Audience Development, Kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung, Community Building. Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selektivität des öffentlich geförderten Kulturangebots
Kulturelle Beteiligung als kulturpolitisches Konzept
Lange bevor das Konzept des Audience Development in Deutschland als kulturmanageriale Strategie und zumindest in den Diskursen auch als kulturpolitisches Ziel nach angelsächsischem Vorbild aufgegriffen wurde, gab es Forderungen nach einem „Bürgerrecht Kultur“ (Glaser/Stahl 1974) und einer „Kultur für alle“ (Hoffmann 1979). In der sogenannten „Neuen Kulturpolitik“, die sich in den 1970er Jahren mit Gründung der Kulturpolitischen Gesellschaft parteiübergreifend entwickelte, wurde gefordert, Barrieren vielfältiger Art abzubauen, um allen Menschen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.
Dabei ging und geht es bis heute im politischen Diskurs weniger darum, die Attraktivität des öffentlich geförderten Kulturangebots grundsätzlich zu hinterfragen, als vielmehr um die Frage, wie die bestehenden, klassischen Kultureinrichtungen langfristig erhalten bzw. legitimiert werden können, indem sie mehr Besucher*innen aus bislang wenig erreichten sozialen Milieus gewinnen. Das Ziel, eine breite, sozial diverse Bevölkerung in die öffentlich bereitgestellten, institutionellen kulturellen Angebote, vor allem die Theater, Konzerthäuser und Museen zu involvieren, ist bis heute unerreicht. Nach wie vor werden in Deutschland die Angebote dieser Kultureinrichtungen vor allem von den höher gebildeten und sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen wahrgenommen.
Partizipation an Kultur kann unterschiedliche Reichweiten haben, von der Teilnahme als Besucher*innen professioneller Kulturveranstaltungen über aktive künstlerisch-kulturelle Teilhabe als Amateur*in bis zur Mitbestimmung als interessierter Bürger*innen über kulturpolitische Förderziele.
Intensivere kulturmanageriale und kulturpolitische Ansätze, sich um unterrepräsentierte Zielgruppen als Besucher*innen kultureller Angebote zu bemühen, lassen sich in Deutschland erst seit etwa zehn Jahren feststellen. Zentrale Auslöser für diese Bemühungen sind ein nachlassendes Interesse an klassischen Kulturangeboten bei jüngeren Generationen durch fehlende Enkulturation und ein Wandel kultureller Interessen insgesamt u.a. durch den wachsenden Anteil an Migrant*innen in der Bevölkerung. Ein verstärktes kulturpolitisches Interesse an „Kultureller Bildung“ als Auftrag an die öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen forcierte die Beschäftigung von Kultureinrichtungen damit, wie sie vor allem Bevölkerungsgruppen mit einem niedrigen, formalen Bildungsniveau erreichen können, wobei der Fokus hierbei auf Kindern und Jugendlichen liegt. Hinzu kamen kulturmanageriale und kulturpolitische Impulse in Richtung Audience Development und Kulturelle Bildung aus anderen Ländern in einem zunehmend internationaler werdenden Kulturbetrieb.
Der in den angelsächsischen Ländern geprägte Begriff des „Audience Development“ bezeichnet die Generierung und Bindung neuen Publikums für Kultureinrichtungen in der strategischen Kombination von Kulturnutzerforschung, Marketing, PR und Kulturvermittlung (vgl. Arts Council England 2004, Mandel 2008). Im Unterschied zum klassischen Marketing, das vor allem auf die quantitative Erhöhung von Besucherzahlen zielt, kann Audience Development auch die qualitative, nachhaltige Entwicklung von Publikum zum Ziel haben, sowohl in Hinblick auf die soziodemografische Zusammensetzung als auch in Hinblick auf die Qualität der Erfahrungen der Nutzer*innen und die Bildungswirkungen der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur.
Audience Development aus einer rein marketingorientierten, wirtschaftlichen Perspektive wird versuchen die am leichtesten, weil bereits potentiell interessierten Zielgruppen zu adressieren, um mit möglichst geringem Aufwand eine ausreichende und nachhaltige Auslastung der Kapazitäten zu erreichen. Audience Development mit dem Anspruch, bislang unterrepräsentierte soziale Gruppen als Besucher*innen zu gewinnen, bedarf deutlich größere Anstrengungen, die von Outreach-Formaten über Programmveränderungen bis zur Neuausrichtung der Leitziele einer Einrichtung reichen (vgl. Absatz Ergebnisse).
Um solche Anstrengungen kulturpolitisch zu unterstützen und zu forcieren, wurden in Ländern wie Großbritannien und Australien staatliche Fördergelder an Strategien geknüpft, mit denen es nachweislich gelingt, bestimmte bislang unterrepräsentierte Zielgruppen zu erreichen. In Großbritannien wurde Audience Development wesentlich durch kultur- und sozialpolitische Ziele unter New Labour in den 1990er Jahren angestoßen, die an öffentlich geförderte Kultureinrichtungen den Anspruch stellten, für alle Bevölkerungsgruppen, vor allem auch für sozial benachteiligte Gruppen da zu sein, um diesen Brücken zu bauen, sich stärker in das kulturelle und gesellschaftliche Leben zu integrieren.
Das deutsche Kultursystem weist eine Reihe von Merkmalen auf, die einer Implementierung von nationalen, staatlichen Förderprogrammen für Audience Development nach britischem Vorbild entgegenstehen. Diese reichen von der Kulturhoheit der Bundesländer über die im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit bis hin zum Prinzip der institutionellen Anbieterförderung, das eine Art „kulturelle Grundversorgung“ der Bevölkerung auf hohem Niveau und weitgehend unter Ausschluss von Marktmechanismen gewährleisten soll.
Die Entscheidung darüber, was künstlerisch und kulturell wertvoll ist, wird dabei an Expert*innen auf der Anbieterseite (Intendant*innen oder Direktor*innen) delegiert und nicht bzw. nur sehr begrenzt dem Votum des Publikumsgeschmacks ausgesetzt, durch das eine Verflachung der künstlerischen Qualität und eine „Mainstreamisierung“ von Kunst und Kultur befürchtet wird. Basis ist hierbei die Maxime „Fördern, was es schwer hat“. Die kulturelle Abwertung des Publikumsgeschmacks fand ihre theoretische Begründung u.a. in den kultursoziologischen Schriften von Adorno und Horkheimer, die populäre, kulturwirtschaftlich produzierte Kunst und Kultur als Produkte der „Industriekultur“ kritisierten (Adorno/Horkheimer 1947).
Anders als etwa in den USA, wo die Interessen des potentiellen Publikums einen wesentlichen Einfluss auf die Kulturproduktion haben, weil Publikum und private Förderer die Haupteinnahmequelle auch der meisten gemeinnützigen Kulturbetriebe darstellen, sind die Kultureinrichtungen in Deutschland aufgrund der hohen staatlichen Förderung deutlich unabhängiger von Publikumszuspruch. Der Anteil des Budgets aus Ticketverkäufen macht etwa bei öffentlichen Theatern in Deutschland nur ca. 15% aus (vgl. Deutscher Bühnenverein 2013), im Vergleich zu ca. 60% in den USA (vgl. National Endowment of the Arts 2012).
Auch wenn es in Deutschland kein nationales Audience Development Programm zur Förderung eines sozial diversen Publikums von Kultureinrichtungen gibt, wurden in den letzten Jahren bundesweite Programme zur Förderung einer chancengerechteren Kulturellen Bildung aufgelegt, wie das Programm des Bundesbildungsministeriums „Kultur macht stark“, das sich explizit an sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche richtet, die über Kulturelle Bildungs-Kooperationen an ihren Alltagsorten erreicht werden sollen. Auch das von der Kulturstiftung des Bundes mitinitiierte und von der Mercator Stiftung und einzelnen Bundesländern mitfinanzierte Programm „Kulturagenten für kreative Schulen“ zielt u.a. darauf ab, junge Menschen aus allen sozialen Gruppen auf eine für sie gewinnbringende Weise mit Kunst in Berührung zu bringen.
Aktuell gibt es Anzeichen dafür, dass eine stärker konzeptbasierte Kulturpolitik (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 2014) auch in Deutschland dazu beiträgt, zukünftig stärkere Vorgaben zu machen, um kulturelle Partizipation zu erhöhen: So hat der Bund die wenigen von ihm geförderten Kultureinrichtungen verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Fördersumme für Kulturvermittlungsmaßnahmen auszugeben. In einzelnen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind neue Kulturförderrichtlinien entwickelt worden, die Kultureinrichtungen auffordern, sich um ein diverses Publikum, v.a. junge Menschen zu bemühen. Allerdings fehlt bislang ein System, um den Erfolg überprüfen und ggf. Sanktionen veranlassen zu können. (vgl. Renz 2015:63f.)
Wie ist der Status quo kultureller Beteiligung und das Interesse an Kunst und Kultur in der Bevölkerung in Deutschland? Mit welchen Strategien gelingt es, ein diverses Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen zu gewinnen, das der Vielfalt der Gesellschaft entspricht, und wo sind die Grenzen des kulturbetrieblichen Audience Development? Ist es überhaupt möglich für klassische Kulturinstitutionen, die von ihrem Image und ihrem Anspruch dem Segment der sogenannten Hochkultur zugeordnet werden, Menschen aus sozialen Gruppen jenseits des Kernpublikums der formal hochgebildeten, sozial privilegierten Milieus zu interessieren? In welcher Weise müssen sich Institutionen dafür verändern? Welche kulturpolitischen Strategien werden aktuell diskutiert, um das öffentlich geförderte kulturelle Leben in Deutschland insgesamt diverser und inklusiver zu gestalten?
Zentrale Ergebnisse zu Kulturnutzung, kulturellen Interessen und Einstellungen zu Kunst und Kultur in Deutschland
Die nachfolgenden Ergebnisse zu kultureller Partizipation in Deutschland basieren auf den bislang wenigen deutschen Studien, vor allem vom Zentrum für Kulturforschung sowie den Ergebnissen von Eurobarometer Befragungen zum Thema Kultur. Letztere ermöglichen einen Vergleich mit anderen Ländern, weil sie auf einem gemeinsamen Fragebogen und einer harmonisierten Definition kultureller Partizipation basieren (vgl. EB 2007, EB 2013).
