Ausbildung für inklusive Kulturelle Bildung
Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft
Menschen mit Behinderung haben in der Bundesrepublik das Recht auf gesellschaftliche Inklusion, das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am kulturellen Leben und auf Kulturelle Bildung. Zentrale Bezugstexte sind das Sozialgesetzbuch IX von 2001 und die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 vom Bundestag ratifiziert wurde. § 55 des SGB IX regelt die „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“. Leistungen sind „Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen (SGB IX:§ 55 Abs. 3) und „Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (SGB IX:§ 55 Abs. 7). Die UN-Behindertenrechtskonvention formuliert in Artikel 30 Abs. 2: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“
Beiden Texten implizit ist das Wissen darum, dass Teilhabe (siehe Larissa von Schwanenflügel/Andreas Walther „Partizipation und Teilhabe“) und Inklusion nicht nur gesellschaftlich gewollt, sondern auch bewusst gestaltet sein müssen. Wichtige Voraussetzungen zur Gestaltung des Rechtes auf Kulturelle Bildung von Menschen mit Behinderung sind die Ausbildung derjenigen, die für und mit Menschen mit Behinderung in allen Bereichen der Pädagogik und Rehabilitation arbeiten, die Ausbildung von Menschen in künstlerischen Berufen für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung und die Ausbildung von Menschen mit Behinderung selbst. Im Folgenden werden Grundstrukturen der akademischen Ausbildungsgänge für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung aufgezeigt, in denen die Aspekte Kultureller Bildung explizit und implizit berücksichtigt werden.
Zur Entwicklung von Ausbildungsgängen
Bis in die 1980er Jahre werden künstlerische Aktivitäten von Menschen mit Behinderung überwiegend dem Bereich der Therapie zugeordnet. Die Umsetzung des Normalisierungsprinzips (Thimm 2005) und der politisch gewollte Paradigmenwechsel von der Fürsorge weg hin zur Inklusion lassen allmählich auch auf breiterer Ebene eine neue Sichtweise vom Menschen mit Behinderung entstehen: Der Blick richtet sich mehr auf die Kompetenz als auf das Defizit. In diesem Kontext entsteht auch ein breiteres Verständnis von kultureller Teilhabe und Professionalisierung (Merkt 2010).
Ein Pionier der Kulturellen Bildung für Menschen mit Behinderung war Werner Probst, von 1977 bis 1990 Professor für Musik und Menschen mit Behinderung an der Universität Dortmund. Er initiierte den Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“, der 1979 bis 1983 an der Musikschule Bochum durchgeführt wurde (Probst 1991). Dieser Modellversuch bestätigte zwei Annahmen: Kinder mit Behinderung sind fähig, ein Instrument zu lernen und LehrerInnen an Musikschulen brauchen eine gezielte Ausbildung für ihre musikalische Arbeit mit Kindern mit Behinderung. Da sich die Musikhochschulen, zuständig für die Ausbildung der MusikschullehrerInnen, bislang nur ansatzweise – wie Düsseldorf oder Essen – der Thematik annehmen, ist der vor 30 Jahren begründete berufsbegleitende Ausbildungsgang BLIMBAM des Verbandes deutscher Musikschulen an der Akademie Remscheid bis heute das wesentliche Ausbildungsorgan für die musikalische Arbeit mit Kindern mit Behinderung an Musikschulen.
Die Ausbildung für die Lehrämter an Sonder-, oder wie sie heute eher genannt werden, Förderschulen obliegt seit den 1950er Jahren den Pädagogischen Hochschulen und später den Universitäten. So etwas wie ein „Musischer Schein“ war in der frühen Zeit der LehrerInnenausbildung für alle Studierenden der Sonderpädagogik obligatorisch. Im Rahmen der Angleichung aller Lehramtstudiengänge konnten und können nun die künstlerischen Fächer als Unterrichtsfächer studiert werden. Pionier in der Ausbildung für das Unterrichtsfach Musik an Förderschulen war Franz Amrhein, bis 1983 tätig im Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität in Marburg und Leiter der hessischen Lehrplangruppe „Musik an Sonderschulen“, dann Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater Hannover von 1987-1998. Amrhein versteht Musik als Teilbereich einer allgemeinen Ästhetischen Erziehung von Kindern mit Behinderung; gleichzeitig stellt er Musik in das Zentrum einer Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Kommunikationsförderung (Amrhein/Bieker 2005:21).
Entwicklung der Kulturarbeit für und mit Menschen mit Behinderung
Weitgehend unabhängig von konkreten Anregungen akademischer Ausbildungsinstitutionen hat sich in den vergangenen zehn Jahren eine kulturelle Szene etabliert, in der sich Menschen mit Behinderung als künstlerisch aktiv und kompetent zeigen. Festzumachen ist dies an einer deutlichen Zunahme von inklusiven Festivals, Theater- und Musikprojekten sowie an Preisen für Projekte in allen künstlerischen Disziplinen. Beispiele für Festivals sind das No limits-Festival in Berlin und das Together-Festival in Basel, für Projekte „palaixbrut“ und „Station 17“, für Preise der europäische Kunstpreis für Malerei und Graphik von Künstlern mit geistiger Behinderung „euward“ und der musikorientierte „Förderpreis InTakt“ der miriam-stiftung. Auch die Kulturhauptstädte Europas greifen die Thematik auf: Linz 2009 veranstaltet „sicht:wechsel“ und Essen bzw. RUHR.2010 fördert „Europa InTakt.2010“.
