeutung in meinem Leben. Es hat mir neue Möglichkeiten eröffnet, mich auszudrücken und mit Erfahrungen zu experimentieren. Dabei trat der Improvisationstanz und das, was ich dabei erleben und lernen durfte, vor vielen Jahren überraschend in mein Leben. Eine einfache Partnerübung während einer Probestunde war mein Türöffner in eine Welt voller unbekannter Magie und Verbindung, Erdung und Kreativität in verschiedenen Improvisationstänzen. In diesem Artikel werde ich speziell auf meine Erfahrungen im brasilianischen Zouk eingehen, da er eine große Offenheit in den (gemeinsamen) Bewegungen bietet. Vielleicht ist Ihnen dieser Improvisationstanz bekannt. In jedem Fall möchte ich Sie einladen, Evelyn Magyari und Xandy Liberato (2013) anzusehen, um einen Eindruck zu bekommen: https://www.youtube.com/watch?v=ITRCYkFMqfk.

Bislang habe ich diese sensorischen und kinästhetischen Erfahrungen und die damit verkörperten Formen des Wissens kaum wissenschaftlich reflektiert. Diese als Fachbeitrag verschriftlichte Untersuchung soll die vorher unbewussten Verbindungen verschiedener Lebensbereiche – besonders des Tanzens und Denkens – herausarbeiten. Sie soll damit aktuelle Debatten und aufkommende Fragen in der (post-) qualitativen Forschung und insbesondere in der Kulturellen Bildung bereichern, die genau diese Verbundenheit verschiedener Erfahrungs- und Wissensprozesse adressieren. In den letzten Jahrzehnten haben Forscher*innen in den Sozialwissenschaften, wie beispielsweise in den Bildungs- und Kulturwissenschaften sowie in der Beratung und Sozialen Arbeit, mit zunehmendem Nachdruck eine kritische qualitative Forschung oder gar post-qualitative Forschung gefordert (vgl. Bondi/Fewell 2016a und 2016b; St Pierre 2004, 2013, 2021; Chapela 2019; Harris 2019). Diese Autor*innen rufen uns auf, unsere onto(-)epistemologischen Annahmen und Untersuchungsansätze mit Blick auf die Art und das Ziel der Wissensproduktion zu überdenken. Mit dieser Untersuchung reagiere ich auf solche Aufforderungen und Ermutigungen, Forschung zu praktizieren, die über (post-)positivistische Ansätze, welche von einer objektiven Abbildbarkeit einer existierenden Realität ausgehen, hinausgeht.

Dabei lege ich ein posthumanes Paradigma – posthumane Annahmen – zugrunde. Posthumane Denker*innen begrüßen die Überwindung kartesischer Dualismen, denn spätestens seit den Werken des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650) sind in vielen (westlichen) Gesellschaften viele Binaritäten bzw. auf seinen Namen verweisende kartesische Spaltungen von Körper und Geist, Mensch und Natur, Materie und Diskurs verankert. Posthumanist*innen streben danach, solche kartesischen Dichotomien zu überwinden bzw. die Konstruktion der scheinbaren Abgrenzungen zu betonen. Sie gehen daher von Kontinua oder „Zwischenzuständen“ („in-between-states“) aus (Braidotti 2017:12). Sie und ich sind in diesem Verständnis keine bereits fix existierenden, unabhängigen Entitäten, sondern wir verändern uns permanent relational – in der Begegnung bzw. in Beziehung zueinander und immer wieder neu (vgl. besonders Barad 2007, 2014; Braidotti 2013, 2017, 2019).

An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, dass Autor*innen wie Barad und Braidotti durchaus aus unterschiedlichen Schulen, nämlich aus der Quantenphysik (neuer Materialismus) und der Philosophie (Posthumanismus) kommen. Gemeinsam mit Autor*innen wie Murris und Bozalek (2019) und Leonard (2020) verwende ich in diesem Artikel den Begriff des Posthumanismus als übergreifend für alle Ansätze, die posthumane und neue materialistische Theorien verwenden, da ihre erkenntnistheoretischen Annahmen – ihre relationalen Ontologien (Werden und Wissen in der Beziehung) – miteinander vereinbar sind.

Ich sehe, wie mehr Personen auf die Tanzfläche strömen.
Warum tanzen wir?
Vielleicht weil wir müssen.
Weil wir davon träumen, etwas zu wagen.
Weil wir davon träumen, uns und die Welt (anders) zu erfahren, vielleicht anders zu werden.
Angezogen von Magie und Geheimnis wagen wir es, das Unbekannte offen zu umarmen.
Wir erlauben Verwandlung – Metamorphose.
Warum tanzen wir?
Weil wir müssen, weil wir uns selbst hinterfragen. Weil wir wollen.