Im europäischen Vergleich mittlere Intensität kultureller Aktivität in Deutschland
Empirische Studien zur kulturellen Partizipation stehen vor dem Problem zu definieren, was unter Kultur verstanden werden soll und welche kulturellen Aktivitäten in die Messung einbezogen werden sollen (vgl. Morone 2006:30). Deutlich wird bei internationalen Vergleichen von Studien (u.a. Schuster 2007), dass in Deutschland der gebräuchliche Kulturbegriff enger ist als in vielen anderen Ländern. Während dort etwa auch Sport, Feste oder Zoobesuche dazu gezählt werden, liegt der deutschen Kulturpolitik tendenziell ein Kulturbegriff zugrunde, der vorwiegend an den Künsten und den Institutionen der klassischen Kultur orientiert ist und der auch in der Bevölkerung vorherrscht (vgl. Allensbach 1992, Zentrum für Kulturforschung 1. und 2. Jugendkulturbarometer 2007/2012, 1. Interkulturbarometer 2012). In diesen Befragungen wird auch deutlich, dass es eine Wertschätzung für die klassischen Kulturformen und -einrichtungen gibt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung diese selbst nicht besucht.
Dem Fragebogen des Eurobarometers wird eine breite Definition von „kultureller Aktivität“ zugrunde gelegt. Unterschieden wird in häusliche Kulturaktivitäten wie Musikhören, Lesen, Fernsehfilme ansehen; außerhäusige kulturelle Aktivitäten wie Kino, Theater, Museumsbesuche; eigene kulturelle Betätigung als Amateur wie Musizieren, Fotografieren, Tanzen etc. (vgl. Morone 2006:30). Mit Hilfe eines „index of cultural practice“, der die diversen kulturellen Aktivitäten zusammenfassend misst, wird im Eurobarometer das Niveau des kulturellen Engagements der Bevölkerung eines Landes in einem Wert zusammengefasst. Die Ergebnisse zeigen, dass die nordischen Länder die höchsten Bevölkerungsanteile mit sehr hoher oder hoher kultureller Partizipation aufweisen, angeführt von Schweden (43%), Dänemark (36%) und den Niederlanden (34%). Der entsprechende Anteil in Deutschland von 18% entspricht dem EU-Durchschnittswert, liegt aber z.B. noch unter den Anteilen in Großbritannien (26%) und Frankreich (25%). Trotz seines im internationalen Vergleich sehr hohen Anteils an klassischen Kulturinstitutionen ist Deutschland auch beim Besuch klassischer Kultureinrichtungen nicht in der Spitzengruppe, sondern nur knapp oberhalb des europäischen Durchschnitts (vgl. EB 2013).
Abnehmender Besuch „hochkultureller“ Veranstaltungen
Wie in den meisten anderen europäischen Ländern besteht auch in Deutschland die häufigste kulturelle Aktivität darin, ein Buch zu lesen (79%), Kulturprogramme im Fernsehen oder Radio zu sehen oder zu hören (74%), historische Monumente oder Sehenswürdigkeiten zu besichtigen (63%) und ins Kino zu gehen (54%). Der Besuch klassischer Kultureinrichtungen ist deutlich weniger populär. 19% gingen mindestens einmal im Jahr ins Ballett oder die Oper, 30% ins Theater und 44% in Museen. Seit 2007 gab es einen Rückgang dieser Aktivitäten beim Theater um minus sieben Prozentpunkte, beim Museumsbesuch um minus vier Prozentpunkte. Kinobesuche hingegen stiegen um einen Prozentpunkt (vgl. EB 2013 im Vgl. zu EB 2007). Eine Studie von ARD und ZDF zu kulturellen Freizeitaktivitäten in der deutschen Bevölkerung zeigt, dass nach Lesen und Musikhören Computerspiele bereits auf Platz drei der am häufigsten ausgeübten, kulturellen Freizeittätigkeiten liegt (vgl. Neuwöhner/Klinger 2016:432).
Auf der Grundlage einer Metastudie verschiedener deutscher (Nicht-)Besucherstudien aus den letzten drei Jahrzehnten wird das Potential der regelmäßigen Besucher*innen klassischer Kulturangebote in Deutschland auf 5 bis 15% geschätzt, das Potential der Gelegenheitsbesucher*innen auf 35 bis 45% (vgl. Renz 2016:130). Etwa die Hälfte der Bevölkerung dürfte demnach keines der öffentlich subventionierten Kulturangebote nutzen.
Soziale Herkunft entscheidender als ethnische Herkunft, dennoch signifikant geringere Besuche klassischer Kultureinrichtungen von Menschen mit Migrationshintergrund
Nach den Ergebnissen des ersten „Interkulturbarometers“ für Deutschland zeigen sich in der Rangreihe der kulturellen Präferenzen zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund kaum Unterschiede. Allerdings liegen die jeweiligen Besucheranteile der klassischen Kultureinrichtungen, anders als die der privatwirtschaftlichen, unterhaltungsorientierten Kulturformen, bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund um etwa 10 bis 20% unter denen der deutschstämmigen Bevölkerung. Besonders ausgeprägt ist diese Differenz bei der Bevölkerung mit türkischem Migrationshintergrund, die in Deutschland die zahlenmäßig größte Zuwanderergruppe stellt (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2012a:104). Junge Menschen mit Migrationshintergrund sind insgesamt kulturinteressierter, werden aber mehrheitlich von privatwirtschaftlichen Kulturanbietern erreicht (vgl.ebd.:11). Die Bevölkerungsgruppen mit einer Abstammung der Familie aus der Türkei oder dem Nahen Osten weisen auch im Vergleich zu Bevölkerungsgruppen mit einem osteuropäischen oder russischen Migrationshintergrund besonders geringe Besuchsraten von klassischen Kultureinrichtungen auf (vgl.ebd.:113). Insgesamt ist jedoch der Einfluss des sozialen Milieus, des Bildungsniveaus und der Familie auf Kulturnutzung und kulturelle Interessen deutlich stärker als das Herkunftsland, wie eine Sinus-Milieu-Studie zur Kultur bei Menschen mit Migrationshintergrund zeigt (vgl. Ministerpräsident des Landes NRW 2010). Menschen mit Migrationshintergrund als Gesamtheit haben einen deutlich weiteren Kulturbegriff, der auch Alltagskultur, Breitenkultur, Kultur der Länder und Völker umfasst. Dadurch verändere sich das Kulturverständnis in der deutschen Bevölkerung insgesamt (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2012b:62).
Bildung und Alter sind die zentralen Einflussfaktoren auf die kulturelle Partizipation
Die Intensität kultureller Aktivitäten in Deutschland korreliert stark mit dem Niveau der Bildung: 42% derjenigen, die vor dem Alter von 16 Jahren aus dem Bildungssystem abgehen, also mit Hauptschulabschluss, weisen einen geringen „index of cultural practice“ auf. Bei denjenigen, die erst im Alter von mindestens 20 Jahren das Bildungssystem verlassen, also Abiturient*innen, sind dies nur 15% (vgl. EB 2013). Auch andere Studien zeigen für Deutschland einen deutlichen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und kultureller Partizipation (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2002, 2005, Reuband 2002, Kirchberg 2005, Eckhard et. al 2006, Neuwöhner/Klingler 2011). Die Stammbesucher*innen der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen verfügen größtenteils über einen hohen Bildungsgrad und Sozialstatus. Unter den jungen Menschen besuchen fast nur noch Gymnasiast*innen klassische Kultureinrichtungen. Es besteht also ein enger Zusammenhang von sozialer Herkunft und kultureller Inklusion. Diese soziale Spaltung des Kulturpublikums hat sich im Zeitvergleich verstärkt (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2007, 2012a).
Auch Kirchberg und Kuchar konstatieren in ihrer Meta-Studie zur Kulturnutzung „einen robusten Zusammenhang höherer Positionen in der Sozialstruktur mit der Nutzung hochkulturelle Sparten […] sowie die große Bedeutung des Faktors Bildung und des Einkommens bezüglich der (Nicht-)Besuchsentscheidung“ (Kirchberg/Kuchar 2016:576). Tendenziell wird das Publikum klassischer Kultureinrichtungen älter, insbesondere für das Opernpublikum wird ein ausgeprägter Alterungsprozess konstatiert (vgl. Föhl/Lutz 2010:43). Die kulturellen Interessen der 14- bis 24-Jährigen sind im Vergleich zu den kulturellen Interessen der ab 50-Jährigen deutlich stärker auf die massenkulturellen Angebote wie Filme und Popmusik ausgerichtet und deutlich schwächer auf die klassischen Hochkultursparten (vgl. Zentrum für Kulturforschung Jugendkulturbarometer 2012:26). Im Zeitverlauf zeigt sich ein abnehmendes Interesse junger Menschen an traditionellen Kulturangeboten (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2007, 2012a).
Ergebnisse verschiedener Studien deuten darauf hin, dass sich diese popkulturellen Präferenzen neuer Generationen auch im Alter nicht ändern werden, also von einem automatischen „Reinwachsen“ in klassische Kultureinrichtungen nicht mehr ausgegangen werden kann (vgl. Reuband 2005, Peterson et al. 2000, Treinen 2012). „Es gibt Anzeichen dafür, dass die Nachfrage nach Hochkultureinrichtungen in Zukunft abnehmen wird, da die Kulturnachfrage eher kohorten- als altersabhängig ist.“ (Kircherg/Kuchar 2016:561)
Desinteresse am Besuch bestimmter Kulturangebote dominiert vor institutionellen und objektiven Barrieren
Bei den klassischen Kulturangeboten wird „mangelndes Interesse“ am häufigsten als Hinderungsgrund genannt, diese überhaupt oder häufiger wahrzunehmen. An zweiter Stelle steht „zu wenig Zeit“. Erst danach kommen institutionelle bzw. objektive Barrieren: „zu teuer“, „limitiertes Angebot“, „schlechte Qualität“. Dies gilt auch für die EU-Bevölkerung insgesamt (vgl. EB 2013).