Die Projekte, die aus Einrichtungen der Rehabilitation und aus der Freien Szene heraus entstehen, werfen in doppeltem Sinne die Frage nach der Notwendigkeit künstlerischer Ausbildungsgänge für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung auf. Bedarf es neuer Ausbildungsgänge mit den Möglichkeiten der Schwerpunktsetzung für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung – oder gibt es bereits genügend Impulse?
Aktuelle Ausbildungssituation an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen
Zum Themenfeld Kulturelle Bildung und Menschen mit Behinderung tragen die Universitäten und Pädagogischen Hochschulen über ihre Lehramtstudiengänge, aber auch über Studienangebote für die „nichtschulische“ Rehabilitation bei. Das Lehramt Sonderpädagogik – wie es überwiegend – noch genannt wird, kann an 24 Universitäten und Pädagogischen Hochschulen derzeit in BA- und MA-Studiengängen studiert werden.
Die Ausbildung zum Lehramt Sonder- bzw. Förderpädagogik umfasst behindertenspezifische Studien und das Studium der Unterrichtsfächer. Als Unterrichtsfächer können Musik, Kunst oder Sport studiert werden, in manchen Bundesländern ist ein – durchaus umstrittener – Zusammenschluss dieser Fächer unter dem Oberbegriff „Ästhetische Bildung“ in Diskussion. Der Anteil Sonderpädagogik wird meist in spezifischen Instituten oder Fachbereichen der Universitäten oder Pädagogischen Hochschulen angeboten. Das künstlerische oder bewegungsorientierte Unterrichtsfach wird entweder in einem anderen hochschuleigenen Fachbereich wie z.B. an den Universitäten Dortmund oder Köln oder in Kooperation mit einer benachbarten Kunst- oder Musikhochschule studiert. An der Humboldt-Universität Berlin lässt sich das Studium des „Lehrers an Sonderschulen“ mit dem Studium des Unterrichtsfaches Musik an der Universität der Künste UdK verbinden, in Leipzig ist es die Kombination Universität – Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Der Ausbildungsinhalt „Kulturelle Bildung für Menschen mit Behinderung“ ist in behindertenspezifischen Studiengängen über das künstlerische Unterrichtsfach hinaus keineswegs selbstverständlich. Er ist abhängig von der Gestaltung der Lehre und dem inhaltlichen Selbstverständnis der Lehrenden. Zwei LehrstuhlinhaberInnen haben hier besondere Verdienste um die Weiterentwicklung des Themenfeldes erworben: Georg Theunissen in Halle und Saskia Schuppener in Leipzig. Theunissen, Professor für Geistigbehindertenpädagogik an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg steht für den Begriff „Empowerment“ innerhalb der Heilpädagogik, insbesondere in Verbindung mit ästhetischer Praxis im Bereich der Kunst (Theunissen 2004). Schuppener, Professorin für Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Leipzig, behandelt in Forschung und Lehre Fragen der Entwicklung des Selbstkonzepts von Menschen mit geistiger Behinderung im Zusammenhang mit künstlerischer Kreativität (Schuppener 2006). Sie veranstaltete als Kooperationsprojekt mit dem Institut für Kunstpädagogik das Integrative Kunstfestival „Ohne Wenn und Aber“ im Herbst 2010.
In der Bundesrepublik gibt es derzeit lediglich zwei Lehrstühle, die auf der Basis der Lehrerbildung auch das Themenfeld der „außerschulischen“ Kulturellen Bildung für und mit Menschen mit Behinderung gestalten und weiterentwickeln. Es sind dies die Professuren Kulturarbeit mit Behinderten und benachteiligten Menschen/Sonderpädagogische Rhythmik/Musik am Institut für Allgemeine Sonderpädagogik der PH Ludwigsburg und die Professur Musikerziehung und Musiktherapie in Pädagogik und Rehabilitation bei Menschen mit Behinderung an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund. Beide Lehrstühle stehen aktuell wegen des Erreichens der Altersgrenze der Inhaberinnen vor einer Wiederbesetzung bzw. inhaltlichen Neuausrichtung.