Posthumane Autor*innen gehen davon aus, dass jede Entität immer verwoben (verwandt) und permanent im Werden und in Veränderung ist. Dies bedeutet, dass wir auch in der Wissensvermittlung, im Wissenstransfer und im Dialog mit der Erfahrung anders denken können – nicht (nur) als die gelebte Erfahrung, sondern als Wahrnehmung des fortwährenden Erlebens (im Moment) und des permanenten relationalen Veränderns und Wissens. Mit dem Posthumanismus zu experimentieren, habe ich bereits (z. T. gemeinsam mit Nina Kolleck) an anderer Stelle vorgeschlagen (vgl. Fischer/Kolleck 2023; Fischer 2023). In diesem Artikel geht es mir besonders darum herauszuarbeiten, wie dieses Paradigma für die kulturelle Bildungsforschung und den Diskurs zum entsprechenden Wissenstransfer neue Überlegungen zur materiellen und diskursiven Welt bieten kann. In der Debatte zum Wissenstransfer ist die Zweibahnstraße (vgl. Hartmann/Scheuer 2023) zu einer anerkannten Metapher geworden, welche die Komplexität und Verflechtungen von Wissensproduktion, Kommunikation und Forschungs- bzw. Bildungspraxis aufzeigt. Darauf aufbauend werde ich beispielhaft zeigen, wie ein posthumaner Dialog die Kulturelle Bildung und Forschung erweitern kann.

Für meine Betrachtungen und die damit verwobenen folgenden Tänze werde ich mich mit dem postqualitativen Denken-mit-Untersuchungsansatz (thinking-with theory) (St. Pierre 2018, 2019) aufwärmen. Die postqualitative Untersuchung (inquiry) bzw. das Denken-mit-Theorie (thinking with theory) wird von der US-amerikanischen Bildungswissenschaftlerin Elizabeth St. Pierre (2011, 2018, 2019, 2021) vorgeschlagen. St. Pierre (2019) stellt den Begriff „Methodologie“ (wie auch den Begriff „Forschung“ – „research“) mit dem Argument in Frage, dass er (post-)positivistischen Ballast mit sich bringe. Sie argumentiert, dass solche Begrifflichkeiten die Annahme implizieren, dass es sogenannte Forschungslücken gibt, die durch (objektive) Wissensakkumulation geschlossen werden können. Stattdessen schlägt St. Pierre postqualitative Untersuchungen vor, die auf poststrukturalistischen und posthumanen Philosophien und deren onto(-)epistemologischen Arrangements beruhen. Das „post“ bedeutet dann quasi, dass wir uns mit den Herausforderungen unserer aktuellen postmodernen Welt(en) auseinandersetzen und mit poststrukturalistischen (Deleuze und Guattari) und posthumanen (Braidotti, Barad, Manning) Theorien und Konzepten denken, die nicht in fixen Binaritäten verankert sind, sondern ohne einen festen oder vordefinierten Prozess Wissen produzieren. Ziel ist es, zu experimentieren und etwas (Wissen) zu schaffen, das in bestehenden Strukturen bisher noch nicht erkennbar ist. Postqualitative Untersuchung ist für St. Pierre immanent; sie feiert das kreative Entstehen von Wissen, ohne eine Bindung an bestehende Kategorien oder Grenzen.

Neben St. Pierre haben auch andere Autor*innen das Denken-mit-Theorie als Untersuchungsmethode befürwortet (vgl. Jackson/Mazzei 2012; Wyatt 2019). In der Tat reizt mich das Denken mit Konzept für diese Untersuchung, denn der brasilianische Zouk hat keine Tanzmethodik, sondern verwendet nur ein paar Kernbewegungen, die (potenziell) zum Tanzen inspirieren und ständig verändert werden können. In ähnlicher Weise beinhalten der Wissenstransfer und auch der Dialog in der Kulturellen Bildung das Zuhören und damit die Auseinandersetzung mit Konzepten, die von Augenblick zu Augenblick Präsenz und kreativen Bezug erfordern. Da wir uns in dieser Untersuchung auf den ersten Kontakt und die Begegnung im Tanzen konzentrieren, schlage ich vor, dass wir besonders mit Barads (2007, 2014) „Beugung“ („diffraction“) denken. Barad erlaubt uns, mit diesem Konzept Veränderung in Begegnung bzw. Kontakt anders zu betrachten. Wir wenden dieses Konzept schließlich auch mit Blick auf die Reflexion in der Kulturellen Bildung und Forschung an. Dabei werden wir auch mit dem Konzept der „Metareflexion“ bzw. der „diffraktiven Reflexion“ von Serra Undurraga (2020, 2021) arbeiten. 

Ich fühle mich eingeladen von einer kaum greifbaren Zauberhaftigkeit.
Und doch ist mir diese Zauberhaftigkeit bekannt. Dieses Gefühl des sich scheinbaren Verlierens bei gleichzeitiger Verbundenheit.
Die Begegnung für Veränderung – mit den Tänzer*innen, der Musik, dem Raum, dem Licht.
Anmutig und spielerisch, selbstbewusst und verletzlich.
Vertraut, vertrauend, offen für das, was werden kann.

