Die außerökonomischen Bezirke: Über den Stellenwert von Kultur im Studium der Sozialen Arbeit und darüber hinaus

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von Philipp J. Wulf

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

„Kultur“ firmiert als hoher Wert und stiftet doch als mehrdeutiges Abstraktum theoretische Schwierigkeiten: Die durchgesetzte Rede von einem weiten sowie von mehreren Kulturbegriffen macht „Kultur“ zu einem der komplexesten Wörter der deutschen Sprache, das zudem immer unschärfer zu werden scheint. Es fragt sich, wie das Feld der Kultur umrissen werden kann, ohne beliebig weit zu werden, sowie worin das gemeinsame Allgemeine der Einzelbedeutungen besteht.
Die Marxsche Unterscheidung zwischen dem „Reich der Notwendigkeit“ und dem „Reich der Freiheit“ ermöglicht zunächst eine negative Eingrenzung des Begriffs: Kultur bezieht sich stets auf „das der nackten Notdurft des Lebens Enthobene“. Der Aufsatz nähert sich derart an einen materialistischen Kulturbegriff an, der positiv formuliert alle Aspekte der freien Gestaltung des menschlichen Lebens bezeichnet, die durch die ökonomische Basis und die politische Rahmensetzung zugleich ermöglicht und beschränkt, aber nicht determiniert werden, sondern einer relativen Eigendynamik folgen. Dies schließt Immateriell-Geistiges ebenso mit ein wie die (nicht nur künstlerischen) Werke und Praxen, in denen sich dieses Geistige zwangfrei materialisiert.
Die daher notwendige analytische Offenheit gegenüber jedweder kulturellen Erscheinung schafft einen Raum unbefangenen, verknüpfenden Nachdenkens: Die zu leistende Einordnung von Kulturphänomenen im gesellschaftlichen Kontext schärft im Resultat eine ideologiekritische Reflexionskompetenz, in der das wesentliche gesellschaftskritische Potenzial der Auseinandersetzung mit Kultur zu suchen ist.

Dass das Feld der „Kultur“ im Studium der Sozialen Arbeit seinen festen Platz hat, ist einerseits weithin durchgesetzt. Andererseits besteht zu dieser Tatsache Diskussionsbedarf fort: Nicht nur handelt es sich beim Wort Kultur laut Terry Eagleton (2001:7) um „eines der komplexesten in unserer Sprache“, das laut Rahel Jaeggi (2020:76) „immer unschärfer zu werden droht“ und als solches also weiterhin einer grundsätzlichen Klärung bedarf; es fragt sich zudem, welche Bedeutung Kultur konkret im Kontext der Sozialen Arbeit hat, worin der Gegenstandsbereich der Lehre besteht und ob dieser eine zentrale oder eher marginale Stellung einnimmt. Dies fragt sich umso mehr, seit sich ein enger, auf die Künste begrenzter Kulturbegriff „als obsolet erwiesen“ hat (Hübner 2023:o.S.). Der Bedarf, den Verdacht zu widerlegen, die Befassung mit dem Kulturellen sei bloß schönes Beiwerk, scheint sich nicht ganz erledigt zu haben. Praktische Relevanz erhalten diese Fragen etwa in Bezug auf den Umfang des mit „Kultur–Ästhetik–Medien“ umrissenen Moduls im Sozialarbeitsstudium und hinsichtlich der Frage, wie hierbei auf die spätere Praxis vorbereitet wird: Geht es hierbei primär um die Vermittlung methodisch-konzeptioneller Kompetenzen, die für diejenigen Studierenden notwendig sind, die später kulturelle Projekte in sozialen Handlungsfeldern durchführen, oder geht es viel grundsätzlicher um Orientierungswissen und Reflexionskompetenz, die ohnehin einen zentralen Stellenwert für das Studium der Sozialen Arbeit beanspruchen dürfen? Verfügt das Feld des Kulturellen vielleicht gar über Vorzüge für die Schulung „unbefangenen kritischen Nachdenkens“, die für die Ausbildung von „reflektierten Praktiker/innen“ (Fuchs 2015:10) maßgeblich sind? Hierfür argumentiert der vorliegende Aufsatz.

In der Praxis der Sozialen Arbeit, die ja vielfach als Trägerin Kultureller Bildung in Erscheinung tritt, wird der Stellenwert von Kultur oftmals aus ihrer Funktion für die allgemeinen Ziele Sozialer Arbeit abgeleitet. Dementsprechend handelt es sich hier um „Erziehungsaufgaben“ oder die „Bewältigung von sozialen Problemen“ mit alternativen Mitteln (Hill 2013:o.S.). Wo soziale Probleme mit kulturellen Programmen bearbeitet werden sollen, folgt die Praxis, ob implizit oder explizit, der Bourdieuschen Vorstellung von der potenziellen Umwandelbarkeit von kulturellem Kapital in eine der anderen von ihm konzipierten Kapitalformen (Bourdieu 2007). Kulturelle Bildung soll eine „empowernde“ Wirkung entfalten, wie sich etwa im Namen des BMBF-Förderprogramms „Kultur macht stark“ ausdrückt. Die zu gewinnende Stärke wird damit als notwendig für das Zurechtkommen in der Gesellschaft, für die „Lebensbewältigung“ aufgefasst.

Die äußerst vielfältige Praxis Kultureller Bildung, sofern sie sich diese Ziele zu eigen macht, orientiert ihre Arbeit am Subjekt: Wenn beispielsweise als erlangtes Lernziel am Ende eines Musikprojekts ein gesteigertes Selbstbewusstsein, wenn am Ende eines Bastelworkshops mit gesammeltem Müll ein Nachhaltigkeitsbewusstsein oder wenn am Ende eines Storytelling-Workshops ein gewachsenes Verständnis für Vielfalt stehen soll, dann wird angenommen, dass das Subjekt, das sich kulturell weitergebildet hat, entweder sich selbst in seiner gesellschaftlichen Lage „empowered“ und also vorangebracht und/oder die gesellschaftliche Lage verbessert hat, die umgekehrt als Addition partizipativer Teilbeiträge der Subjekte gedacht wird. Wird diese Praxis wiederum in der Wissenschaft reflektiert, so wird der Gegensatz zum Eigensinn des Kulturellen zumeist bemerkt, um sodann weiterhin die persönlichkeitsbezogenen Transferwirkungen Kultureller Bildung als wünschenswert zu betonen (z.B. Hill 2013). Die Praxisorientierung des Fachs, so scheint es, verleitet auch die theoretischen Überlegungen dazu, sich den Anforderungen der Praxis unterzuordnen. Wenn es aber bereits als ausgemacht gilt, dass das Studium sich unmittelbar konstruktiv auf die Erfordernisse des Praxisfelds zu beziehen hat, dann verbleibt dieses auch in der Logik der bestehenden Praxen und verstellt damit Potenziale, die die Auseinandersetzung mit der Komplexität von „Kultur“ auch für den Kontext Sozialer Arbeit als Wissenschaft aufzuweisen hat.