Auch in Besucherstudien für Theater in Deutschland wurden vor allem subjektbezogene Zugangsbarrieren ermittelt: Die Theaterprogramme werden von jungen Menschen nicht als relevant für ihre alltägliche Lebenswelt erachtet. Insbesondere jüngere Männer haben Vorbehalte gegenüber dem Theater und bevorzugen alternative Freizeitangebote, die Zerstreuung und Entspannung bieten, ohne dabei geistig anspruchsvoll zu sein. Das Image von Theatern als Ort der Hochkultur gilt als nicht passend für die eigene peer group. Es besteht die Sorge, die Rituale dieses Ortes nicht zu kennen, die Inszenierungen nicht zu verstehen und sich zu langweilen (vgl. Deutscher Bühnenverein 2002, Mandel/Renz 2012, Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2012a, Mandel 2013).
Eigene künstlerische Aktivitäten motivieren für den Besuch kultureller Veranstaltungen
Menschen, die als Amateure selbst künstlerisch tätig sind, indem sie z.B. singen, malen oder ein Musikinstrument spielen, nehmen kulturelle Angebote deutlich intensiver wahr als künstlerisch nicht aktive (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2002, 2012a). In Deutschland sind 88% der besonders aktiven Kulturnutzer*innen selbst künstlerisch tätig (vgl. EB 2013). Hinsichtlich der dominierenden Form künstlerischer Betätigung, der Musik, ist wiederum festzustellen, dass Musikschulen v.a. von Kindern aus höheren Bildungsschichten besucht werden (vgl. World Vision 2010:155).
Wie lassen sich diese Ergebnisse interpretieren in Bezug auf die Frage nach der Förderung kultureller Teilhabe?
Dass Deutschland hinsichtlich der kulturellen Partizipation seiner Bevölkerung sowohl bei einer breiten Definition von Kultur als auch bei den klassischen Hochkultur-Angeboten lediglich einen europäischen Mittelplatz einnimmt, ist insofern überraschend als das Land über eine im internationalen Vergleich sehr dichte und in erheblichem Umfang öffentlich finanzierte kulturelle Infrastruktur verfügt. Die Ergebnisse legen die These nahe, dass die Kulturnachfrage nur bedingt von der Dichte des institutionalisierten Kulturangebots beeinflusst wird. So hat sich seit den 1970er Jahren die Zahl der öffentlich geförderten Theater in Deutschland fast verdoppelt, während die Zahl der Besuche relativ konstant geblieben ist (vgl. Föhl/Lutz 2010). Für diese These spricht zudem, dass bei den Zugangshindernissen zu außerhäusiger Kultur nur von sehr wenigen der im Eurobarometer Befragten das Problem eines begrenzten oder qualitativ unzureichenden Angebots genannt wird.
Der Versuch, die Unterschiede in der kulturellen Partizipation zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu erklären, wurde bislang nicht unternommen. Hierfür wären vertiefte Vergleichsstudien erforderlich, die nicht nur Unterschiede in den kulturellen Traditionen, der Kulturpolitik, den vorherrschenden Formen der Organisation und des Managements von Kultureinrichtungen, sondern auch im Bildungssystem, den Sozialstrukturen oder der Einkommensverteilung betrachten müssten.
Eine Vermutung, warum im Vergleich zu Deutschland die Partizipationsrate z.B. in Großbritannien signifikant höher ist, könnte darin bestehen, dass die intensiven Audience Development Maßnahmen sowie v.a. die großen nationalen Anstrengungen im Bereich der Kulturellen Bildung, implementiert über die Schulen seit New Labour in den 1990er Jahren, bereits gegriffen haben. Dabei ist jedoch festzustellen, dass auch in Großbritannien die soziale Ungleichheit in der Nutzung bestimmter kultureller Angebote nicht aufgebrochen werden konnte. So zeigte etwa die „Taking Part“-Studie von 2011 (DCMS) „that the arts still attract an elite minority of the public which had remained largely unchanged despite policy rhetoric“ (Jancovic 2014:8, vgl. auch Torregiani 2014).
Nach den Ergebnissen der Eurobarometer-Befragungen sind in Deutschland im Zeitraum zwischen 2007 und 2013 sowohl der Anteil der intensiven Kulturnutzer*innen als auch die Nutzung klassischer Kulturangebote rückläufig. Dass zugleich die mit Abstand am häufigsten genannte Begründung für den Nicht-Besuch klassischer Kultureinrichtungen „mangelndes Interesse“ ist, deutet darauf hin, dass die Einrichtungen für viele als nicht attraktiv und relevant für ihr eigenes Leben wahrgenommen werden.
Als ein Erklärungsfaktor für eine sinkende Nachfrage nach klassischer Kultur in Deutschland gilt die demografische Entwicklung. Zwar könnte die Bildungsexpansion potentiell dem Alterungsprozess des Hochkulturpublikums entgegenwirken, allerdings gehört die Rezeption von klassischer Kultur bei nachwachsenden Generationen auch mit höherer Bildung nicht mehr selbstverständlich zum Lebensstil wie in der Vergangenheit in den traditionellen bildungsbürgerlichen Kreisen (vgl. u.a. Renz 2016).
Da sich die Kulturnachfrage eher als kohorten- denn altersabhängig erweist, muss damit gerechnet werden, dass die Nachfrage in Zukunft weiter abnehmen könnte. „Trotz einer insgesamt in den letzten 50 Jahren verbesserten Ausbildung und Bildung der deutschen Bevölkerung gab es keine parallele Zunahme der Hochkultur, weil die Gesamtzahl der dieser vermeintlichen Leitkultur zusprechenden Bevölkerung abgenommen hat“, so die These von Kirchberg und Kuchar (Kirchberg/Kuchar 2016:563). Föhl und Nübel konstatieren nach einer Auswertung von Studien zum Publikum von Theatern als der am höchsten öffentlich geförderten Kulturform in Deutschland: „Das Theater hat heute seine herausragende Bedeutung als Leitmedium der gesellschaftlichen Selbstverständigung und zentralem kommunikativem Ort des Gemeinwesens weitestgehend verloren.“ (Föhl/Nübel 2016:211)
Bei den jüngeren Altersgruppen kann auch eine Substitution der Nutzung öffentlicher Kulturangebote durch konkurrierende Angebote auf dem Freizeitmarkt als eine Ursache für eine sinkende Nachfrage nach klassischer Kultur vermutet werden. Dabei dürften vor allem die zunehmende Nutzung elektronischer Medien und insbesondere das Internet als wesentlicher Kulturraum eine zentrale Rolle spielen. Schließlich könnte auch der wachsende Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ein Erklärungsfaktor für abnehmende Besucherzahlen im klassischen Kulturbereich sein, da die Bevölkerung mit Migrationshintergrund hier geringere Partizipationsraten aufweist, und offensichtlich vielen diese Institutionen wenig vertraut sind.
Als zentrale Indikatoren für die soziale Spaltung der Kulturnachfrage werden in allen vorliegenden Nutzerstudien der Faktor Bildung und soziale Herkunft identifiziert. Auf der einen Seite stehen die Bürger*innen mit einfacher Bildung, die mit weit überwiegender Mehrheit nicht oder nur sehr geringfügig am öffentlichen Kulturleben teilnehmen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen mit hoher Bildung und häufig höherem Einkommen, von denen viele nicht nur die klassischen Kulturangebote, sondern parallel auch populäre Kulturgenres wahrnehmen, wie eine Studie des Zentrums für Kulturforschung zum gebildeten „Kulturellen Allesfresser“ zeigt (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2005).
Theoretische Erklärungsansätze für die soziale Spaltung der Kulturnachfrage argumentieren entweder individualistisch oder strukturalistisch. Gemäß den individualistischen Ansätzen nehmen für den Einzelnen die Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen auch in der Nutzung kultureller Angebote zu: Jede*r Einzelne würde gemäß persönlicher Präferenzen sein ganz individuelles Kulturnutzungsverhalten jenseits traditioneller Zuschreibungen herausbilden und Unterschiede verschiedener sozialer Gruppen in der Nutzung kultureller Angebote würden sich demnach zunehmend auflösen (vgl. Lahire 2008, Beck/Beck 1994 in Kirchberg/Kuchar 2016:556ff.). Vertreter*innen der Omnivoren-These gehen davon aus, dass bestimmte kulturelle Aktivitäten nicht mehr einem bestimmten Milieu oder Status zuzuordnen und Menschen zunehmend unberechenbarer und vielfältiger in ihrem Kulturnutzungsverhalten sind.
Die vorliegenden empirischen Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese These vom „kulturellen Allesfresser“ nur für die höher gebildeten, stark kunst- und kulturinteressierten und insgesamt sehr mobilen Bevölkerungsgruppen gilt. Diese verfügen offensichtlich über so viel „kulturelles Kapital“ (Bourdieu 1982), dass sie ein breites Spektrum an Kultur, von hochkulturellen bis hin zu populärkulturellen Angeboten, souverän rezipieren können.
Auch Karl-Heinz Reuband, der der These einer zunehmenden Auflösung gruppenspezifischer sozialer Unterschiede in einer für Köln repräsentativen Befragung zur Nutzung der Theater, Opern und Museen nachgeht, kommt zu dem Befund, dass sich soziale Ungleichheit in der Nutzung eher verstärkt hat, wobei vor allem der Faktor Bildung dominant sei. „Die soziale Spaltung des Kulturpublikums scheint größer als zuvor.“ (Reuband 2012:256)
In strukturalistischen Erklärungsmodellen zur Kulturnachfrage wird in der Denktradition von Bourdieu davon ausgegangen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht maßgeblich den Kulturkonsum beeinflusst (vgl. Kirchberg/Kuchar 2016:556ff). Tatsächlich erweisen sich in Kulturnutzerstudien bestimmte soziodemografische Faktoren, allen voran der eigene Bildungsabschluss und das Bildungsniveau des Elternhauses, als zentrale Einflussfaktoren. Dies spricht dafür, dass das Modell der sozialen Distinktion durch bestimmte Kulturformen in Abhängigkeit zur sozialen Lage, ausdifferenziert und erweitert durch die milieuorientierten Ansätze (vgl. Schulze 2000, Sinus-Milieu-Studien), noch immer greift, auch wenn sich das Spektrum kultureller und ästhetischer Distinktionsformen sehr erweitert hat.