Wir kommen hier in diesem Tanzraum also als posthumane Tänzer*innen bzw. Anwesende an. Das bedeutet, dass wir ständig relational werden und uns verändern. Relational meint im posthumanen Sinne nicht nur menschliche Beziehungen, sondern alle materiell-diskursive Entitäten und Praktiken wie beispielsweise die Tanzfläche, die Raumdecke, das Licht, die Rhythmen, Schuhe, Affekte, Theorien, Konzepte usw. Diese Entitäten haben alle eine Wirkung und konstituieren sich gegenseitig und somit auch uns, die Bewegungen und Begegnungen. Dieser Artikel ist damit auch ein performatives (experimentelles) Stück.

Schließlich tanze ich mit fiktiven Tanzpartner*innen. Da die Tanzgemeinschaft im brasilianischen Zouk groß ist (mehr als tausend) und ich seit vielen Jahren an verschiedenen geographischen Orten tanze, schreibe ich so, dass keine Person direkt oder indirekt identifiziert werden kann. Meine Textvignetten beruhen auf tatsächlichen Erlebnissen, werden aber (von uns) als fiktionalisierte Tänze erfahren. Darüber hinaus dient der interne Dialog bzw. die interne Reflexion dazu, verschiedene Stimmen und Aspekte zum Ausdruck zu bringen.

2. Kontakt: Verschiedenheit/Differenz anders einladen

Das nächste Lied hat bereits begonnen. Ich habe es schon einmal gehört. Es ist „Awaken“ von Damian Escobar (2017). Ich bin berührt und bewege mich schon beim ersten Ton. Ich spüre die Schwingungen der Violine, die meinen Drang verstärken, mich auszudrücken.

Der brasilianische Zouk ist (noch) kein populärer Tanz. Viele Tänzer*innen reisen daher in andere Länder, um sich zum Tanzen zu treffen. Zouk zieht Menschen aus allen Kulturen an. Während Englisch und brasilianisches Portugiesisch die inoffiziellen Tanzsprachen sind, teilen die Tänzer*innen gelegentlich nicht einmal dieselbe gesprochene Sprache. Was zählt, ist die Freude am Experimentieren – das Mitgestalten von Bewegung, jedes Mal anders. Zouk umarmt also die Differenz in und durch die Bewegung. Jeder Tanz ist anders, aber er beginnt mit Kontakt – zu sich selbst, der Musik, dem Raum und den Tanzpartner*innen.

Umarmung der (posthumanen) Differenz in Tanz und Dialog

Ich spüre einen Blick auf mir und frage: „Magst du tanzen?” Lächelnd ist die Antwort „ja“. Ich erwidere sein Lächeln und bin fasziniert von der Dringlichkeit, die in dem Lächeln, dem Tempo und dem Ton der Stimme zum Ausdruck kommt. Es ist eine Mischung aus Dramatik, einem Gefühl des Erinnerns an Verlust, gepaart mit einem Gefühl der erwachenden Hoffnung und des Neuanfangs. Irgendwie fühle ich mich mit der Musik verbunden, noch bevor wir uns auf diesem Parkettboden in dem sonnendurchfluteten Raum bewegen.

Wir begegnen uns nun auf der Tanzfläche und intra-agieren („intra-acting“) nach Barad (2007, 2014). Mein Tanzpartner - ich spreche hier in diesen beispielhaften Vignetten von einem Partner, denn im Zouk spielt das Geschlecht keine Rolle - und ich existieren nicht als unabhängige Entitäten, sondern sind immer im Werden, indem wir in Beziehung (in ständiger intra-action) zueinander, zu anderen Kräften, Entitäten oder Ereignissen stehen. Beim Intra-Agieren kommt es zu sogenannten „agential cuts“ oder auch „agential intra-action" (vgl. Barad 2007:139), die Einheiten definieren, wo vorher nur Beziehung war. Dies bedeutet, dass wir unsere wahrgenommenen oder angenommenen Unterschiede, unsere Grenzen und Identitäten, die durch agential cuts (agential intra-action) entstanden sind, in der Begegnung wieder beugen – genau wie Wellen. Im Prozess der Begegnung – Beugung nach Barad – werden die Grenzen verändert und neu geformt. Barad stützt ihr Konzept der intra-action und der Veränderung durch Beugung (diffraction) auf die Quantenphysik. Dort bezieht sich Beugung auf das, was passiert, wenn sich Wellen begegnen, überlagern oder auf ein Hindernis treffen. Es sind bewusst Wellen und keine Teilchen. Wellen sind auch nicht lokalisierbar, sondern immer im Werden begriffen. Der Prozess der Beugung wird auch als Interferenz bezeichnet; Barad verwendet die beiden Begriffe synonym, schreibt jedoch meist von Beugung (diffraction). Wenn sich Wellen verbinden oder begegnen (beugen), verändert sich das Intensitätsmuster dieser Wellen, im Extremfall bis hin zur Überlagerung (superposition) oder zur gegenseitigen Auslöschung.