Die begriffliche Weite des Kulturbegriffs schlägt sich also auch im Begriff der Kulturellen Bildung nieder, den Max Fuchs (2018:883) „in Praxis und Politik […] als eine pragmatische Sammelbezeichnung für unterschiedliche Aktivitäten in verschiedenen Arbeits- und Politikfeldern“ umreißt. Die Heterogenität der Praxis findet laut Fuchs (ebd.:884) ihre Entsprechung in der Weite von Definitions- und Deutungsmöglichkeiten für Kulturelle Bildung. Die mangelnde begriffliche Präzision wird zudem verschärft durch nahestehende und angrenzende Begriffe wie etwa ästhetische Bildung, soziokulturelle Bildung oder Kulturarbeit. Gerade aufgrund dieser Unbestimmtheit beziehen die Fachkräfte ihre berufliche Selbstbeschreibung eher aus ihrem eigenen fachlichen Schwerpunkt, also etwa aus der jeweiligen Kunstgattung wie Musik, Tanz oder Theater. Je nachdem, ob sie den Fokus auf Erziehungs- und Bildungsaufgaben oder auf den künstlerischen Gehalt legen, kann es zudem sein, dass die eigene Arbeit gar nicht mehr als Bildungsaufgabe gesehen wird (ebd.). Nun liegen diese Spezialisierungen auf die einzelnen Kunstgattungen im enggefassten Bereich der Ästhetik, dessen Bestimmung offenbar unproblematischer ist als die des vorgelagerten Begriffs der Kultur. Immerhin deutet das parallele Auftreten beider Begriffe an, dass diese, während zwar die Ästhetik als ein Teilbereich von Kultur verstanden wird, zugleich einen voneinander abgrenzbaren Gehalt aufweisen.

Dieser Aufsatz will einen Beitrag zu einer auch auf kubi-online geführten Debatte leisten und recht grundsätzlich sowie mit gewissen Akzentverschiebungen argumentieren, wie das komplexe Feld der Kultur umrissen werden kann und welche Relevanz es für das Studium hat. Es ergibt sich ein Plädoyer für eine analytische Offenheit gegenüber jedwedem kulturellen Phänomen, dessen Einordnung im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu leisten ist, und für eine daraus zu gewinnende ideologiekritische Reflexionskompetenz, die zum verknüpfenden Denken und zum kritischen Weltverstehen befähigt.

Kritische Reflexionskompetenz statt vorschnelle Praxisorientierung

Damit ist bereits andeutungsweise ein Einspruch gegen eine unmittelbare Praxisorientierung formuliert, die eine Grundproblematik „angewandter Wissenschaften“ ausmacht: Als Wissenschaft verlangt die Soziale Arbeit nach der geordneten gedanklichen Bemühung um Wissensproduktion, um Begriffs- und Theoriebildung zur Erklärung von Gesellschaftsphänomenen, die das Feld der Sozialen Arbeit berühren; als Praxisfeld verlangt sie nach Vermittlung von praktischem Know-how und nach Erlangung eines durch die Berufserfordernisse definierten skill sets, das gewährleisten soll, dass die spätere Praxis vorgabengerecht erfolgen kann. Dieser doppelte Anspruch, sowohl die Leistung eines wissenschaftlichen Studiums als auch die einer praxisorientierten Ausbildung zu erbringen, situiert die Soziale Arbeit 50 Jahre nach ihrer Akademisierung in einem Dazwischen, das auch auf dem Feld der Kultur als „Theorie-Praxis-Problem“ diskutiert wird.

Wird dieses Feld im Sozialarbeitsstudium lediglich als Vorbereitung für diejenigen begriffen, die sich später auf die Kulturelle Bildung als Teilbereich der Sozialen Arbeit spezialisieren wollen, so wird das wesentlich größere Potential des Gegenstands für die Soziale Arbeit nicht ausgeschöpft. Haben etwa Studierende bereits beschlossen, in ihrem späteren Beruf nie einen künstlerischen Prozess anzuleiten oder anderweitige kulturelle Projekte durchzuführen, verleitet der Prüfstein der Praxisorientierung dazu, die Lehrinhalte nur in dem Maße interessant zu finden, wie er ihnen erstens für das Bestehen der Prüfungsleistung und zweitens für die spätere erwartete Praxis als relevant erscheint. Nun ist Studierenden der Drang danach, bloß pragmatisches Spezialwissen zu erlangen und die nötigen Creditpoints zu sammeln, um möglichst schnell in den Beruf zu starten und endlich Geld zu verdienen, statt Studienkredite aufzuhäufen, nicht zu verdenken, da diese Haltung tatsächlich den an sie gestellten Anforderungen entspricht. Die Funktionalisierung des Wissenserwerbs für den Arbeitsmarkt erweist sich als Hemmnis für ein vertieftes Interesse, das anders als intrinsisch nicht zu haben ist. Auch wenn also weder ein Interesse der Lernenden äußerlich hergestellt werden noch die Auswahl von Studieninhalten seitens der Lehrenden am Unterhaltungsgrad ihr Maß nehmen kann, so kann die Wissenschaft zumindest den Stellenwert ihres Gegenstands möglichst widerspruchsfrei herausarbeiten und auf eine Weise offenlegen, die bestenfalls einzuleuchten vermag.

Daraus, dass Wissenschaft nicht einfach eine Gebrauchsanweisung für gesellschaftliche Praxen ist, sondern zunächst und vor allem deren Erklärung, ergibt sich umgekehrt nicht gleich die idealistische Auffassung von Wissen als Selbstzweck. Wissenschaft ist nötig, weil sich dem Menschen die Welt nicht von sich aus erschließt, sondern ihm zunächst als unbekannte gegenübersteht und sich damit als Schranke für die Verfolgung der eigenen Interessen erweist. Marx (1964:825) brachte dies auf den Satz: „[A]lle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen […].“ Als Ziele eines Studiums, in dem es um Kultur geht, wären somit eine Durchdringung des Begriffs von Kultur sowie ein Verständnis alltäglicher kultureller Erscheinungsformen ausgemacht. Wo ein Interesse am Gegenstand besteht, ist das keine Frage; wo es um Wissen nur als unmittelbar verwertbares geht, durchaus: Was nützt das Wissen über das Kulturelle für die Soziale Arbeit?