„The core problem is that cultural capital has become much more subtle and complex. […] Whereas higher-status people are diversifying their cultural portfolios and are reaping large gains in social network diversity and work success, poorer citizens find themselves locked in cultural ghettos with a narrowing range of choices and experiences.“ (Erickson 2008:344f.)
Während also Menschen mit einen hohen sozialen Status souverän zwischen verschiedenen Kulturformen agieren können, sind Menschen mit niedrigem Status in ihrem kulturellen Radius sehr viel begrenzter, wodurch sich die soziale Spaltung auch auf kulturellem Gebiet fortsetzt.
Audience Development als Strategie der Generierung und Bindung eines neuen, diversen Publikums für die öffentlich geförderten Kultureinrichtungen. Ergebnisse des Forschungsprojekts „Interkulturelles Audience Development“
Inwiefern kann es mit Hilfe von Audience Development Strategien gelingen, die empirisch festgestellte, sozial selektive Nutzung bestimmter hochkultureller Angebote aufzubrechen und zur sozialen Durchlässigkeit öffentlich geförderter Kultureinrichtungen beizutragen?
Audience Development ist eine systematisch angelegte, kulturbetriebliche Strategie, die darauf abzielt, neue, bisher nicht erreichte Besuchergruppen zu gewinnen und nachhaltig an eine Kulturinstitution zu binden. Dabei zeichnet sich Audience Development durch einen integrativen Ansatz aus, der Elemente des Kulturmarketings und der Kulturvermittlung auf der Basis von Kulturnutzerforschung strategisch zusammenbringt und damit Kulturbesucher*innen nicht (nur) als „Kund*innen“, sondern vielmehr als Subjekte einer ganzheitlichen Erfahrung im Rahmen eines Kulturbesuchs begreift (vgl. Mandel 2008).
Audience Development kann sowohl das Ziel einer quantitativen Steigerung des Publikums verfolgen als auch dazu beitragen, bestehendes Publikum noch stärker zu binden durch Service- und Vermittlungsangebote, die besondere Erfahrungen und kulturelle Selbstbildungsprozesse ermöglichen (vgl. u.a. Kawahima 2006:57). Neben der Publikumsgewinnung und -bindung kann Audience Development ebenso das Ziel einer positiven Imagewirkung bestimmter Kultureinrichtungen und Kulturformen in einer breiten Bevölkerung haben, die u.a. dafür sorgt, dass Menschen diese Einrichtungen überhaupt als bedeutungsvollen Ort wahrnehmen und einer öffentlichen Kulturförderung zustimmen, auch wenn sie dessen Angebote selbst nicht als Publikum nutzen (vgl. Mandel 2013).
Audience Development kann ebenso kulturpolitisch motivierte Ziele der qualitativen Veränderung des Publikums im Sinne einer sozial diverseren Struktur vor dem Hintergrund eines chancengerechten Zugangs zu öffentlich finanzierten Gütern verfolgen. Mehr noch kann Audience Development als eine Strategie begriffen werden, bei der öffentlich geförderte Kultureinrichtungen sich gemeinsam mit neuen Nutzern und neuem Publikum verändern, um unterschiedliche kulturelle Interessen und Ansprüche in einer sich demografisch verändernden Gesellschaft zu berücksichtigen. Dafür wurde von der Autorin der Begriff des „Interkulturellen Audience Development“ eingeführt, der darauf verweist, dass unterschiedliche soziale und kulturelle Gruppen mit verschiedenen kulturellen Interessen zusammentreffen und sich auseinandersetzen, woraus sich kulturelle Bildungsprozesse und Veränderungen für alle Seiten ergeben können (vgl. Mandel 2013).
Dahinter steht die in Deutschland aktuell propagierte kulturpolitische Idee, dass über kulturelle Angebote Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und sozialer Herkunft „interkulturell“ zusammentreffen und über Kunst und Kultur Differenzen produktiv werden können, woraus sich neue, gemeinsame „transkulturelle“ Identitäten entwickelt könnten (vgl. u.a. Symposien zur Interkultur der Stiftung Genshagen und der Zukunftsakademie NRW).
Ein aktueller empirischer Gesamtüberblick, inwieweit und mit welchen Zielen, Methoden und Ergebnissen öffentlich geförderte Kultureinrichtungen in Deutschland mit Hilfe eines systematischen Audience Development versuchen, neue Besuchergruppen zu gewinnen, liegt nicht vor. Eine Befragung aller großen Kultureinrichtungen in Deutschland von 2007 ergab, dass immerhin 50% der Museen und 60% der Theater Publikumsbefragungen durchführen (Zentrum für Audience Development 2007). Eine weitere Studie von 2009 zur Gewinnung von Migrant*innen als Publikum ermittelte, dass etwa die Hälfte der befragten Einrichtungen sich auf unterschiedlichen Intensitätsstufen mit dem Thema „Migrant*innen als Publikum“ befassen. Insgesamt vermuteten zwei Drittel, dass in den deutschen Kulturinstitutionen bei diesem Thema noch „ein hoher Entwicklungsbedarf“ besteht (Zentrum für Audience Development 2009).
Man kann davon ausgehen, dass ein Großteil der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen inzwischen Überlegungen dazu anstellt, wie bestimmte, bislang unterrepräsentierte Zielgruppen erreicht werden können, denn auch in Deutschland hat der politische Druck auf die Institutionen zugenommen, hohe Auslastungszahlen zu erreichen und vor allem den Anteil jüngerer Besucher*innen (v.a. mit nicht-westlichem Migrationshintergrund) zu steigern. Aktuell verstärkt die hohe Zahl der Geflüchteten die Herausforderung, die öffentlich geförderten Kulturinstitutionen für Menschen unterschiedlicher Herkunft zugänglich und zu einem Begegnungsort zu machen.
Bislang wird jedoch die öffentliche Förderung von Kultureinrichtungen nicht systematisch mit Forderungen verbunden, bestimmte Zielgruppen besser zu erreichen. Vor dem Hintergrund der historischen Bezüge und strukturellen Bedingungen von Kulturpolitik in Deutschland besteht eine hohe Zurückhaltung gegenüber staatlichen Interventionen in künstlerische Bereiche oder einer Funktionalisierung von Kunst für kunstferne, gesellschaftspolitische Zwecke. Kulturförderung ist primär Förderung von Institutionen gewissermaßen durch einen staatlichen Mäzen, der keine weiteren Forderungen stellt. Dementsprechend gibt es bislang keine nationalen und auch keine kontinuierlichen Audience Development Programme der Bundesländer, jedoch erste Modellversuche.
Die Autorin war verantwortlich für die Begleitforschung eines vom Kulturministerium Nordrhein-Westfalen initiierten und finanzierten Projekts „Interkulturelles Audience Development“. In diesem Projekt ging es um die Frage, ob und wie es großen, renommierten öffentlichen Theatern und Museen gelingen kann, bislang kaum erreichtes Publikum, vor allem junge Menschen und Bevölkerungsgruppen mit nicht-westlichem Migrationshintergrund zu gewinnen (Mandel 2013).
Fünf Theater, eine Oper und ein Museum entwickelten, gefördert mit zusätzlichen Projektmitteln, partizipative Projekte für die jeweils avisierten, neuen Zielgruppen in Zusammenarbeit mit Multiplikator*innen, die aus diesen Bevölkerungsgruppen kommen. Es entstanden Projekte in Kooperation z.B. mit Jugendzentren, Schulen, Migrantenkulturvereinen, Arbeitsloseninitiativen, jungen Autor*innen mit verschiedenen, nicht-westlichen Migrationshintergründen und freien künstlerischen Gruppen. Folgende zentrale Strategien zur Ansprache und Erstgewinnung neuer Besucher*innen aus nicht klassisch kunstaffinen Bevölkerungsgruppen der beteiligten Institutionen wurden als erfolgreich identifiziert:
- Kooperationen mit Einrichtungen und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Einsatz von Multiplikator*innen und Keyworker*innen.
- Veränderung der Kommunikation und Distribution: Vielfältige Formen eines populären Aufmerksamkeitsmanagements unter Einbezug von Alltagsorten, zielgruppendifferenzierte Kommunikationsformen, Medien und prominente Mittler*innen, persönliche Einladung mit Freitickets, (Re-)Brandingprozesse im Sinne eines vielfältigen und offenen Hauses.
- Veränderung der Rahmenbedingungen der Rezeption: Neue Formate wie Outreach, Open Air und kommunikative Events, veränderte gastronomische Angebote, Veränderung des Ambientes, neue Vermittlungsformate, persönliche Begegnungen mit Künstler*innen und Kulturschaffenden.
- Veränderung der Programme: vielfältigere Spielpläne, Cross Over Programme und v.a. partizipative Programmentwicklung in Zusammenarbeit mit Laien und neuen Zielgruppen.
- Änderung der Mission von der Organisations- zur Besucherorientierung, Aufwertung der Kulturvermittlung, Veränderung interner Strukturen, neue Leadership-Konzepte, diverses Personal auch im Management.
Die Aufführungen der mit neuen Zielgruppen realisierten, partizipativen Projekte erreichten mehrheitlich ein höher gebildetes, bereits an vielfältigen Kunstformen interessiertes, experimentierfreudiges, allerdings im Vergleich zum Stammpublikum der beteiligten Häuser deutlich jüngeres Publikum, darunter signifikant mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Auch wurden durchschnittlich zu einem Drittel Erst-Besucher*innen erreicht sowie bisherige Nicht-Besucher*innen von Theatern, die im Wesentlichen aus Angehörigen der teilnehmenden Laien bestanden.
Zugleich ergab die Evaluation, dass die Projekte hinsichtlich der tatsächlichen Bindung der neuen Besucher*innen aus bislang nicht kunstaffinen Gruppen nur wenig erfolgreich waren. Die Befragung von Teilnehmenden und Erst-Publikum zeigte, dass bisherige Nicht-Besucher*innen, v.a. wenn sie aus bildungsfernen Milieus stammten, nicht animiert werden konnten, zukünftig weitere Veranstaltungen der Häuser zu besuchen. Selbst die aktiv beteiligten Laien, die ihre Teilnahme in der Abschlussbefragung fast ausnahmslos als sehr positiv und bereichernd für ihr Leben bewerteten, brachten das eigene Projekt und die daraus entstandene Aufführung kaum mit den „normalen“ Programmen der Einrichtung in Verbindung.