Barad argumentiert also, dass wir stets intra-agieren, aber unsere Identitäten, wahrgenommenen Unterschiede und somit auch unser Wissen durch agentielle Schnitte in der Begegnung (temporär) geschaffen werden und durch Beugung (Begegnung) wieder neu konfiguriert werden können (vgl. Barad 2014:168). Nach Barad (2007:392-393) liegt dies auch daran, dass Materie selbst immer verwoben (entangled) und offen für Veränderung ist. Wenn wir also bewusst offen für Veränderungen bleiben, dann sind wir in der Lage, uns auch bewusst immer wieder mit dem zu verbinden – zu beugen –, was eventuell durch agential cuts einmal (ab)getrennt worden ist.

Wir stehen uns gegenüber. Ich suche den Blickkontakt und frage mich, wie nahe ich kommen kann, wie nah oder fern wir sein sollten. Ich komme einen Schritt näher, da scheint es in Ordnung zu sein. Ich gehe noch einen Schritt, da ist ein Flackern, irgendwo, ich registriere es nicht ganz. Vielleicht war es ein Blinzeln. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich nahe genug bin... hier scheint es gut zu sein. Wir haben noch nie zusammen getanzt. Ich bin behutsam.

Diffraktives Tanzen (und Lesen, Denken, Schreiben, Handeln …) lädt dazu ein, einen Unterschied zu machen und neue Konfigurationen zuzulassen und zu erleben (vgl. Barad 2007:381). Als posthumane Tänzer*innen beginnen wir den Tanz ebenso stets offen für Veränderung. Wir laden zur Transformation ein, dies bedeutet: Wir wollen potenziell (anders) werden durch die Begegnung mit den Tanzpartner*innen und (neuen) materiell-diskursiven Praktiken und Entitäten. Diese Offenheit und Umarmung der Transformation sind auch dem Dialog inhärent, denn dieser impliziert die Möglichkeit zur Veränderung, zur (gemeinsamen) Wissensproduktion im Austauschprozess (vgl. Gadamer 1989; Freire 2004 [1970]; Freire/Macedo 1995; Buber 2008).

Um (möglicherweise) besser zu verstehen, wie sich geschaffene/wahrgenommene Grenzen und Unterschiede durch Begegnung verändern (also beugen) und wie sich Verbindungen beim Aufbau von Kontakt neu konfigurieren, können wir uns mit der „Assemblage“ beschäftigen. Barad verwendet diesen Begriff kaum, da sie eine mögliche Assoziation mit fixen Entitäten vermeiden möchte (vgl. Barad 2007:451, Fußnote 22). Ich beziehe mich daher hier auf den Begriff der „Assemblage“ von Deleuze und Guattari, die damit „a multiplicity, a becoming, a segment, a vibration“ („eine Vielfalt, ein Werden, ein Segment, eine Schwingung“) meinen (vgl. Deleuze/Guattari 2003:252). Assemblage wird an verschiedenen Stellen erklärt, u.a. auch als „increase in the dimensions of a multiplicity that necessarily changes in nature as it expands its connections” (ebd.:8). Neben der ständigen Veränderlichkeit durch neue Verbindungen ist für die beiden Autoren die Assemblage auch zumeist unbewusst: „We say that the assemblage is fundamentally libidinal and unconscious. It is the unconscious in person” (ebd.:36). Indem wir unseren Kontakt und unsere Nähe überprüfen, indem wir in die Energie der*s Anderen hineinspüren, indem wir uns entscheiden, den Blick zu richten oder (nicht) zu halten, legen wir (bereits auch unbewusst) unsere innere Welt offen und bieten sie der*m Anderen zur Beugung an. Die Wahrnehmung der*s Anderen beeinflusst uns sowohl auf der Tanzfläche als auch bei der Wissensvermittlung. Diese wirkt sich auf unsere körperlichen und energetischen Reaktionen aus – das Hinein- und Hinauslehnen, das in der Intensität der Umarmung oder auch anderen Formen der (ersten) Begegnung bewusst wird. Mit Beugung zu denken bedeutet, (mehr) darauf zu achten und bewusst zu werden, wie diese verschiedenen mehr-als-menschlichen Entitäten das Hineinlehnen beeinflussen. Dazu gehören auch Entitäten wie die Qualität des Lichts oder der Sonnenstrahlen, die Temperaturen, Farben und (mögliche) Geräusche im Raum, die Beschaffenheit des Bodens und der Wände.

Ein warmer Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich spüre die Rhythmen, die Energien, die durch meinen Körper schwingen, Geschichten, die vor langer Zeit von den alten Holzböden und den alten Mauern erzählt wurden, die „uns“ beobachten und berühren. Sonnenstrahlen erwärmen meine Wangen.
Unsere Hände falten sich ineinander. Wir berühren unsere Rücken. Umarmung. Ich bin vorsichtig und doch neugierig. Ich weiß nicht, was und wie (wir) werden, wie sich diese Umarmung und dieser Tanz entfalten und uns/mich möglicherweise verändern.