Max Fuchs (2015:10) begründet die Notwendigkeit von Theoriewissen in dessen Bedeutung für die Praxis und weist damit andeutungsweise das Theorie-Praxis-Problem zurück: „Es geht um die Herstellung einer Reflexionsfähigkeit, die es den späteren Pädagog/innen ermöglichen soll, unter dem in der Praxis üblichen Zeitdruck begründete Entscheidungen treffen zu können.“ Der „Vielfalt der Praxis“ kann ohnehin nicht mit einer „immer wieder geforderte[n] Rezeptesammlung“ begegnet werden. Stattdessen, so ist Fuchs zu verstehen, sei ein Wissen zu vermitteln, das den Einzelnen dazu verhilft, sich eigenständig im jeweiligen Feld zu orientieren, Wissensbestände sinnvoll miteinander zu verknüpfen, um zu professionell begründeten Handlungsentscheidungen zu gelangen. Denn: „Theorie ist kein Rezept. Das Handeln enthält ein Moment, das in der kontemplativen Gestalt der Theorie nicht ganz aufgeht. Und doch kann zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Handeln, eine Art von Notwendigkeit bestehen“, so Max Horkheimer (1981b:65). Einen bloß auswendiggelernten „Methodenkoffer“ instrumentell auf immer individuelle Menschen und Situationen anzuwenden, verfehle damit gar die praktischen Erfordernisse der Sozialen Arbeit. Unmittelbare Praxisorientierung ist damit als in der Praxis hinderlich ausgemacht. Fuchs (2015:10) betont zugleich, „[d]ass eine solche theoretische Berufsvorbereitung in praktischer Absicht nur im Studium geschehen kann“ und hält fest: „Ziel ist also der/die ,reflektierte Praktiker/in‘ als Professionsmodell.“ Laut Fuchs ist die Theorie mithin Bedingung einer gelingenden Praxis. Von Max Horkheimer (1981a:160) wird dieser Gedanke so formuliert: „Nur wer denkt, wer ein gewisses Maß gewollter Passivität sich nicht verkrümmen läßt, kann aktiv sein; das bloße Tun bleibt immer lediglich eine Funktion bestehender, vorgegebener Verhältnisse.“ Wenn es allein um die Funktionalität innerhalb einer bereits vorgegebenen Berufspraxis geht, wird die Möglichkeit zur kritischen Durchleuchtung eben dieser Vorgaben verstellt.

Wird der Theoriebegriff noch weiter gefasst und auf Felder jenseits von Academia bezogen, ließe sich noch grundsätzlicher fragen, welche Handlungen – einschließlich solcher, die in der vom Zeitdruck geforderten Schnelligkeit vollzogen werden, – denn ganz ohne theoretische Vorüberlegung erfolgen. Schließlich erfolgen noch so inadäquat ausgeführte Handlungen aus einer benennbaren Absicht heraus, aus einem Zweck, für den geeignete Mittel gesucht werden. Auch mangelhafte Handlungen, also solche, die sich als Mittel als inadäquat erweisen, weil sie sich um ihren eigenen Zweck bringen, folgen einer theoretischen Vorüberlegung. Es ist gerade die den Menschen vom Tier unterscheidende Eigenart, dass dieser seine Handlungen nicht bloß instinktiv, sondern nach einem zuvor im Kopf gefassten Plan vollzieht:

„Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war“,

so wiederum Marx (1962:193). Theorie und Praxis sind demnach per se aufeinander bezogen, insofern jede bewusst vollzogene Handlung einer wie auch immer gearteten Theorie folgt und eine Theorie sich umgekehrt mit Blick auf die reale gesellschaftliche Praxis plausibilisieren lassen muss. Auch wer nicht in wissenschaftlicher Theorie geschult ist, legt sich eine Theorie vom eigenen Tun zurecht, weswegen es in einem Studium darauf ankommt, die Stichhaltigkeit von Theorien immer wieder zur Disposition zu stellen. Dass sich eine wissenschaftliche Theorie an der tatsächlichen Praxis bewahrheiten muss, meint deswegen etwas anderes als die bloße Brauchbarkeit von Theorien für bestehende praktische Zwecke, sondern hebt zunächst auf die theoretische Durchdringung eben der bestehenden Zwecke ab. Erst dieses Reflexionsvermögen und die Verfügung über Orientierungswissen befähigt dazu, den sich stetig wandelnden Anforderungen der Praxis mündig – und bei Bedarf kritisch ­– gegenüberzustellen: Die Metadebatte, die nach der Berechtigung und dem Wert von kritischen theoretischen Ansätzen fragt, weil diese als „unpraktisch“ für die bestehende Praxis beurteilt und damit disqualifiziert werden, erweist sich mithin als Ideologie, unterbindet diese doch bereits im Keim das Praktisch-Werden einer Kritik, die über konstruktive Anmerkungen hinausgeht. Adorno (2003:130) weist darauf hin, dass auch in die Ideologie des Theorie-Praxis-Gegensatzes „sich ein Reales sedimentiert“ hat: „die Trennung der Kultur vom materiellen Lebensprozeß, schließlich der gesellschaftliche Bruch zwischen körperlicher und geistiger Arbeit“. Damit ist nun die Verständigung über den Kulturbegriff unumgänglich.

Verständigung über den Gegenstandsbereich Kultur

Von „Kultur“ zu reden heißt, von einem ungeheuren Abstraktum zu reden. Nicht nur bezeichnet jede der einzelnen Bedeutungen des Worts für sich genommen etwas Abstraktes; der Versuch, den verschiedenen Kulturbegriffen etwas gemeinsames Allgemeines abzuringen, schwingt sich zwangsläufig auf noch höhere Abstraktionsstufen. Zusätzlicher Klärungsbedarf tritt mit dem Begriff der Kulturellen Bildung auf: Ist es das Kulturelle selbst, das bildet und also zu diesem Zweck den Menschen in Bildungsprozessen zugänglich gemacht werden soll, oder ist es die Bildung über das Kulturelle, die in Bildungsprozessen vermittelt wird? Oder handelt es sich ganz umfassend um „die Veredelung des menschlichen Geistes“, „die Selbst-Kultivierung des Individuums […], dessen Kultur sich von dem Hintergrund abhebt, den die Kultur der Gruppe und der Gesellschaft bildet“, wie T. S. Eliot (1961:21) schrieb? Letzterem Verständnis nach wäre Kulturelle Bildung ein „weißer Schimmel“, da der Bildungsaspekt bereits als in den Kulturbegriff eingeschrieben aufgefasst werden müsste: Bildung wäre zu begreifen „als subjektive Seite von Kultur“ (Hübner 2023:o.S.). Hier wäre weitergehend zu klären, welche menschlichen Naturanlagen das Individuum auf welche Weise zu kultivieren habe (Busche 2018:8f.): welche Aspekte der „Individualkultur“ überlassen bleiben und welche mit dem Subtext der „Gruppenkultur“ in Deckung zu stehen haben. Diese Frage deutet eine moralisch-affirmative Komponente des Kulturbegriffs an: Soll die Selbst-Kultivierung in Einklang mit der „Kultur der Gruppe und der Gesellschaft“ erfolgen, ist damit eine Anpassungsleistung des Subjekts, ein Akt der Selbstdisziplinierung aufgerufen. Dieses normative Kulturverständnis verfolgt das abstrakte Ideal einer „größtmögliche[n] Vervollkommnung der körperlichen und geistigen Anlagen eines Individuums zur harmonischen Ganzheit“ (ebd.:11), wobei aber das Telos dieser Vervollkommnung inhaltlich weiterhin unbestimmt bleibt.