Die hauptsächlichen Effekte der Projekte wurden in der Abschlussbefragung aller beteiligten Theater- und Museumsschaffenden dann auch nicht in der Gewinnung neuer Publikumsgruppen gesehen, sondern an erster Stelle in einer Erweiterung des eigenen Horizonts durch die Zusammenarbeit mit Menschen eines anderen kulturellen und sozialen Hintergrunds und einer Sensibilisierung für interkulturelle Sichtweisen. Ebenso wurden künstlerische Anregungen und die spezifische Qualität der auf diese Weise entstandenen künstlerischen Produktionen hervorgehoben. Die Zusammenarbeit mit Menschen anderer sozialer und kultureller Hintergründe hat laut Aussagen der Befragten in den Einrichtungen interkulturelle Lernprozesse ausgelöst, deren Nachhaltigkeit und strategische Verankerung in der Personal- und Programmpolitik jedoch noch keineswegs abgesichert war.
Deutlich wurde im Rahmen des Modellprojekts, dass eine enge Verbindung mit der künstlerischen Arbeit von großer Bedeutung dafür ist, ob Audience Development nachhaltige Effekte auf eine Institution hat. Nur dann, wenn auch die künstlerisch Verantwortlichen, die in der Hierarchie der öffentlichen Institutionen in Deutschland deutlich über den für Vermittlung und Marketing Zuständigen angesiedelt sind, die Arbeit mit neuen Nutzer*innen auch für künstlerisch wertvoll erachten und dies durch positive Beurteilung in der überregionalen Fachpresse bestätigt wird, kann mit einer positiven Entscheidung der Leitung gerechnet werden, die Institution für Interessen neuer Nutzergruppen stärker zu öffnen.
Während die ursprüngliche Zielsetzung des Projekts „Interkulturelles Audience Development“ darin bestand, über die partizipativen Projekte neue Besucher*innen zu gewinnen und zu binden, wurde in der Evaluation deutlich, dass dieses nicht gelingen wird, wenn sich die Einrichtungen nicht zugleich in ihren Zielsetzungen, ihren internen Strukturen und ihrer Programmpolitik verändern. Die Studie bestätigte damit Ergebnisse von Audience Development Evaluationen in England, die die hohe Bedeutung einer veränderten Programmatik und Programmpolitik für das Erreichen neuen Publikums aus bislang nicht kunstaffinen Bevölkerungsgruppen betonen: „If you want to change your audience, you first have to change yourself.“ (Arts Council England 2004, Morton Smith 2004)
Die zentrale Bedeutung der Programmpolitik dafür, neues und anderes Publikum zu interessieren, kollidiert in Deutschland mit der Maxime der Kunstfreiheitsgarantie, die eine Berücksichtigung von Publikumsinteressen in der künstlerischen Programmgestaltung von öffentlich geförderten Einrichtungen tendenziell tabuisiert. Derzeit werden Bemühungen um ein anderes Publikum in der Regel an die Abteilungen für Marketing und Vermittlung ausgelagert und berühren nicht das „Kerngeschäft“ der künstlerischen Arbeit und die Leitungsebene.
Im Kulturmarketing wird oftmals unterschieden zwischen einem an „Kunst orientierten“ versus einem an „Zielgruppen orientierten“ Ansatz: Findet man für ein nicht antastbares, künstlerisches Produkt das passende, weil bereits potentiell interessierte Publikum (vgl. Colbert 1999), oder geht man von einer Zielgruppe aus, die man neu erreichen möchte und gestaltet für diese ein ihren Interessen entsprechendes „Produkt“ bzw. Programm?
Für das Kulturmarketing in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen in Deutschland galt bislang das Credo, dass künstlerische Produktionen und Programme nicht strategisch an den Interessen potentiellen Zielpublikums auszurichten seien, um die künstlerische Freiheit und Qualität nicht zu gefährden, die sogenannte „Produktpolitik“ im Marketingmix also ein Tabu sei (vgl. Klein 2001:308). Zukünftig ist also sehr differenziert zu untersuchen, wie diejenigen, öffentlich geförderten Kultureinrichtungen mit dem dezidierten Anspruch, ein kulturelles Angebot für die gesamte Bevölkerung einer Stadt zu bieten, Programme entwickeln können, die „alle angehen“ (vgl. Dramaturgische Gesellschaft 2015) und die zugleich berechtigte künstlerische Qualitätsansprüche berücksichtigen.
Angesichts des noch sehr jungen Entwicklungstandes von Audience Development in deutschen Kultureinrichtungen liegen bislang mit Ausnahme der referierten Studie „Interkulturelles Audience Development“ (Mandel 2013) keine veröffentlichten Evaluationsergebnisse zu der Frage vor, inwieweit es durch Maßnahmen des Audience Development gelungen ist, das Publikum einer Kultureinrichtung zu verändern im Sinne einer größeren sozialen Heterogenität.
Allerdings verweisen Studien aus England darauf, dass selbst mit umfassenderen Audience Development Maßnahmen soziale und bildungsbedingte Unterschiede in kulturellen Interessen nur geringfügig verändert werden können (vgl. Torregiani mit Bezug auf die „Taking Part“-Studie). Trotz kulturpolitisch forcierter Strategien des Audience Development sei es auch dort nicht gelungen, die kulturellen Präferenzen der Bevölkerung so zu beeinflussen, dass ein sozialstrukturell breiteres Publikum die klassischen Kulturangebote wahrnimmt und dadurch die soziale Spaltung der Nutzung kultureller Angebote signifikant reduziert werden konnte. Für Anne Torregiani, Direktorin einer im Auftrag des Arts Council tätigen Audience Development Agentur, haben sich die hohen Erwartungen der Politik, Kunst als wirksames Mittel zur Bekämpfung sozialer Probleme einsetzen zu können, als unrealistisch herausgestellt.
Auch die Evaluationen der „New Audience Development“-Programme in Großbritannien lassen einerseits erkennen, welche Konzepte am ehesten positive Wirkungen erzielen konnten: Kooperationen mit vielfältigen Partner*innen und die Einbindung in lokale Bildungslandschaften, eine auf Vielfalt setzende Personalpolitik und eine Veränderung der Programmstrategie, einhergehend mit einem Selbstverständnis „that puts audiences at the centre of their mission“ (Torregiani 2016).
Sie machen andererseits auch Beschränkungen bisheriger Strategien des Audience Development deutlich, wie die alleinige Konzentration auf den Abbau von Barrieren in Bezug auf Rahmenbedingungen von Kulturnutzung statt der Auseinandersetzung mit dem künstlerischen „Kernprodukt“:
„Audience Development tends to concentrate on barrier removal. […] [But] barrier removal alone would not be effective, but different products must be packed or devised – possibly involving core product change in addition to product surround change – to appeal to the different segments.“ (Kawashima 2000:25).
Hinzu kommt, so Torregiani, dass die britische Kulturpolitik in der Vergangenheit viele kurzfristige Maßnahmen des Audience Development verordnete, die keine langfristigen Wirkungen auf die soziale Durchmischung des Kulturpublikums entfalten konnten. Erst seit kurzem gebe es nachhaltig orientierte, kulturpolitisch gesteuerte Audience Development Strategien, die die wesentliche Dimension eines veränderten Leadership einhergehend mit Change-Management-Prozessen von Institutionen anwenden. Audience Development würde nun zunehmend in der Führungsebene und als zentrale Mission und damit als langfristiger Prozess der Veränderung von Institutionen verankert.
Torregiani zieht zwei Schlussfolgerungen für die Zukunft des Audience Development: Zum einen müsse man Strategien, kulturelle Interessen von Menschen zu verändern bzw. zu erweitern, sehr langfristig anlegen und auch in der Bildungspolitik fest verankern.
„In my view changing cultural habits takes a long time. I anticipate that it will take some years before the impact of strategic appliance of audience development starts to show up in the overall statistic.“ (Torregiani 2016:118).
Zum anderen solle sich Audience Development auf der institutionellen Ebene auf die Gruppe der „somewhat engaged people“, der tendenziell bereits Interessierten konzentrieren, statt – aufgrund politischen Drucks – die am schwersten erreichbaren „non-engaged people“, die bislang keinerlei Interesse haben, in Kultureinrichtungen bringen zu wollen.
Auch Thomas Renz kommt in seiner Studie über Nicht-Besucher*innen klassischer öffentlicher Kultureinrichtungen zu dem Ergebnis, dass diese weniger durch von den Institutionen ausgehende Barrieren abgehalten werden, die zu beseitigen seien, sondern dass ein Großteil der Nicht-Besucher*innen deswegen nicht komme, weil sie grundsätzlich über wenig Teilhabechancen (vgl. „capability approach“ [Amartya Sen 1999] in Renz 2016) wie v.a. Bildung, Einkommen und sozialen Status verfügt. Darüber hinaus gäbe es bei vielen Menschen grundsätzlich kein Interesse an bestimmten, hochkulturellen Veranstaltungen (Renz 2016).
In seiner Befragung von solchen Nicht-Besucher*innen von Stadt- und Staatstheatern, die prinzipiell über Beteiligungschancen wie ein hohes Bildungsniveau, hohes Einkommen und zeitliche Ressourcen verfügen, wurde als wesentlicher Grund für den Nicht-Besuch genannt, dass die Rezeption der Inszenierungen öffentlicher Theater als tendenziell anstrengend empfunden würde und man in seiner Freizeit unterhaltungsorientierte Programme bevorzuge. Dies entspricht dem Ergebnis der oben vorgestellten Studie zum „Interkulturellen Audience Development“, dass die Programme der entscheidende Faktor dafür sind, ob man ein anderes Publikum gewinnen kann. Und zugleich berührt dies die grundsätzliche Frage, ob öffentlich geförderte Kunst in ihrem Anspruch an die Behandlung von Stoffen (Bedeutungsoffenheit, Mehrfachcodierung, kritische Behandlung ernsthafter Themen) Rücksicht nehmen sollte auf – ebenfalls legitime – Unterhaltungsbedürfnisse eines Freizeit-Publikums. Die für die deutsche Kulturlandschaft spezifische Unterscheidung in die ernsthafte, manchmal schwer zugängliche und darum öffentlich geförderte Kultur auf der einen Seite, und populäre Unterhaltungskultur, die sich auf dem freien Markt behaupten muss auf der anderen Seite, erweist sich als eine Denktradition, die die soziale Spaltung verstärkt.