Beugende (diffracting) Grenzen und sich veränderliche Selbstbilder

Wenn wir uns auf den Tanz einlassen und uns auf ihn einstimmen, fühlen wir uns in die Energie und die Gefühle der*s Anderen, der Musik, des Raums ein. Dies kann zu einem Gefühl des Ineinandergreifens der geschaffenen und wahrgenommenen (aber nicht fixen) Grenzen führen – energetisch, intellektuell, emotional und darüber hinaus. Barads Beugung erlaubt uns, mit der Idee zu experimentieren und zu spekulieren, so dass sich Grenzen und Selbstkonzepte (und Identitäten) in der Umarmung und im Moment des Kontaktaufbaus verändern.

Mein Herz klopft, Freude und Aufregung durchströmen mich. Ich stimme meinen Atem auf den Takt des Liedes ein, der im gleichen Rhythmus wie der Herzschlag meines Partners zu sein scheint. Ich spüre, dass er dasselbe tut. Ich atme tief ein und stimme meine Gemütslage auf ihn und das Gefühl in der Melodie ein. Ich spüre die warmen, angenehmen Sonnenstrahlen des Vormittags auf meiner Haut. Die Höhe des Raumes lässt meine Gedanken und Gefühle scheinbar fliegen. Die Holzdielen halten uns und geben uns zugleich Energie.

Was den Kontakt im Dialog und den Wissenstransfer betrifft, so fordern uns diese Konzepte auf, über unsere vielfältigen und gelegentlich fließenden Rollen nachzudenken – als Akademiker*innen, Pädagog*innen, Künstler*innen, Organisator*innen/Manager*innen, Studenten*innen, Bürger*innen, Mitglieder*innen von Gemeinschaften usw. Wie können wir es wagen, offener und bewusster in diese verschiedenen Rollen einzutauchen und sie zu tanzen und unsere Art der Beziehung und Wissensproduktion durchdringen zu lassen?

Ich fühle mich von Barad (2007) aufgefordert, über die sich verändernden Grenzen der Rollen nachzudenken. Für den Wissenstransfer impliziert Barads Beugung für mich ein Einlassen auf mögliche Rollen- und Hierarchiewechsel, um unterschiedliche Beziehungskonstellationen in materiell-diskursiven Räumen des Austauschs zu ermöglichen. Ein solches Denken ermöglicht weiterhin das Nebeneinander- und Ineinander-verwoben-sein von Identitäten (und Rollen). Natürlich spielen strukturelle Rahmenbedingungen und Pfadabhängigkeiten eine zentrale Rolle dabei, Beziehungsebenen zu navigieren und auszugestalten. Doch gelingt es uns, über diese scheinbar vorgegebenen Strukturen hinaus in Beziehung zu treten? Sicherlich bedarf es hier der Erfahrungs- und Experimentierräume. Was ich jedoch vorschlage, ist eine Offenheit für die Auseinandersetzung mit den eigenen Erwartungen und zusätzlich eine (bewusstere) Offenheit für menschliche und nicht-menschliche Einflüsse in der Formulierung unserer Fragen, der Entwicklung von Projektideen, der Generierung unterschiedlichen Wissens, der Reflexion von (Veränderungs-)Prozessen und der Kommunikation von Ergebnissen.

Beugende Umarmung: durch Berührung einen Unterschied machen

Meine Hände fühlen sich akzeptiert, obwohl sich unsere Hände zum ersten Mal treffen. Unsere Energien und Gefühle stimmen sich aufeinander ein. Ich spüre, wie ich die Bewegungen über die Jahre so verinnerlicht habe, dass ich gar nicht mehr über die Grundlagen des Tanzes, des Werdens in Beziehung nachdenke.

Kontakt(ieren) macht einen Unterschied. Barad (2007:71-72) schlägt vor, dass Beugung (diffraction) auch eine Metapher dafür ist, in der Welt einen Unterschied zu machen. Indem wir Kontakt aufnehmen, machen wir bereits einen Unterschied, denn wir öffnen uns für eine Veränderung der geschaffenen/wahrgenommenen Grenzen oder Unterschiede. Die Deleuze-Guattarische Assemblage ist immer in Bewegung und verändert (uns) durch unsere bewegte (berührende) Zusammengehörigkeit. Wir berühren und beugen unser Werden. Auch Manning (2007, 2020), die ebenfalls Tänzerin ist, lädt uns ein, darüber nachzudenken, wie wir durch Berührung etwas verändern. „Berührung ist eine Art, wie Formungen entsehen“ („Touch is one way shapings occur”), argumentiert sie (Manning 2020:247). In Anlehnung insbesondere an Manning und Barad haben auch Bozalek et al. (2020:1) kürzlich veranschaulicht, wie wir uns ständig bewegen und verändern, indem wir uns gegenseitig als „diffraktive menschliche/nichtmenschliche Vielfalt“ („diffractive human/nonhuman multiplicity”) berühren. Wyatt (2019:48) argumentiert ebenfalls, dass Berührung (nicht unbedingt physisch gesprochen) symbolisch für das „push/pull“ in einer Beziehung steht. Wir initiieren also eine Veränderung oder einen Unterschied, indem wir das Leben berühren und indem wir berührt werden.