Zur Verständigung über den Kulturbegriff hat sich die Rede von mehreren, voneinander verschiedenen, aber doch zusammenhängenden Kulturbegriffen herausgeprägt: Statt der theoretischen Bemühung um eine zu gelingende Vereinheitlichung des Begriffs gewinnt der Begriff seine Aussagekraft nur in den je konkreten Kontexten, in denen er auftaucht und in denen dieser einen je spezifischen Gehalt besitzt. In der Wissenschaft werden je nach Fachrichtung und Forschungsinteresse spezifische Aspekte des Begriffs in den Blick genommen (Busche 2018:3). Insofern ist im Folgenden T. S. Eliots Wunsch (1961:123) zu entsprechen, „daß jeder, ehe er das Wort gebraucht, wenigstens prüfend erwägt, was es für ihn bedeutet – allgemein und in jedem besonderen Zusammenhang.“ Dabei bleibt es nicht aus, diesen Kulturbegriff von anderen Begriffskonzeptionen abzugrenzen.

Im Kontext der Sozialen Arbeit und der Kulturellen Bildung hat sich die Rede vom „weiten Kulturbegriff“ durchgesetzt (Fuchs 2013). Wenn dieser weite Begriff von Kultur aber nicht beliebig ausweitbar und damit unspezifisch werden soll, verlangt dieser nach einer Abgrenzung nach zwei Seiten hin: Zur einen Seite hin grenzt sich der weite von einem engen Begriff ab, zu dem die Kunst mit all ihren Gattungen, Philosophie, manchmal auch Wissenschaft und Religion gezählt werden (Busche 2018:20). Kultur bildet dann „ein Subsystem unter vielen […] und taucht in der Soziologie dann entweder als ,Kulturindustrie‘ (Adorno), ,kulturelles  System‘  (Parsons)  oder  als  ,künstlerisches  Feld‘ (Bourdieu) auf“ (Moebius 2020:22). Es ist jedoch zu betonen, dass dieses enge Verständnis nicht so eng zu fassen ist, dass es allein das meint, was als „Hochkultur“ bezeichnet wird, also eine exklusive Sphäre mit Distinktionswert, sondern dass hierunter gleichermaßen Sämtliches fällt, was als Popkultur – oder abwertend: als Kulturindustrie oder Massenkultur – bezeichnet wird.

Auch zur anderen Seite hin bedarf der weite Kulturbegriff eine Klärung seiner Grenzen, denn die Weite kann nicht endlos sein, soll der Begriff überhaupt noch etwas Umreißbares benennen. Der weiteste, holistische Begriff von Kultur bezieht sich auf „die gesamte menschliche Lebensweise“ (Reckwitz 2000:75) und ist mit dem der Zivilisation synonym. Hierunter fällt grundsätzlich alles vom Menschen Geschaffene, wodurch sich ein dialektischer Bezug auf den Naturbegriff ergibt, der nicht einfach als Gegenbegriff zur Kultur zu denken ist (Busche 2018:5): „Natur bringt Kultur hervor, die Natur verändert“ (Eagleton 2001:9). Kultur ist demnach alle menschliche Arbeit an der Natur und erhält von der Natur sowohl die Materialien dieser Arbeit wie diese dem kulturell Erschaffbaren – aufgrund der Natureigenschaften der Materialien – Grenzen setzt. Diesem weitest denkbaren Begriff nach spaltet sich die Geschichte auf in eine „Naturgeschichte des Menschen, die den Gesetzen der (biowissenschaftlich) verstandenen Evolution gehorcht, und einer Kulturgeschichte des Menschen, bei der der Mensch seine Geschichte selbst macht und aus den Gesetzen der Evolution ausbricht“ (Fuchs 2013:o.S.). Dieser dialektische Grunddualismus verweist zudem auf die Notwendigkeit von Kultur: Die „,natürliche‘ Ausgangssituation“ des Menschen – anders als die von instinktgeleiteten Tieren – bedarf dessen Ausstattung mit Bewusstsein und Wille sowie der Fähigkeit, sich rational urteilend und – auf Grundlage seiner theoretischen (!) Urteile – praktisch agierend auf die Natur zu beziehen. Die Kultur, so ließe sich paradoxal zuspitzen, entspricht der Natur des Menschen: „Der Mensch gehört nicht in die Wildnis / Das ist wider die Natur / Der Mensch gehört in eine Wohnung / Auf eine Sofagarnitur“, so heißt es in einem Song der Wiener Rockband Kreisky.

Der von diesem weitesten, holistischen Kulturbegriff beschriebene Gegenstand liefe auf eine „Wissenschaft von allem“ heraus. Der zu suchende Kulturbegriff verlangt daher zunächst eine negative Bestimmung: Er ist abzugrenzen von dem, was er nicht beschreibt. Hierfür ist der Hegelsche Begriff der bestimmten Negation instruktiv, der einen Bewusstseinsprozess meint, „in dem das Resultat des Widerspruchs nicht bloß Nichts ist, sondern einen neuen Gegenstand bildet“ (Jaeschke 2016:170). Das Resultat dieses Denkprozesses ist daher weder „ein leeres Nichts“ noch ist es etwas vollkommen Neues, sondern ist „als Nichts desjenigen, dessen Resultat es ist“, aufzufassen: „ein Resultat, welches das enthält, was das vorhergehende Wissen Wahres an ihm hat“ (Hegel 2020:79f.). Eine negative Charakterisierung von Kultur findet sich bei Theodor Adorno (2003:124), der in seinem Radioessay „Kultur und Verwaltung“ sagt: „Zunächst wird man das Simple festhalten müssen, daß das spezifisch Kulturelle eben das der nackten Notdurft des Lebens Enthobene ist.“ Kultur ist demnach im negativen Sinne alles das, was Menschen tun, wenn es nicht mehr um materielle Lebensnotwendigkeiten geht, es ist das „über das System der Selbsterhaltung der Gattung Hinausweisende“ (ebd.:131). Deckungsgleich bezeichnete Horkheimer (1981c:56) Kultur als „die außerökonomischen Bezirke“. Kultur wird damit Gegenbegriff von Zivilisation.

Auch in Rahel Jaeggis Theorie der Lebensformen findet sich dieser Gedanke wieder. Sie nennt den Kulturbegriff den „vielleicht nächste[n] und wichtigste[n] Verwandte[n] des Lebensformbegriffs“, welchen sie aber dem Kulturbegriff aufgrund dessen zunehmender Unklarheit vorzieht (Jaeggi 2020:76). Sowohl für den Kultur- als auch den Lebensformbegriff gilt, dass sich diese „nicht auf das ,bloße Überleben‘, sondern immer schon auf ein spezifisches, immer schon so oder so gestaltetes Leben“ beziehen (ebd.:204). Das Kulturelle folgt demnach nicht einem durch eine politische Herrschaft oder durch ökonomische Zwänge vorgegebenen Diktat, sondern bezieht sich auf eine nicht durch Politik und Ökonomie determinierte Sphäre der Gestaltung des Lebens, der gegenüber sich der liberale Rechtsstaat enthaltsam verhält. Sie stellt daher die Suggestivfrage: „Steht nicht ein viel euphorischeres, positiv gefasstes und auch nicht weiter begründetes ,so wollen wir leben‘ und nicht ein ,so müssen wir eben leben‘ hinter der Affirmation bestimmter Lebensformen?“ (ebd.:206) Um ein Beispiel zu geben: Die kapitalistische Organisation von Arbeit als Lohnarbeit ist keine kulturelle Frage, wohl aber Fragen der Gestaltung von Arbeitsformen wie die Arbeit im Home Office, die Einrichtung eines Jour fixe oder der Kickertisch im Besprechungsraum, die als Phänomene gegenwärtiger Arbeitskultur beschrieben werden können. Diese Phänomene haben keine Notwendigkeit, die sich aus dem Wesen der Lohnarbeit ableiten ließe, sind zugleich aber nicht einfach willkürlich, sondern mögliche Gestaltungsweisen im Umgang mit dem Zwang zur möglichst effizienten Arbeitsorganisation.