Zugleich wird damit auch die Frage nach der Reichweite von Audience Development berührt: Wenn durch die Forschungsergebnisse deutlich wird, dass die Veränderungen der Rahmenbedingungen von Kulturanbietern wie Kommunikation, Distribution und Präsentation zwar notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahmen sind, um die sozial selektive Nachfrage hochkultureller Programme zu verändern, inwieweit kann und darf man im Rahmen eines kulturpolitisch motivierten Audience Development auch Einfluss nehmen auf künstlerische Programme und künstlerisches Personal einer Einrichtung? Und mehr noch: Inwieweit kann ein politisch motiviertes Audience Development auch als Bestandteil von Kulturentwicklungsplanungen von Kommunen und Bundesländern weitergedacht werden?
Ansätze zur Förderung der kulturellen Teilhabe im aktuellen kulturpolitischen Diskurs in Deutschland
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Ein Großteil öffentlich geförderter Kulturangebote wird nur von einer kleinen Gruppe der Gesellschaft wahrgenommen, die vor allem durch höhere Bildung und einen gehobenen sozialen Status gekennzeichnet ist. Evaluationen bisheriger institutioneller Audience Development Programme zeigen, dass diese nur in sehr begrenztem Maße die soziale Spaltung der Kulturnachfrager*innen verringern können, weil weniger institutionelle Barrieren als vielmehr mangelndes Interesse an bestimmten, hochkulturellen Angeboten sowie grundsätzlich mangelnde Teilhabechancen, vor allem Bildung, für den Nicht-Besuch verantwortlich sind.
Warum ist die sozial selektive Nutzung kultureller Angebote aus kulturpolitischer Sicht überhaupt als ein Problem zu betrachten, das es zu lösen gilt?
Ein zentrales Argument besteht darin, dass es einen gesellschaftlichen Konsens geben muss, bestimmte kulturelle Güter zu schützen und zu fördern, der langfristig nur dann gewährleistet ist, wenn es in der Bevölkerung insgesamt eine breite Wertschätzung dafür gibt. Wenn eine Bevölkerungsmehrheit diese Kulturgüter zwar mitfinanziert, aber nicht nutzt und damit ihren Wert selbst nicht erfährt, könnte dieser bislang für Deutschland noch bestehende „Rechtfertigungskonsens“ (Schulze 2000) mittelfristig gefährdet sein. Ein weiteres Argument ist die Verpflichtung, einen chancengerechten Zugang für alle gesellschaftlichen Gruppen zu öffentlich bereitgestellten Gütern zu ermöglichen, besonders wenn diese Güter, wie im Fall Kultur, dazu beitragen sollen, individuelle, kulturelle Bildungsprozesse zu ermöglichen.
Argumentiert wird auch, dass öffentlich bereitgestellte Kulturangebote Begegnungen zwischen Menschen verschiedener sozialer und auch ethnischer Herkunft ermöglichen sollen als Chance gesellschaftlicher Integration und kultureller Identitätsstiftung durch gemeinsames Erleben von Kunst und Kultur an einem öffentlichen Ort. Obwohl Kunst und Kultur einerseits Mittel sozialer Distinktion und Abgrenzung sind, wird ihnen andererseits das Potential zugesprochen, Gemeinschaft zu stiften über soziale Grenzen hinweg. Mehr noch wird häufig an Kunst der Anspruch gestellt, beispielhaft für andere Lebensbereiche aufzuzeigen, wie man produktiv mit Interessensunterschieden umgehen und dabei neue Perspektiven für das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt entwickeln kann.
Aktuell ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung von den Bildungs- und Integrationswirkungen ausgeschlossen, die von der Beschäftigung mit öffentlich bereitgestellten Kulturangeboten ausgehen können. Die vielfach konstatierte soziale Spaltung der Gesellschaft dürfte damit auch durch die kulturelle Spaltung weiter verfestigt werden.
In der aktuellen Praxis und im kulturpolitischen Diskurs in Deutschland lassen sich drei zentrale Ansätze ausmachen, von denen erwartet wird, dass sie zur Reduzierung der sozial selektiven Effekte des öffentlich geförderten Kulturangebotes beitragen könnten:
- Veränderung der Kulturinstitutionen – Audience Development in Verbindung mit Change Management,
- Veränderung der Nachfrager*innen – Kulturelle Bildung,
- Veränderung der geförderten Kulturlandschaft – partizipative Kulturentwicklungsplanung und konzeptbasierte Kulturpolitik.
Veränderung der öffentlich geförderten Kulturinstitutionen durch Audience Development und Change Management
Vor allem vor dem Hintergrund des stark zunehmenden Anteils an Migrant*innen und Geflüchteten, wird der klassische Marketingansatz öffentlich geförderter Kulturinstitutionen, für ein sakrosanktes, künstlerisches Produkt ein bereits interessiertes Kernpublikum zu adressieren, hinterfragt.
Audience Development Maßnahmen, die auf der Ebene veränderter Kommunikations-, Preis-, Distributions- und Servicepolitik, veränderter Präsentationsformate sowie intensivierter Kulturvermittlung ansetzen, können, so wurde deutlich, zwar temporär ein neues, anderes Publikum anziehen. Diese Maßnahmen bewirken jedoch, gemäß erster empirischer Erkenntnisse, kaum eine nachhaltige Erweiterung des klassischen Kulturpublikums, wenn sie nicht zugleich auch mit Veränderungen in den Institutionen einhergehen. Ein verändertes „Leadership“, eine veränderte Personalpolitik, der aktive Einbezug von Laien in die Entwicklung neuer Programme und insgesamt eine radikale Neuausrichtung der Mission und Ziele in Richtung Diversität wären gemäß bisheriger Evaluationsergebnisse Voraussetzung, um neues, diverses Publikum nachhaltig zu binden.
Ein Beispiel für eine solche Neuausrichtung eines öffentlichen Theaters in Deutschland ist das Maxim Gorki Theater in Berlin, das unter der Direktion von Shermin Langhoff und Jens Hillje als sogenanntes postmigrantisches Theater neu aufgestellt wurde mit Management und künstlerischem Personal aus unterschiedlichen Herkunftsländern und einer neuen Programmatik. Inwieweit dies Auswirkungen auf die soziale Zusammensetzung des Publikums hat, wäre empirisch zu verifizieren.
Ein anderes Beispiel, das zu heftigen Protesten unter traditionellen Theatermacher*innen in Deutschland geführt hat, ist die Neuausrichtung der Volksbühne Berlin durch den Direktor Chris Dercon (zuvor Leitung Tate Modern), der einen stärker interdisziplinären Zuschnitt unter Einbezug populärer Events und Outreach an populären Orten plant. Gegner*innen befürchten eine Auflösung der deutschen Theatertradition und des klassischen Theaterkanons. Auch die Veränderung der Programmpolitik in Richtung einer deutlich populäreren Ausrichtung, wie sie Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin mit großem Publikumserfolg vorgenommen hat, dürfte Signalwirkungen auf öffentliche Kulturinstitutionen in Deutschland insgesamt haben. Vom Führungspersonal aus anderen Ländern, das mit einem anderen Verständnis von Kultur und vermutlich geringerer Angst vor zu viel Popularität antritt, scheinen Impulse für eine Veränderung klassischer Kulturinstitutionen auszugehen, die auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Publikums in Richtung einer größeren sozialen Diversität haben können.
Demgegenüber stehen die Beharrungskräfte der traditionellen Institutionen und ihres bisherigen Personals. Die öffentlich geförderten Institutionen tendieren dazu, eine „Beharrungskraft zu entwickeln, die Innovationen verhindert, weil es sich zum Teil als vorteilhafter erweist, resistent gegenüber Veränderung zu sein, wenn man eine bestimmte Form gesellschaftlicher Wertigkeit einschließlich enger Beziehungen zur ‚Macht‘ etabliert habe“, so das Fazit einer Analyse über Veränderungsbereitschaft öffentlicher Kultureinrichtungen (Koch 2014:347). Und zugleich stellt der Autor fest, dass Publikumsorientierung sich als stärkster Motor erweist für Innovationen in den Institutionen: „Der Vorrang des Publikums ist ein Moment eines umfassenden Prozess der Pluralisierung und Demokratisierung, der die Grundlagen der Werturteile verändert, Herrschaftsverhältnisse verschiebt, Konsumenten zu eigenen Wert- und Wahlentscheidungen ermächtigt, und der eine Erweiterung, Hybridisierung und Ausdifferenzierung der Umgangsformen mit Kunst und kulturellen Produkten mit sich bringt.“ (ebd.) Die gezielte Einladung an ein erweitertes Publikum, mit den künstlerischen Werken „eigensinnig“ umzugehen, und die dabei entwickelten, neuen Formate der Präsentation und Rezeption würden langfristig auch zu künstlerischer und institutioneller Innovation führen.
„Building Communities, not Audiences“, so beschreibt der US-amerikanische Autor Doug Borwick eine neue, erweiterte Ziel-Perspektive für Kulturinstitutionen. Diese sollten über ihre Bedeutung als Produzent und Bewahrer von Kunst und Kultur hinaus als „guter Nachbar“ Verantwortung für das gemeinsame soziale und kulturelle Leben in einer Nachbarschaft/Region/Kommune übernehmen (vgl. Borwick 2012:38), also ihre Kompetenzen und die ihrer Mitarbeiter*innen auch dafür einsetzen, bedeutungsvolle Beziehungen mit der Nachbarschaft, in der sie leben, aufzubauen. Dies bedinge eine Veränderung der Mission von Kultureinrichtungen, indem sie „Community Engagement“ nicht als zusätzliche Aufgabe, sondern als Kern ihrer Arbeit begreifen: „Community engagement should be a new lens through which all of an organization´s activities are viewed, not as something extra.“ (Borwick 2012:94) Das beinhalte auch eine Hinterfragung des Programms der Einrichtung in Hinblick auf die Anschlussfähigkeit zu aktuellen Themen einer Community sowie eine kritische Evaluation, was von den bisherigen Programmen gestrichen werden könnte, um Raum und Ressourcen für den Aufbau von Kollaborationsbeziehungen zu unterschiedlichen Gruppen zu haben. „There is a possibility that a modest cut-back in programming could be undertaken, redirecting resources toward activities designed to open the organization more fully to the community.“ (ebd.:96)
Dabei betont Borwick, dass eine Hinwendung zu den sozialen Anliegen einer Kommune nicht zum künstlerischen Qualitätsverlust führe, sondern im Gegenteil auch die Kunst bereichern könne: „Inclusive processes can yield exceptional artistic result […] by expanding the palette of artistic options available to artists, stimulating work in new genre, and facilitating their growth as artists by bringing them in contact with a broader range of people and cultures.“ (Borwick 2012:98f.)