Mich überkommt ein Gefühl der Freiheit gepaart mit einem Gefühl der Verbundenheit. Ich spüre die Immanenz des Augenblicks nur vage, vielleicht liegt es an der Intensität. Ich möchte gerade nicht nachdenken. Wir bewegen uns über die Tanzfläche und spielen mit Bewegungen. Ich glaube fast, dass ich träume. Ich kann kaum in Worte fassen, was ich spüre.
Wir treten in einen Zustand des Fließens ein und lassen uns von einem Zustand der Ganzheit und des Staunens mitreißen. Es spielt keine Rolle, wer wir sind. Alles, was zählt, ist, dass wir diesen Augenblick gemeinsam erschaffen und teilen.

Mit Barads Verständnis bringt uns die Bedeutung der Berührung in ein anderes Register: Im Dialog berühren und formen wir über das Hier und Jetzt hinaus. Die Schwingungen sind da und zeigen möglicherweise noch ihre Wirkung – über die dialogische Begegnung oder den Tanz zeitlich und räumlich hinaus. Diese Form von Berührung ist dann – wie schon angedeutet – nicht unbedingt physisch, sondern zugleich auch auf unsere Gedanken, Einstellungen, Erwartungen, Empfindungen ausgerichtet. Es ist ein Beispiel dafür, wie wir in der gegenseitigen Berührung werden, nämlich durch einen mehr als menschlichen, beugenden Kontakt. Manning (2013:109-110) verweist ebenfalls darauf, dass der Tanz uns tanzt („the dance dancing you”) und die Umgebung zum Agenten wird („environment that persons”). Unsere Verschränkungen berühren uns, so wie die Tanzfläche oder der dialogische Raum uns berühren und Teil der Assemblage sind. Damit laden die Autor*innen uns ein, uns gegen die Trennung von Welt und Körper zu engagieren, gegen die Annahme von bereits existierenden Kategorien oder Verständnissen von Selbst und für Kontinuitäten und fortlaufendes Werden. Sie laden uns ein, (das Leben) mehr und anders zu berühren – in einem posthumanen (mehr-als-menschlichen) Sinne.

Etwas wird hervorgerufen, entsteht. Es ist ein intensives Gefühl von Bewegung, die (sich) bewegt. Wie ein warmer Schauer über den Rücken. Wie ein Funkeln, das diese Einheit, unsere Umarmung, durchzieht. Ich spüre Energien, die durch meinen Körper schwingen, aus der Verstrickung, aus Geschichten in diesem Raum, die vor langer Zeit von den alten wachenden Wänden erzählt wurden – und die ‚uns‘ berühren.

Von der Umarmung zum Unterschied für den Wissenstransfer

Wenn wir uns auf Barads Beugung einlassen, merken wir auch, dass Barad darin einen Gegensatz zur Reflexion oder auch Reflexivität sieht. Sie argumentiert, dass diese Reflexion rückwärtsgewandt und damit nicht dem Prozess des Werdens entsprechend offen genug ist. Ich schätze Barads Konzept der Beugung sehr, sehe es aber wie Serra Undurraga (2020, 2021) nicht im Konflikt mit Reflexivität. Serra Undurraga (2021) entgegnet Barad mit ihrem Konzept der (Meta-)Reflexivity oder der „diffractive reflexivity“. Sie argumentiert, dass sich Beugung und Reflexivität nicht ausschließen. Stattdessen ermutigt sie uns, in unsere verschiedenen Zustände und Veränderungsprozesse hineinzufühlen – die Beugungen quasi bewusst wahrzunehmen und damit auf die Zwischenzustände zu achten und unsere Selbstbilder, unsere Annahmen, unser Wissen und unsere (gemeinsam durch Beugung produzierten) Veränderungsprozesse zu reflektieren.

Wie lange dauert ein Wunder? Von morgens bis abends? Ich merke, es ist spät geworden. Draußen ist es dunkel. Das Tanzen war ein Flimmern, das sich bog und drehte, während es sich in das Bewusstsein hinein- und herausbewegte. Wie ein flackerndes Wunder, das ins Bewusstsein gelassen werden will.