Sowohl bei Adorno als auch bei Jaeggi klingt eine Unterscheidung an, die schon von Karl Marx (1964:828) formuliert wurde:

„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. […] Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“

Zwar erhält der Kulturbegriff bei Marx keine eigenständige Befassung, nicht zuletzt weil dieser im 19. Jahrhundert noch nicht im heutigen Gebrauch geläufig war (Moebius 2020:17), doch erweist sich der Ausdruck „Reich der Freiheit“ als deckungsgleich mit dem negativen Kulturbegriff: Dem Reich der Freiheit kann sich eine Gesellschaft erst zuwenden, wenn das Reich der Notwendigkeit bestellt ist, wenn also die materiellen Güter produziert sind, die eine Gesellschaft für ihre Reproduktion benötigt. Marx weist hier darauf hin, dass der Mensch erst, wenn er möglichst viel Zeit für das Reich der Freiheit gewonnen hat, dazu kommt, selbstzweckhaft seine Potenziale zu entfalten. Dies ließe sich so zuspitzen: Im Reich der Notwendigkeit muss der Mensch produktiv sein, im Reich der Freiheit kann der Mensch kreativ werden. Dies lässt sich zudem als Anklang an den von Marx rezipierten Friedrich Schiller (2005:355) deuten, der in einem der berühmtesten Sätze aus seinen Ästhetischen Briefen sein idealistisches Menschenbild so formuliert: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Bei Schiller wie bei Marx ist bereits mit der Lokalisierung der Sphäre des Kulturellen eine grundlegende Gesellschaftskritik verbunden: Ist der Mensch die meiste Zeit seines wachen Lebens für die Arbeit im Reich der Notwendigkeit eingespannt, so wird ihm seine nur im Spiel zu realisierende Entfaltung zum „ganzen Menschen“ erschwert oder sogar versagt.

Die Sozialarbeitspraxis wirkt im und für das Reich der Notwendigkeit: Sie tritt als staatlich organisierte Hilfestellung für diejenigen auf, die sich in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft nicht eigenständig behaupten können. Diese Gesellschaftsform verfährt nämlich gerade nicht so, dass sie erst das Reich der Notwendigkeit so organisiert, dass für all ihre Mitglieder die Lebensnotwendigkeiten gedeckt sind, um dann, nämlich wenn diese Arbeit verteilt und getan ist, das Reich der Freiheit zu eröffnen, sondern sie macht die Zugänge zum Reich der Freiheit von der Verfügung über das Geld und die Zeit abhängig, die dafür nötig sind und die in einem üblichen Lohnarbeitsdasein notwendigerweise miteinander konfligieren. Insofern diese Zugänge Resultate der Konkurrenz und Selektion im Bildungswesen und in der Berufswelt sind, bringt diese Gesellschaft keineswegs zufälligerweise Menschen hervor, die – um mit den Bourdieuschen Begriffen zu sprechen – weder über das „ökonomische Kapital“ verfügen, um ohne Unterstützung ihre basalen Lebensbedarfe zu finanzieren, noch über das „kulturelle Kapital“, das die zumindest einigermaßen gedeckten Lebensbedarfe sowie einen bereits erlangten Grad an kultureller Bildung zur Voraussetzung hat.

Hier tritt die Soziale Arbeit auf den Plan, die per definitionem „Menschen so [befähigt und ermutigt], dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen“ (DBSH 2016). Sie behandelt ihre Klient*innen als Einzelfälle, denen Unterstützung bei der „Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung“ (ebd.) zuteilwird. Mona-Sabine Meis und Georg-Achim Mies (2018:40) plädieren in diesem Sinne dafür, dass die Arbeit mit den Künsten den allgemeinen sozialarbeiterischen Zielen Selbstbildung, Empowerment und Selbstermächtigung zu dienen hätte und daher in ihren Inhalten und Methoden an diesen Zielen auszurichten sei. Die künstlerische Eigendynamik ist demnach insoweit von Interesse, als sie Transferwirkungen erzielt, die sozialarbeiterisch erwünscht sind. Die Kunst wird hier also – dem Verständnis und Anspruch nach – ihr zunächst äußerlichen Zwecken untergeordnet. Mit den Marxschen Begriffen gesprochen gewinnt das Reich der Freiheit diesem Verständnis nach insoweit an Relevanz, als die dort erworbenen Kompetenzen für das Reich der Notwendigkeit nützlich gemacht werden können. Diese Tendenz der Verzwecklichung der ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit wird zusätzlich verschärft durch das Problem der Finanzierung. Burkhard Hill (2013:o.S.) verortet einen Wandel in den 1990er Jahren, als die Soziale Arbeit angesichts der Krise der öffentlichen Haushalte unter Druck geriet, ihre Angebote entsprechend der Logik standardisierter Prozesse zu organisieren. Als Konsequenz mussten alle Angebote, Methoden, Maßnahmen und Ergebnisse bereits vorab klar entlang der äußeren Zielformulierungen definiert werden. Ein ergebnisoffenes Experimentieren, welches ja die Voraussetzung für jedes Kunstschaffen wäre, ist unter derartigen Bedingungen erheblich erschwert.

Einerseits also liegt die Komplexität des Kulturbegriff in der Kontingenz von Kultur begründet, andererseits lässt sich anhand der Identifizierung von Kultur als Reich der Freiheit ein Auseinanderfallen von Begriff und Wirklichkeit, von Zweckfreiheit und Verzwecklichung aufzeigen: Der weite Kulturbegriff stiftet einen Sammelbegriff für sämtliche Erscheinungen und Praxen, die nicht durch gesellschaftliche Zwänge vorgegeben sind; die Unterordnung unter Ziele Kultureller Bildung jedoch bettet ihn reell in die gesellschaftlichen Zwänge ein, die in seinem Begriff zunächst nicht enthalten sind. Für die Befassung mit Kultur ist dies zu berücksichtigen.