Ähnlich beschreibt auch die US-amerikanische Kulturvermittlerin Liz Crane, die viele Kultureinrichtungen bei Community Projekten beraten hat, dass dadurch veränderte Leitbild einer Kultureinrichtung als „being a good neighbor“: „That means taking an active and interested role in the changes, surrounding the institution and sharing resources for mutual benefit.“ (Crane 2012:90) Crane zeigt auf, dass Kulturinstitutionen nicht nur Einrichtungen sind, die Kunst präsentieren, sondern über physisches Kapital (Raum, Architektur, Infrastruktur), soziales Kapital (Mitarbeiter*innen mit Ideen und Kontakten), politisches Kapital (Beziehungen zu Kulturpolitik und Kulturverwaltung) und kreatives Kapitel (kulturelle und künstlerische Sensibilität) verfügen, das sie einbringen können in aktuelle Anliegen einer Community, in der sie situiert sind. Vor allem das Potential, kulturelle, nicht kommerziell definierte Freiräume und Begegnungsorte für unterschiedliche soziale Milieus zu eröffnen, erwies sich als Stärke der Kultureinrichtungen.
„Being a good neighbor is not viewing the community as an ,other‘, but as a fellowship of players with similar and overlapping interests, and, based on that view, choosing to apply the organization´s assets in ways that lead to more vibrant communities, support mutual interests, and yield healthier arts organizations.” (Crane 2012:90f.)
Dass auch die Kulturinstitutionen in erheblichem Maße davon profitieren, nicht nur in Bezug auf ihre gesellschaftliche Akzeptanz, sondern auch in künstlerischer wie in ökonomischer Hinsicht, betonen beide Autoren nach Evaluation diverser Kultureinrichtungen, die ihre Mission in Richtung Community Building verändert haben. Ein solches erweitertes Verständnis von den Aufgaben einer Kunstinstitution wird in Deutschland derzeit sowohl im Zuge der Neu-Konzeptionierung kommunaler und regionaler Kulturentwicklungsplanungen diskutiert (vgl. Föhl/Wolfram 2016) als auch im Kontext der Frage von kultureller Integration Zugewanderter aus anderen Kulturkreisen.
Kulturelle Bildung für potentielle Kulturnachfrager*innen
Eine zentrale Strategie, um mehr Menschen auch mit nicht bildungsbürgerlichen Hintergründen zu Nutzer*innen des öffentlich bereitgestellten Kulturangebots zu machen, besteht in der Forcierung Kultureller Bildung, vor allem über Kooperationen des Kultursektors mit dem Bildungssektor, die es ermöglichen, alle jungen Menschen unabhängig von ihrem familiären Hintergrund zu erreichen. Mangelndes kulturelles Kapital im Bourdieuschen Sinne könnte demnach durch externe Bildungsmöglichkeiten ausgeglichen werden.
Neben der Implementierung von Kooperationen zwischen öffentlichen Kultureinrichtungen und Schulen sowie Kindergärten und Jugendkultureinrichtungen (u.a. gefördert durch bundesweite Programme wie „Kultur macht stark“, „Kulturagenten für kreative Schulen“, „Kinder zum Olymp“) besteht eine kultur- und bildungspolitische Strategie auch in der Qualitätssteigerung und Professionalisierung von Kulturvermittlung durch Implementierung von Studiengängen. Allein in den vergangenen 25 Jahren ist die Zahl der Studiengänge, die im weitesten Sinne für die außerschulische Kulturvermittlung qualifizieren, in Deutschland auf 365 angewachsen (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft/Blumenreich 2012).
Im Bericht der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland (Deutscher Bundestag 2008) wird der Kulturellen Bildung eine zentrale, kulturpolitische Bedeutung beigemessen als Voraussetzung, das parteiübergreifende Ziel einer „Kultur für alle“ zu realisieren. Und auch in den Programmen der Bundesländer gilt Kulturelle Bildung als zentrales, kulturpolitisches Ziel, auch wenn sich das in den öffentlichen Kultureinrichtungen noch nicht widerspiegelt, wo noch 2010 nur 4% des Budgets für Personal und Maßnahmen Kultureller Bildung verwendet wurden (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2010).
Zugrunde liegt die Überzeugung, dass Menschen, wenn man sie frühzeitig mit Kunst und Kultur in Berührung bringt, auch im späteren Leben ein nachhaltiges Interesse für diese kulturellen Angebote haben. Tatsächlich zeigen Ergebnisse des Jugendkulturbarometers für Deutschland, dass eigene künstlerische Aktivitäten signifikant das Interesse auch an der Rezeption professioneller Kunst erhöhen. Nicht bewahrheitet hat sich hingegen die Vermutung, dass durch Besuche professioneller Kulturveranstaltungen im Rahmen des Schulunterrichts nachhaltig Interesse daran entwickelt wird: Tendenziell erzeugten schulische Besuche eher den gegenteiligen Effekt einer langfristigen Ablehnung hochkultureller Angebote. Ob Interesse an bestimmten, kulturellen Veranstaltungen geweckt wird, hänge vielmehr von der Qualität und einer Vielfalt formaler, non-formaler und informeller Vermittler*innen und Vermittlungsformen ab. Bislang sei das Elternhaus der zentrale Mittler (vgl. Zentrum für Kulturforschung, 2. Jugendkulturbarometer 2012).
Zunehmend wird in Deutschland auch über die Qualität ebenso wie die Ziele Kultureller Bildung diskutiert. Diese werden keineswegs nur in der Enkulturation in das bestehende klassische Kulturangebot gesehen, sondern im aktuellen Diskurs vor allem im Empowerment der Subjekte durch Kulturelle Bildung, die es dem Einzelnen ermöglichen soll, eigene kulturelle Interessen zu entwickeln und auszudifferenzieren, eigene kulturelle Werturteile zu bilden und sich damit auch aktiv in das gemeinschaftliche und öffentlich geförderte Kulturleben einbringen zu können (vgl. u.a. Grundsatzpapiere Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung 2009 und folgende Jahre).
Einerseits soll die Initiierung kultureller Bildungsprozesse also die Chance eröffnen, an den klassischen Kulturangeboten mit Gewinn zu partizipieren, andererseits aber auch dazu verhelfen, eigene kulturelle Interessen herauszubilden und einzubringen unabhängig von bestehenden Normen und Werturteilen.
Veränderung der öffentlich geförderten Kulturlandschaft
Obwohl der Anteil der Besucher*innen klassischer Kultureinrichtungen stagniert bzw. in manchen Bereichen sogar rückläufig ist, bedeutet das nicht, dass nur eine kleine Gruppe von Menschen kulturell aktiv ist. Ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland nimmt kulturelle Angebote jenseits der öffentlich geförderten wahr: seien es solche der privaten Anbieter wie Kino, Popkonzerte, Clubs oder aber „breitenkulturelle“ Angebote wie Chöre oder Tanzgruppen. Insbesondere in ländlichen Regionen sind andere Praktiken kulturellen, bürgerschaftlichen Engagements weit bedeutsamer als der Besuch traditioneller Kulturinstitutionen, die dort kaum vorhanden sind. So gibt es allein im Flächenland Niedersachsen etwa 1.000 Amateurtheatergruppen (vgl. Renz/Götzky 2014). Es ist also davon auszugehen, dass viele Menschen in kulturelle Aktivitäten involviert sind, die nicht zur öffentlich bereitgestellten, kulturellen Infrastruktur gehören, und diese somit nicht in einer offiziellen Statistik als Kulturnutzer erfasst werden.
Vor allem Breiten- und Populärkultur, aber je nach Erscheinungsform auch die Soziokultur, sind Phänomene einer in die Lebenswelt eingebetteten Kultur. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie alltäglicher Teil des Lebens sind und meist im geografischen und sozialen Nahraum von Menschen verortet sind, also Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft (Götzky 2016:457).
Breitenkulturelle Aktivitäten basierten häufig auf ehrenamtlichem Engagement und aktiver Teilhabe. Mit der zivilgesellschaftlichen Tätigkeit werden informelle Räume der öffentlichen Kommunikation geschaffen. Diese sind notwendig, um Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung aus ihrer Alltagswelt in den öffentlichen Raum, d.h. ihren sozialen und geografischen Nahraum zu vermitteln und damit dem Individuum Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten in seiner Lebenswelt zu sichern (ebd:466).
Breitenkultur sei bislang von der Kulturpolitik nur wenig beachtet, so die Einschätzung Götzkys, vielmehr lege diese den Fokus darauf, Menschen als Publikum klassischer Kultureinrichtungen zu gewinnen, um diese zu legitimieren (vgl. ebd.:459). Zentral für den Diskurs um Publikum und Teilhabe müsse aber die Anerkennung von grundsätzlich heterogenen Interessen sein.
Kleberg and Skok konstatierten schon 1993, dass kulturpolitische Maßnahmen mit dem Ziel, ein sozial ausgewogenes Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen zu gewinnen, gescheitert seien und schlugen stattdessen vor, die Definition von kultureller Partizipation zu erweitern durch Aktivitäten wie Zirkus, Sport, Gastronomie und Mode, die in einer breiten Bevölkerung sehr populär seien, statt sich an einer kulturpolitischen Norm bestimmter, als hochwertig geltender Formen zu orientieren (vgl. Kleberg/Slok 1993:182).