Was bedeutet dies für den Wissenstransfer in der kulturellen Bildungsforschung? Ich möchte drei zentrale Aspekte vorschlagen: Erstens laden uns unsere Tänze dazu ein, noch offener zu werden für Veränderungen und Experimente in den (Untersuchungs-)Methoden der Kulturellen Bildung und des Wissens-„Transfers“ oder der Wissen(schafts)kommunikation. Dies betrifft unsere Annahmen über Wissensproduktion und -kommunikation. Es betrifft unsere (potenziell) multiplen, fließenden und dazwischen liegenden Regeln, und es betrifft die Art und Weise, wie wir uns zueinander verhalten und durch die verschiedenen Prozesse der Wissensproduktion verändern. Diese Offenheit ist jedoch nicht einfach und sicherlich nicht unabhängig von bestehenden Strukturen und Hierarchien zwischen und innerhalb der Professionen und Perspektiven der Kulturellen Bildung. Wie/wann/wo können sich beispielsweise Forschende/Lehrende stärker als regionale und kulturelle Mediator*innen einbringen oder den Lead – je nach Projektziel – den kulturellen Bildungspraktiker*innen überlassen? Eine Offenheit für Rollenwechsel und -reflexion ist auch nicht unabhängig von den Orten und Räumen, in denen wir arbeiten und einander begegnen. Multipel genutzte Räume wie jene der Bundesakademie in Wolfenbüttel können beispielsweise diesen Raum für Austausch auf Augenhöhe bieten. Was wir darüber hinaus brauchen, ist eine größere, fallweise Meta-Reflexion (im Sinne von Serra Undurraga) darüber, wann/wo wir offen für Veränderungen sind und wann/wo nicht. Was sind die jeweiligen Beweggründe für unser Handeln und unsere Annahmen? Warum/wo fühlen wir uns zu bestimmten Themen und Rollen hingezogen? Sind Gewohnheit und Karriere die einzigen Leitlinien? Oder gibt es noch andere Beweggründe? Welche Erwartungen und Annahmen sind mit den jeweiligen Rollen verknüpft und (wie) wollen/können wir diese beugen?

Wir sind des Weiteren eingeladen, mit verschiedenen Arten des Kommunizierens und Schreibens zu experimentieren. Wir sind ermutigt, den Leser*innen zu erlauben, in die verschiedenen Erfahrungsräume einzutreten und diese Erfahrungen zu teilen: „Show, don’t tell,“ ist ein oft gehörter Leitspruch in erfahrungsbasierten Untersuchungen und performativen Schreibweisen (vgl. Ellis et al. 2011; St. Pierre 2019; Østern et al. 2023). Das heißt, wir sind aufgefordert, die Verflechtungen von Kommunikation und Produktion zu sehen. Die Art und Weise, wie wir schreiben und kommunizieren, beeinflussen unser Verständnis und unsere Sinngebung. Sie sind selbst Ausdruck unserer Bedeutungen und die Prozesse des Schreibens (und Lesens) schaffen selbst Bedeutung. Somit ist auch das Schreiben – in all seiner Vielfalt und auch von den ersten empirischen Notizen bis hin zur Veröffentlichung – ein reflexiver Prozess. Wir können sicherlich auch andere Wege finden, um unsere Positionen zu vermitteln oder zu zeigen. Wichtig ist, dass wir offen bleiben, um neue Wege und (Text-, Erfahrungs-)Räume der Beziehung zueinander zu entwickeln. Wenn wir mehr wollen als das, was es gibt, wenn wir Unterschiede wollen, wenn wir wollen, dass das Potenzial der Kulturellen Bildung wächst und sich entfaltet, dann müssen wir auch die Art und Weise ändern, wie wir zusammenarbeiten, schreiben, schaffen, Kultur produzieren und lehren/vermitteln.

Als letzten Punkt möchte ich betonen, wie bedeutsam es im Zouk ist, zu improvisieren und sich mit anderen Tänzen zu vermischen. Das heißt für die Kulturelle Bildung beispielsweise, dass wir auch von anderen (internationalen) Kontexten der Wissenschaftsproduktion lernen können. Wir können unsere Perspektiven erweitern, besonders im Hinblick auf Annahmen, Erfahrungen, Orte, Menschen, Affekte, Diskurse, so wie der Posthumanismus, der stark  von angelsächsischen, französischen und niederländischen Autor*innen geprägt ist, meinen Artikel hier beeinflusst. Begegnungen in verschiedenen Räumen können uns und unsere Art der Wissensproduktion beugen. Dies bedeutet, wir brauchen mehr Räume der Begegnung mit den verschiedenen Akteur*innen der Kulturellen Bildung, aber auch mit angelehnten Bereichen wie der politischen Bildung oder der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Auch translokale und internationale Formen der Zusammenarbeit erweitern unsere Annahmen und Grenzen der Arbeit. Wir können in der offenen (posthumanen) Begegnung – im offenen posthumanen Dialog – und der bewussten (Meta-)Reflexion auf das „Wo“, „Wann“ und „Wie“ der Begegnung noch mehr voneinander lernen.

Diese Tänze haben etwas in mir geweckt. Ich kann noch nicht ganz (be)greifen, was das ist. Ein Gedanke geht mir durch den Kopf: Vielleicht bietet Tanzen hier heute einfach einen sicheren und offenen Raum, der dazu einlädt, dieses unbewusste Flackern, dieses Potenzial zu entfalten und damit zu experimentieren.