Mit dem so weit Gesagten ist implizit ein Einspruch gegen eine allzu große Ausweitung des Kulturbegriffs formuliert: In der Nachfolge von Herder und Fichte wurden nämlich die unterschiedlichsten Lebens- und Geistesformen wie die Wirtschaftsweise, Rechtspflege, Religion usw. – im Sinne einer ganzen Kultur eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit – in den Kulturbegriff integriert, um so das Besondere und Individuelle einer Kultur herauszustellen, sodass überhaupt von einer Kultur im Unterschied zu anderen Kulturen gesprochen werden kann (Busche 2018). Es handelt sich somit um einen nationalen Kulturbegriff, der als in sich geschlossene Totalität nach Art eines „Organismus“ gedacht wird und der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommt, um die Vorstellung vom „Wesen“ eines Volkes zu konstituieren und damit eine quasi natürliche nationale Einheit zu propagieren. Diese Bedeutung ist daher im politischen Diskurs relevant, etwa in der heutzutage verpönten Rede von einer „Leitkultur“, an die sich Hinzukommende anzupassen hätten. Terry Eagleton (2001:40) beobachtet daher im historischen Blick zurecht, dass „Kultur […] in dem Augenblick geistige Bedeutung [erlangt], wo sie politisch zu einem relevanten Faktor wird.“ Ein Nachhall dieses Kulturkonzepts findet sich etwa in gegenwärtigen kulturalistischen Argumentationsmustern oder in der Erhebung von kultureller Identität zu einem abstrakten Wertbegriff.

Mit der Identifizierung von Kultur als Reich der Freiheit sind die Bereiche Wirtschaftsweise und Rechtspflege aus dem Bereich des Kulturellen auszugrenzen. Schließlich ist es gerade das Recht, das der Staat sich gibt, welches die Wirtschaftsweise und damit das „Reich der Notwendigkeit“ definiert und dessen Durchsetzung auf der materiellen Gewalt beruht, die der Staat bei sich monopolisiert. Insofern geht der Kulturbegriff nicht einfach im Marxschen Begriff des „Überbaus“ auf, zu dem dieser sowohl die rechtlichen und politischen Einrichtungen als auch die ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen zählt, die sich oberhalb der „realen Basis“ der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse erheben (Marx 1961:8). Nur insofern Politik und Recht aus dem Begriff des Überbaus ausgegliedert werden, ergibt sich eine Entsprechung zu den beiden Reichen, dem der Freiheit und dem der Notwendigkeit. Auch Hubertus Busche (2018:20) vertritt die Auffassung, dass der Kulturbegriff, auch wenn dieser nicht im engen Sinne bloß Kunst und Philosophie meint, „oberhalb des bloß Zivilisatorischen, Politischen, Wirtschaftlichen und Technischen“ situiert ist. Die Lokalisierung in einem Bereich oberhalb des materiellen Lebensprozesses und dessen gesetzlicher Verfasstheit verweist darauf, dass das Kulturelle nicht durch die unterhalb befindliche Basis determiniert wird, sondern einer freien Eigendynamik folgt.

Doch handelt es sich nicht um unbegrenzte Freiheit: Die Nicht-Determiniertheit des Kulturellen bedeutet nicht, dass dessen Erscheinungen von der sie ermöglichenden und begrenzenden Grundlage unabhängig und also willkürlich sind. Jens Kastner (2016) schreibt daher zutreffend von der „relativen Eigengesetzlichkeit der Kultur“. Die Basis steckt den Rahmen der Freiheit ab, innerhalb dessen wiederum nicht vorgegeben ist, welche kulturelle Formen die Menschen hervorbringen (Loidolt 2023:170). Raymond Williams (1977:187) bringt dies in das Bild: „Der Klavierbauer ist also die Basis, der Pianist der Überbau.“ Der Pianist kann nur auf einem vormals gebauten Klavier spielen, doch was er darauf spielt, steht ihm frei, soweit es in dem durch das Instrument gesetzten Rahmen spielbar ist. Dies erklärt auch, warum das Kunst- und Kulturschaffen in dieser Gesellschaft das wesentliche Feld der Selbstverwirklichung ist: Die Praxis, dem (künstlerischen) Material im Akt der freien Gestaltung die ganz eigenen Bestimmungen aufzudrücken, ermöglicht den Schaffenden die Erfahrung, sich im eigenen Werk wiederzuerkennen, mit Hegel gesprochen: „als freies Subjekt auch der Außenwelt ihre spröde Fremdheit zu nehmen und in der Gestalt der Dinge nur eine äußere Realität seiner selbst zu genießen“ (Hegel 2017:51). Dies steht der Erfahrung der Entfremdung, die aus der üblichen Organisation von Arbeit als Lohnarbeit hervorgeht, d.h. von Arbeit nach heteronomen Vorgaben, diametral entgegen (Henning 2015:113).

Der Kulturbegriff verweist somit auf den Aspekt der freien Gestaltung: einer freien Gestaltung innerhalb vorgegebener Grenzen. Anders gesagt: Der Kulturbegriff bezieht sich darauf, wie die Menschen leben wollen, innerhalb der Möglichkeitsräume, die konturiert sind dadurch, wie die Menschen leben müssen. Das bedeutet einerseits, dass kulturelle Phänomene nicht zwangsläufig von überzeitlicher Dauer sind oder universell gültige Merkmale tragen (Moebius 2020:23), andererseits aber erhalten sie ein „Beharrungsmoment, das mit der Gewohnheitsbildung einhergeht, aus dem Überspringen von Reflexion“ (Jaeggi 2020:123). Darin, diese übersprungene Reflexion nachholend stattfinden zu lassen, liegt die wesentliche Relevanz, kulturelle Phänomene wissenschaftlich zu analysieren, also ihrer Gewöhnlichkeit das Gewöhnliche zu nehmen und sie derart auf den Prüfstand zu stellen. Rahel Jaeggi unternimmt dies anhand ihrer Formkritik der Lebensformen. Für diese gilt im Besonderen, was für Kultur im Allgemeinen gilt: dass sie als Bereiche, in die sich Wirtschaft und Staat nicht einmischen, vom Willen der Menschen abhängig sind und von einem gemeinsamen „durch Interpretation gestiftete[n] Zusammenhang“ abhängen, durch den bestimmte Praktiken erst als solche verstehbar werden (z. B. „das Versteckspiel als Spiel, das gemeinsame Abendessen als Ausdruck familiärer Geborgenheit“; ebd.:106f.). Hier ergeben sich Korrespondenzen zum bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff, wie ihn Andreas Reckwitz (2000:84) mit Rekurs auf Ernst Cassirer (2007) konzipiert hat:

„Kultur erscheint vielmehr nun als jener Komplex von Sinnsystemen oder – wie häufig formuliert wird – von ,symbolischen Ordnungen‘, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken.“

Kerstin Hübner (2023:o.S.) zählt als Elemente des weiten Kulturbegriffs treffenderweise „Visionen, Narrative, Lebensstile, aber auch Denken, Kommunikation und Kunst“ auf. So taucht in der gegenwärtigen Theorie erneut auf, was Marx als die „Bewusstseinsformen“ bezeichnete, jedoch ohne die kritische Akzentuierung, die Marx ihrem legitimatorischen Gehalt zuwies: Der zumeist wertfrei gebrauchte Begriff des Narrativs hat seine Entsprechung im kritischen Begriff der Ideologie.