Einerseits ließe sich das Problem mangelnder kultureller Teilhabe also dadurch lösen, dass man den offiziellen Kulturbegriff erweitert im Sinne der Cultural Studies und damit das Spektrum dessen, was als „legitime“ Kultur Akzeptanz findet, weit über die öffentlich geförderten Angebote hinaus geht. Andererseits könnte damit jedoch auch der Anspruch erhoben werden auf eine Neuverteilung öffentlicher Kulturfördermittel.
Die heftigste Debatte über öffentliche Kulturförderung in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wurde durch die These vom „Kulturinfarkt“ ausgelöst (Haselbach et al.2012): In Deutschland gäbe es ein Überangebot an öffentlich geförderten Kulturinstitutionen, die weder besondere künstlerische Innovationen hervorbrächten, noch ausreichende Nachfrage und Rückhalt in der Bevölkerung fänden. Produziert würde „von allem zu viel und überall das Gleiche“. Gefordert wurde von den Autoren des „Kulturinfarkts“ zum einen, dass man 50% der Kulturinstitutionen schließen und die frei werdenden Mittel für die Förderung neuer Kulturformen verwenden solle, zum anderen plädierten sie dafür, bei der Entwicklung des kulturellen Angebotes stärker auf marktwirtschaftliche Prinzipien zu setzen, weil diese die realen Interessen der Nachfrager berücksichtigen würden. Die deutschlandweit große Empörung über diese Vorschläge sowohl auf Seiten der Kulturschaffenden als auch der Kulturpolitiker*innen, forciert durch das in der Regel eher wertkonservativ argumentierende überregionale Feuilleton, zeigte, dass in Deutschland derzeit eine Veränderung der traditionellen, institutionellen Kulturlandschaft mit Schließung von Einrichtungen und Neuverteilung der Mittel kaum durchsetzbar ist. Gründe dafür sind nicht nur der Wunsch nach Besitzstandswahrung seitens der Vertreter*innen der Institutionen, sondern auch die berechtigte Befürchtung seitens der Kulturpolitik, dass gewachsene Strukturen mit einem hohen symbolischen Gehalt wegbrechen und mehr noch die dafür verwendeten Mittel komplett gestrichen werden könnten.
Mehr Marktwirtschaft und Ausweitung des privaten Sektors könnten einerseits dafür sorgen, dass das Kulturleben den Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung stärker entspräche und die kulturelle Definitionsmacht bestimmter Bevölkerungsgruppen mit einem hohen sozialen Status zurückgedrängt würde. Andererseits könnten damit eine Reduktion kultureller Vielfalt und eine Tendenz zur Mainstreamisierung einhergehen. Denn Kunst ist nur bedingt markttauglich aufgrund der hohen, nicht zu standardisierenden Herstellungskosten und neue Kunstformen brauchen oftmals Zeit bis sie eine Marktnachfrage erzeugen.
Ein Aufbegehren gegen das bisherige Kulturfördersystem geht aktuell auch von Vertreter*innenn der freien Kulturszene aus (vor allem die Berliner Koalition der freien Szene) sowie vom Kritischen Bündnis junger Kulturaktivisten mit migrantischem Hintergrund, die offensiv Anspruch erheben auf ihren Anteil an öffentlichen Fördermitteln für eigene kulturelle Produktionen. Ihr Ziel ist es, „sich einen Platz im Kulturbetrieb zu erstreiten, eigene Formen von Selbstpräsentation zu entwickeln und stereotypisierende kulturelle Darstellungsmuster und Rassismus zurückzuweisen“ (www.mindthegap.wordpress.com).
Kulturpolitische Expert*innen in Deutschland plädieren in dieser Situation zunehmend diversifizierter kultureller Interessen für eine konzeptbasierte Kulturpolitik (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 2014), die auf der Basis von Kulturentwicklungsplanungen gemeinsam mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen transparente Ziele aushandelt und strategisch umsetzt. Damit könnte den kulturellen Wünschen und Bedürfnissen der Bürger*innen einer Kommune oder Region in ihrer Vielfalt sehr viel mehr entsprochen werden unter Abwägung verschiedener Interessen.
Im Rahmen solcher partizipativer Kulturentwicklungsplanungen würde ein normatives Kulturverständnis in Frage gestellt ebenso wie die ausschließlichen Werturteile einer exklusiven Gruppe kultureller Entscheider (vgl. Föhl/Wolfram 2016). Vielmehr ginge es darum, die Interessen der gesamten Bevölkerung in den Planungsprozessen möglichst repräsentativ einzubringen und partizipativ getroffene Entscheidungen umzusetzen, auch wenn diese dem Expertenurteil entgegenstehen.
Dabei ist jedoch zu bedenken, dass es sehr schwierig ist, Menschen aus nicht kunstaffinen, weniger gebildeten Milieus zu motivieren, sich an Entscheidungen über öffentliche Kulturförderung zu beteiligen, da bei vielen die Überzeugung vorherrscht, sie seien nicht kompetent, sich dazu zu äußern (vgl. Bevölkerungsbefragung anlässlich der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010, Mandel/Timmerberg 2009). Auch gibt es die Erfahrung, dass wiederum die hochgebildeten Milieus die Diskussionen in solchen Kulturentwicklungsplanungen dominieren (vgl. Jancovich 2014:6).
Bei der Frage, wie Nicht-Expert*innen stärker involviert werden können, spielt auch die Größe der Orte und die Anzahl der zu beteiligenden Personen eine wichtige Rolle. Es ist ein arbeitsintensiver Prozess, Mikrostrukturen über kulturell aktive Gemeinschaften ausfindig zu machen und herauszufinden, wer die zentralen Ansprechpartner*innen einer Teilöffentlichkeit sind und wie sie zu beteiligen wären. Bei zunehmender Größe der zu betrachtenden Gemeinschaft scheint es immer schwieriger, dies zu realisieren.
Die Befürchtung, dass Entscheidungen einer breiten Bevölkerung immer nur zur Bestätigung des Mainstreams führen, wird von Leila Jancovic widerlegt mit Verweis auf eine Studie von Fenell et al. (2009) sowie mit Verweis auf das Projekt „Contact“ in Manchester, wo die Bevölkerung über das Theaterprogramm entscheiden konnte (Contact 2011): „The public were more open to risk taking than expected.“ (Jancovic 2014:11)
Als kulturpolitische Strategie für eine größere soziale Gerechtigkeit im öffentlich geförderten kulturellen Leben schlägt auch Anne Torregiani statt Audience Development lokale Kulturentwicklungsstrategien vor, wie sie u.a. in dem vom Arts Council initiierten Programm „Creative People and Places“ realisiert würden: „That really does shift the power. 30 Million pounds have been given to place-based partnerships in towns with low engagement to create cultural programmes and infrastructure in a more open and democratic way.“ (Torregiani 2016). In den USA wurde dafür der Begriff des „creative placemaking“ entwickelt. Ziel ist es, soziale Nahräume wie die Nachbarschaft, das Stadtviertel oder eine Region auf Grundlage der Bedürfnisse sowohl von Bürger*innen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und der regionalen Wirtschaft weiterzuentwickeln. In Deutschland gibt es hierzu erste Ansätze im Ruhrgebiet in der öffentlich geförderten Kulturwirtschaftsinitiative Kreativ-Quartiere.
Kulturpolitische Strategien für eine stärkere soziale Vielfalt des kulturellen Lebens setzen also im Sinne eines Cultural Governance auch auf den Einbezug vielfältiger Akteure in Planungsprozesse, um Perspektiven zu erweitern und zur sozialen Durchmischung beizutragen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nicht allein staatliche Akteure für kulturpolitisches Handeln im Sinne größerer Diversität und vielfältiger Beteiligung am gemeinschaftlichen kulturellen Leben verantwortlich sind, sondern ebenso zivilgesellschaftliche Akteure, Vereine, Stiftungen und auch kulturwirtschaftliche Akteure.
Fazit und Perspektiven
Wenn es das Ziel von Kulturpolitik ist, für öffentlich geförderte Kulturangebote eine Nutzer*innenschaft zu entwickeln, die die Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit repräsentiert, müsste dies, so zeigen die zu Beginn erörterten Ergebnisse, mit einer Erhöhung sozialer Beteiligungschancen durch Bildung und vielfältige kulturelle Selbstbildungsangeboten ebenso wie mit einer substanziellen Veränderung der öffentlichen Institutionen und mehr noch mit Veränderungen der geförderten Kulturlandschaft insgesamt einhergehen.
Audience Development im engeren Sinne kann Kulturinstitutionen zwar attraktiver und relevanter für ein breiteres Publikum machen, jedoch nur geringfügig zur Verringerung sozialer Selektivität der Partizipation am öffentlich geförderten Kulturangebot beitragen. Hierfür müssen die Institutionen sich auch in ihrer Gesamtausrichtung neu aufstellen, wofür in einigen Einrichtungen bereits Ansätze erkennbar sind.
Eine Neuausrichtung des kulturellen Angebots und der Kulturlandschaft insgesamt dürfte aufgrund des Beharrungsvermögens und des hohen Institutionalisierungsgrades der bestehenden Kulturanbieter*innen nur sehr langfristig zu realisieren sein.
Ein Schlüssel, längerfristig eine stärkere Beteiligung der breiten Bevölkerung am öffentlichen Kulturleben zu erreichen, dürfte in der Förderung der Bildung im Allgemeinen und der Kulturellen Bildung im Besonderen liegen. Dabei hängt es von der Qualität der Kulturvermittlungsangebote ab, ob dadurch bestehende kulturelle Werturteile reproduziert werden oder die Fähigkeit gefördert wird, eigenständige Interessen zu entwickeln und aktiv in das öffentliche Kulturleben einzubringen. Letzteres könnte zu einer Erweiterung der „legitimen“ Kulturformen führen und im besten Falle nicht nur zu einem diversen Kulturleben, sondern auch zu neuen interkulturellen Verbindungen und Angeboten, die dazu beitragen, soziale Grenzen mindestens temporär zu überwinden.
Eine Weitung des Kulturverständnisses mit einer höheren Wertschätzung breiten- und alltagskultureller Aktivitäten und einer stärkeren Vernetzung verschiedener kultureller Sphären, Kulturformen verschiedener Herkunftsländer und Milieus würde neue Chancen für ein von vielen getragenes Kulturleben ermöglichen.