3. Am Ende einen Unterschied machen – anders werden

“Are we dancers, or are we human?” (The Killers, Song “Human” 2008)

Beim improvisierten (Zouk-)Tanzen geht es darum, Gewohnheiten zu verändern, bestehende Strukturen, Ontologien, Wissens- und Beziehungsformen in Frage zu stellen. In diesem Sinne ist das Tanzen auch ein politischer Akt, da es den Status quo dessen, was wir annehmen zu sein (Ontologie), was wir annehmen wissen zu können (Epistemologie) und wie wir Wissen erlangen können (Untersuchung) in Frage stellt und mit ihm experimentiert. Politisch gesehen trage ich mit dieser Untersuchung zu der von Braidotti (2013, 2019) geforderten (posthumanen) Interdisziplinarität bei, indem ich Tanz, posthumane Untersuchung und Fragen des Wissenstransfers in der Kulturellen Bildung zusammenbringe.

Diese Untersuchung war ein Gedankenexperiment (Manning/Massumi 2014; Wyatt 2019). Es war eine Übung, um „anders denken zu lernen“ („learning to think differently”) (Braidotti 2019:111). Es war zudem eine Einladung zu einer posthumanen Begegnung und Beugung, zu einem posthumanen Dialog für die Kulturelle Bildung und Forschung. Indem ich den Prozessfokus des Werdens/Veränderns und des Wissens (hier über das Ich) in den Vordergrund gestellt habe, habe ich auf verschiedene Überschneidungen zwischen Dialog, Tanz und Posthumanismus hingewiesen. Darüber hinaus ging es mir darum, Überlegungen aus einer posthumanen (philosophischen) Position anzuregen, die das geschlossene, begrenzte Selbst durch ein für Veränderungen offenes Selbst ersetzen. Ich habe uns eingeladen, (energetische) Grenzveränderungen im Kontakt zu betrachten und angeboten, in diesen Momenten auf nicht-menschliche Affekte wie Raum, Licht, Boden, Wand, Fenster zu achten, um über das Menschliche hinaus, das „Mehr-als“ („more-than“) wahrzunehmen (vgl. Massumi 2015:14; Manning 2013:32; Wyatt 2019: 50). Ziel war es zudem, mit einer performativen Schreibweise zu experimentieren, um Ihnen zu erlauben, in den Tanz und die Untersuchung hineinzufühlen. Es ging darum, Sie an der Erfahrung zumindest etwas teilhaben zu lassen, in der sich das performative „Ich“ ständig in Beziehungsprozessen verändert (Jackson/Mazzei 2008; Wyatt 2019).

Kreative Wege der Verknüpfung des Lernens können die Fähigkeiten erweitern und sie ins Bewusstsein bringen. Sie helfen uns, Details in den Beziehungsgeflechten zu sehen. Es ist die Qualität des Kontakts, der Begegnung und der Beziehung, die einen Unterschied machen kann. Diese Untersuchung hat Möglichkeiten aufgezeigt, kreativ über „unser“ Werden und unsere Art des Erlebens und der (Meta-)Reflexion nachzudenken und darüber, wie wir in der Beziehung werden und was wir (über uns) wissen.

Ich setzte mich, ziehe meine Schuhe aus. Das letzte Lied ist gespielt. Innerlich schwinge ich noch immer und denke:

Tanzen verwandelt.
Tanzen fühlt sich an wie Laufen auf freien Feldern. Dort, wo alles möglich ist.
Es ist, als würde man Brunnen und Oasen in den scheinbar endlosen Sanddünen der Zeit finden.
Und nie allein, sondern stets mit dem Mehr-als-Bekannten und den mehr-als-nur-menschlichen Entitäten.

Wie verabschieden wir uns? Ich möchte uns einladen, weiter experimentierend zu forschen. Wir müssen ausprobieren, wiederholen, weiter lernen. Vielleicht müssen wir auch zurückkehren und wiederholen (verlernen) und rückgängig machen (vgl. Harris 2019; St. Pierre 2013). Dieser Artikel ist ein Impuls, neugierig und kritisch zu bleiben, nach neuen Möglichkeiten zu suchen und lang erlernte, vielleicht unbewusst gewordene Praktiken zu hinterfragen, Perspektiven zu ändern und zu improvisieren – verantwortungsvoll und ethisch für/gegenüber dem Leben. Vielleicht fühlen Sie sich eingeladen, darüber nachzudenken, wo/wann/wie Sie vielleicht ähnliche Begegnung erlebt haben und wie sich unterschiedliche Zeit-Räume und Rollen im Austausch angefühlt haben. Bevor ich mich verabschiede, möchte ich mich für Ihr Dabeisein bedanken. Kommen Sie mal wieder. Bis bald.

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Luise Fischer (2024): Begegnung von Posthumanismus und Wissenstransfer. Ein Gedankenexperiment durch Improvisationstanz. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/begegnung-posthumanismus-wissenstransfer-gedankenexperiment-durch-improvisationstanz (letzter Zugriff am 24.09.2024).

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