Ausgehend vom negativen Kulturbegriff, demnach Kultur das Jenseitige von Zwang und Notwendigkeit bezeichnet, lässt sich nun als positiv formulierbarer Begriff ein Verständnis von Kultur benennen, das alle Aspekte der freien Gestaltung des menschlichen Lebens bezeichnet, die als solche vom Bewusstsein der Menschen abhängen, insofern sie nicht durch die unabhängig vom Willen der Menschen existierenden, herrschaftlich gesetzten politökonomischen Zwänge verunmöglicht werden. Dieses Verständnis schließt Immateriell-Geistiges ebenso mit ein wie die (nicht nur künstlerischen) Werke und Praxen, in denen sich dieses Geistige materialisiert.

Kultur zwischen Kritik und Affirmation

Die Analyse kultureller Erscheinungen hat somit deren „relative Eigengesetzlichkeit“ (Kastner 2016) zu berücksichtigen. Die Akzentuierung der Eigengesetzlichkeit betont die Freiheit der Bewusstseinsformen wie derer Manifestationen und Praxen; die Akzentuierung ihrer Relativität dagegen betont die Bezogenheit auf ihre materielle gesellschaftliche Grundlage, deren Analyse erst die kritische Beurteilung von Bewusstseinsformen als ideologisch ermöglicht. So bemerkt Sigmund Freud (1953:129) in seinem Essay Das Unbehagen in der Kultur, dass Bewusstseinsformen sowohl als „höchste Leistung des Menschengeistes“ als auch „als Verirrungen“ beurteilt werden können, dass ihr Vorhandensein in jedem Fall aber „einen Hochstand der Kultur“ bedeuten. Die Freiheit des Kulturellen bedeutet somit einerseits den Gewinn an gestaltbarem Leben und ein Raum „unbefangenen kritischen Nachdenkens“ (Fuchs 2015:10), andererseits und zugleich die Einladung zu ideologischen Irrungen und Wirrungen. Der Kulturbegriff erhält damit eine Ambivalenz, die ihn als abstrakten Wert ungeeignet macht, ja vielmehr dessen Idealisierung selbst schon als Ideologie entlarvt: Kulturelle Phänomene bedürfen mithin einer kritischen Beurteilung im Einzelnen. Um diese Beurteilung wissenschaftlich fundiert vornehmen zu können, ist die anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Ideologietheorie als einem bedeutenden, jedoch gegenwärtig stark vernachlässigten Teil des Studiums von Kultur ausgemacht.

Tatsächlich zeigt sich, dass sich an der Frage der Beurteilung von Kultur als kritischer Haltung oder als Sphäre affirmativer Harmonisierung eine langanhaltende Kontroverse auftut. Erstere Linie steht in der Nachfolge von Schiller, bei dem das Kulturelle (und konkret das Ästhetische) emanzipatorisch gedacht wird:

„Sie prägt die menschlichen Subjekte nach den Bedürfnissen eines neuartigen Gemeinwesens, indem sie sie von Grund auf umformt und zu gelehrigen, gemäßigten, hochgesinnten, friedliebenden, versöhnlichen und interesselosen Trägern dieser neuen politischen Ordnung macht.“ (Eagleton 2001:16)

Diese Leistung des Ästhetischen ist bei Schiller (2005:378) jedoch nicht an spezifische, ästhetisch vermittelte – etwa: ethische – Inhalte gebunden, sondern ergibt sich aus der Form des Kunstwerks, „denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt.“ Auch Schiller kommt es wesentlich auf den Aspekt der Gestaltung an, der eine Rezeptionshaltung, „eine mittlere Stimmung“, schafft, „in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken“ (ebd.:371). Das Ästhetische provoziert derart die „Selbsttätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit“, sodass „der physische Mensch so weit veredelt“ wird, „daß nunmehr der geistige sich nach Gesetzen der Freiheit aus demselben bloß zu entwickeln braucht“ (ebd.:381). Die triebhaft-animalische und die geistig-rationale Seite des Menschen werden so zunächst im einzelnen Individuum harmonisiert, welches durch die „Veredlung des Charakters“ in der Folge dazu befähigt wird, sich in einer Gemeinschaft zu verbinden, die die „barbarische[] Staatsverfassung“ abschüttelt und eine „Verbesserung im Politischen“ bewirkt (ebd.:328). Kunst, so fasst Eagleton (2001:27) dies zusammen, wurde so als „Muster des guten Lebens“ begriffen, „nicht indem sie es darstellte, sondern indem sie sie selbst war“.

Auch bei Adorno (1977, 338) bleibt dieses Kulturverständnis zentral. Er betont jedoch, dass das von Schiller akzentuierte Potenzial sich nur verwirklicht, insofern Kultur „nicht bloß den Menschen zu Willen“ ist, sondern deren Bewusstsein kritisiert, welches sie in Einverständnis zu den „verhärteten Verhältnisse[n]“ setzt. Terry Eagleton (2001:19f.) polemisiert, Kultur sei diesem vorrangig deutschen Verständnis des 19. Jahrhunderts nach „eine viel schwerblütigere Sache – nicht auf fröhlichem Du und Du mit der Welt, sondern kritisch und geistig hochfliegend.“ Kulturelle Manifestationen sind demnach nicht nur dazu in der Lage, sondern dazu berufen, durch einen verstörenden Charakter die Logiken der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse utopisch zu transzendieren. Erst unter den Bedingungen der Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts, so Adorno, wurden kulturelle Produkte „durch und durch“ zu Waren, die die Menschen in diese Verhältnisse „eingliedern“ und dadurch „entwürdigen“. Mit der Vorherrschaft der Kulturindustrie über die Kultur ergibt sich laut Adorno der Affirmatismus des Kulturellen, der die Menschen zur Zustimmung zu den gesellschaftlichen Umständen verleitet, die ihnen eigentlich schaden.

Herbert Marcuse dagegen prägte schon zuvor den Begriff der „affirmativen Kultur“, deren Genese er früher ansetzt als mit der Entstehung der Kulturindustrie. Es geht ihm um eine grundsätzliche Kritik der bürgerlichen Kultur, die er dadurch kennzeichnet, dass sie höhere moralische Werte propagiert, die eine eigentlich bessere und daher zu bejahende Welt behaupten, „welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ,von innen herʻ, ohne jene Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann“ (Marcuse 1970:63). Das Seelenleben, in der diese reell negierte, bessere Welt nur existiert, wird so „der einzige noch nicht befleckte Garant der bürgerlichen Ideale“ (ebd.:76). Die Kultur ermöglicht so dem Individuum einen moralischen Selbstgenuss, eine innerliche Erfüllung bei gleichzeitig infrage gestellter äußerer Erfüllung (ebd.:91). Dies führt dazu, dass sich das „seelenvolle Individuum“ umso bereitwilliger seinen Daseinsbedingungen unterwirft: „Es behält ja den ganzen Reichtum seiner Seele doch für sich und kann sich tragisch und heroisch verklären“ (ebd.:94). Paradoxerweise verleitet also gerade die reelle Nicht-Gültigkeit der vertretenen moralischen Werte im Äußeren zur umso festeren inneren Überzeugung ihrer eigentlichen Gültigkeit.