Die hochschulpolitische Entwicklung der vergangenen Jahre gibt allerdings zu Optimismus wenig Anlass. Der sukzessive Abbau des Engagements für die Ausbildungsinhalte Kultureller Bildung und Menschen mit Behinderung ist nicht zu übersehen. 2005 wurde in Giessen eine Akademische Ratstelle für die musikalische Ausbildung von Studierenden der Sonderpädagogik ersatzlos gestrichen (Amrhein 2005:21). Die Musikprofessur an der früheren Heilpädagogischen Fakultät der Universität zu Köln (heute Department Heilpädagogik) wurde in eine Mittelbaustelle umgewandelt und an der TU Dortmund werden die beiden Professuren für Musik und Bewegung in Zukunft voraussichtlich zur einer Professur Kulturarbeit zusammengefasst. Ein klarer Impuls in Richtung des gesellschaftlichen Themas Kulturelle Bildung und Inklusion von Seiten der Universitäten ist derzeit nicht erkennbar.
Aktuelle Ausbildungssituation an Fachhochschulen
Die Fachhochschulen stellen sich aufgrund ihrer größeren Praxisnähe im Kontext Kulturelle Bildung und Menschen mit Behinderung seit jeher anders auf als die Universitäten: Die Verknüpfung von Sozialer Arbeit bzw. Sozialpädagogik mit den Künsten in ihren Anwendungsaspekten ist den Fachhochschulen selbstverständlich. So gibt es in den meisten Studiengängen Soziale Arbeit, Heilpädagogik o.ä. Studienfelder im Umfeld der Medienpädagogik, denen die künstlerischen Disziplinen zugeordnet werden. Professuren wie „Theater- und Medienpädagogik“ (Merseburg), „Medienpädagogik, Ästhetik und Kommunikation, Schwerpunkt Musikpädagogik“ (Dortmund) oder „Bildung, Kultur und Medien“ (München) sind an Fachhochschulen in den Fachbereichen der angewandten Sozialwissenschaften in der Regel zu finden.
Zwei neue Studiengänge repräsentieren die aktuelle Entwicklung in Richtung Kulturelle Bildung. Sie lassen sich durchaus als Aufschwung verstehen. Der BA-Studiengang „Musik- und bewegungsorientierte Soziale Arbeit“ an der FH Regensburg verbindet das Studium der Sozialpädagogik mit einer starken Profilierung im Bereich der Musik- und Bewegungserziehung und benennt Menschen mit Behinderung ausdrücklich als zukünftige berufliche Zielgruppe. Der Masterstudiengang an der Hochschule München „Kultur-Ästhetik-Medien“, angeboten als Weiterbildungsstudiengang, reagiert auf die Tatsache, dass kulturelle Aktivitäten eine Möglichkeit der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse sind.
Die Bedeutung, die die Fachhochschulen der Kulturellen Bildung geben, lässt sich an der Gründung eines eigenen Arbeitskreises ablesen: Der Bundesarbeitskreis BAKÄM wurde 2002 in Hannover gegründet. Er ist ein Gremium des fachlichen Austauschs, vertreten sind in ihm nahezu alle Fachhochschulen des Bundesgebiets.
Kunst- und Musikhochschulen
Die Kunst- und Musikhochschulen verstehen sich in der Regel als Ausbildungsstätten für künstlerischen Nachwuchs und die Ausbildung von Kunst- oder MusikpädagogInnen. Wenn sie für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ausbilden, dann in der Regel unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Therapien. Beispiele sind die berufsbegleitenden Masterstudiengänge „Musiktherapie“ an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und am Institut für Musiktherapie der UdK Berlin sowie z.B. ein Studienbereich „Bildnerisches Gestalten und Therapie“ an der Akademie der Bildenden Künste München.
Insbesondere im Rahmen der Ausbildung für künstlerisch-pädagogische Berufsfelder sollten die künstlerischen Hochschulen auch für eine künstlerisch orientierte Arbeit mit Menschen mit Behinderung qualifizieren. Nicht wenige Studierende sind für die Vermittlung offen und qualifizieren sich später in berufsbegleitenden Zusatzausbildungen.
Ausblick
Das Ausbildungsfeld Kulturelle Bildung und Menschen mit Behinderung ist geteilt in schulische und nicht-schulische berufliche Arbeitsbereiche der Pädagogik und der Sozialen Arbeit bzw. Rehabilitation, es bildet letztlich immer noch die Institutionen der Pädagogik und Rehabilitation ab. Die politische Entwicklung in Richtung Inklusion, die demografische Entwicklung (siehe Karl Ermert „Demografischer Wandel und Kulturelle Bildung in Deutschland“) und die Entwicklung des Arbeitsmarktes werden bestimmend sein für die Gestaltung des Arbeitslebens und des gesellschaftlichen Lebens von Menschen mit und ohne Behinderung. In naher Zukunft wird es hier neue Berufsfelder geben, die das Zusammenleben einer heterogenen und inklusiven Gesellschaft gestalten. Der Kulturellen Bildung kommt in diesem Kontext eine kommunikations- und sinnstiftende Rolle zu. Künstlerische und unmittelbar anwendungsbezogene Aus- und Weiterbildungsstudiengänge können hier auf eine sich wandelnde Gesellschaft vorbereiten, indem sie den Umgang mit Verschiedenheit zur Schlüsselkompetenz erheben.