Aus dieser affirmativen Leistung von Kultur erwägt Terry Eagleton (2001:14) die Bedeutung, die Kulturelle Bildung für den Staat hat, der sie veranstaltet:

„Wenn der Staat gedeihen soll, muß er seinen Bürgern die richtige geistige Verfassung einpflanzen […]. In einer Zivilgesellschaft leben die Individuen, von antagonistischen Interessen getrieben, in einem Zustand chronischen Widerstreits; der Staat aber ist jenes transzendente Reich, in dem diese Teilungen harmonisch miteinander versöhnt werden können. […] Kultur ist eine Art von sittlicher Pädagogik, die aus uns taugliche Staatsbürger macht, indem sie das ideale oder kollektive Selbst befreit, das in jedem von uns schlummert, ein Selbst, das seine höchste Darstellung im universalen Reich des Staates findet.“

Anders also als Schiller im Sinn hatte, der davon ausgegangen war, dass ästhetisch-kulturell gebildete Individuen in die Lage versetzt sind, sich aus Herrschaftsbeziehungen zu befreien und ein emanzipiertes Gemeinwesen zu konstituieren, betont Eagleton hier die affirmative moralische Bildung durch das Kulturelle, die – im Sinne Marcuses – auf eine innere Befriedung real unangetasteter gesellschaftlicher Antagonismen hinausläuft und damit auf eine Zustimmung zum Staat und zur eigenen Unterwerfung. Das moralisch Allgemeine erhält seine reelle Instanz im Staat, der damit zugleich als Verwirklichungsinstanz eigener Moralvorstellungen – wenn auch mitunter kritisch – adressiert wird. Darin steckt zugleich eine Verkehrung, die darin besteht, dass Kultur über Politik erhoben wird und dass es darum ginge, „erst Mensch und dann Bürger zu sein“ (ebd.:15), während es tatsächlich politische Interessen sind, die über kulturelle herrschen.

Unbefangen ausgesprochen wird dies etwa seitens des Politikwissenschaftlers Joachim Detjen (2009:o.S.), der sich skeptisch zur Frage positioniert, ob die Kulturelle Bildung einen Beitrag zur politischen Bildung leisten könnte. Politische Bildung, so Detjen unverhohlen, verdanke sich „letztlich einem genuin staatlichen Anliegen“: Es geht darum, mündige Bürger hervorzubringen, die sich ihrem Staat gegenüber treu verhalten. Dieses Bewusstsein tief zu verankern, sei ein rationaler Akt und daher über die affektiven oder emotionalen Wirkungen des Kulturellen nicht zuverlässig genug herzustellen. Dagegen schließt Kerstin Hübner (2023:o.S.) in Bezug auf ihre Analyse des auf kubi-online geführten Diskurses, dass das kritische politische Potenzial der Kulturellen Bildung nicht voll ausgeschöpft werde und noch zu oberflächlich bleibe:

„Obwohl gesellschaftliche Fragen verhandelt werden, fehlt i.d.R. eine gesellschaftspolitische und insbesondere eine gesellschaftskritische Perspektive, die über das Einzelthema hinausweist. Obwohl einzelne Sparten ihre spezifische Wirksamkeit aufzeigen können, mangelt es i.d.R. an einer Kontextualisierung in übergreifende Diskurse. Wichtige inhaltlich-methodische oder auch akademische Debatten laufen so Gefahr, einem Rückzug in die Fachlichkeit und der Selbstreferenzialität Vorschub zu leisten.“

Die Lokalisierung der Sphäre des Kulturellen im Allgemeinen wie die je im Besonderen zu leistende Einordnung kultureller Phänomene im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang hat zwangsläufig auch die politische Signifikanz des Gegenstands aufzudecken, insofern sich die Analyse beider Seiten von Kultur zu widmen hat: einerseits Eigengesetzlichkeit, Kontingenz, Gestaltung, Freiheit; andererseits Relativität, Basisgebundenheit, Begrenztheit. Im analytischen Zusammentreffen beider Seiten ergibt sich eine ideologiekritische Bildung, die kritisches Weltverstehen jenseits rein fachspezifischer Diskurse ermöglicht. Anders gesagt: Die wissenschaftliche Befassung mit dem „Reich der Freiheit“ hat kritisch dessen Ermöglichung und Begrenzung durch die Einrichtungsweise des „Reichs der Notwendigkeit“ aufzudecken. Verbleibt die Betrachtung bei isolierten Phänomenen, um so die Grenzen der eigenen Wissenschaftsdisziplin zu wahren, wird nicht nur der Gegenstand nicht adäquat erfasst; zugleich verstellt der „Rückzug in die Fachlichkeit“ dann die „gesellschaftspolitische und […] gesellschaftskritische Perspektive“ (Hübner 2023:o.S.).

Paradox ausgedrückt: Eine Wissenschaftsdisziplin, die sich in der Befassung mit Kultur strikt disziplinär verhält, torpediert sich selbst. Der Stellenwert von Kultur im Studium der Sozialen Arbeit liegt also gerade auch in der Widersinnigkeit, Kultur rein sozialarbeitsimmanent zu behandeln: „Durch die Spezialisierung der Leistung geht jedes Bild des Ganzen verloren“, so Georg Lukács (1979:199). Ob die Auseinandersetzung ihren thematischen Ausgangspunkt an einem aktuellen Musikstück, einem anerkennungsheischenden Instagram-Posting, eigenen Theaterexperimenten, einer Podcast-Analyse, kursierenden Verschwörungstheorien oder der Ridikülisierung Armutsbetroffener im sogenannten „Trash-TV“ nimmt – stets hat die Analyse der immanenten Spur des Gegenstands zu folgen, die letztlich auf „übergreifende Diskurse“ führt. Die Sphäre des Kulturellen wäre damit prädestiniert dafür, das von Lukács kritisierte, durch die spezifisch kapitalistische Arbeitsteilung bewirkte fragmentierte Bewusstsein der Menschen von ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit aufzubrechen, das sich auch in der disziplinären Praxis bürgerlicher Wissenschaften niederschlägt. Mit Horkheimer (1981c:56) gesprochen gilt Kultur dann nicht bloß „als feiertägliche Abteilung“, sondern beschreibt ein Feld, auf dem es „auf die strenge Arbeit des Begriffs, auf seine kritische, verändernde soziale Funktion ankomme.“ Insofern die Veränderung der vorgefundenen politischen und ökonomischen Grundlagen ein gewandeltes Bewusstsein von ihnen zur Voraussetzung hat, das sich nicht länger durch ihr Sein bestimmen lässt, ist das Feld der Kultur als ein doppeltes zu behandeln: als ein Feld der Kritik affirmativer Ideologien („so müssen wir eben leben“) und als ein Feld, auf dem die Gestaltung emanzipierter Lebensformen gedanklich vorweggenommen werden kann („so wollen wir leben“).

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Philipp J. Wulf (2024): Die außerökonomischen Bezirke: Über den Stellenwert von Kultur im Studium der Sozialen Arbeit und darüber hinaus. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/ausseroekonomischen-bezirke-ueber-den-stellenwert-kultur-studium-sozialen-arbeit-darueber (letzter Zugriff am 20.07.2024).

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