Anleiten, begleiten und leitenlassen – Rekonstruktion unterschiedlicher Modi des Anleitungshandelns beim Improvisieren im Musikunterricht
Abstract
Gruppenimprovisation im Musikunterricht wird häufig als äußerst vielversprechende Form der musikalischen Betätigung mit hohem bildungswirksamen Potenzial beschrieben. Dessen ungeachtet liegen besonders für den Bereich des Musikunterrichts in der Sekundarstufe keine empirisch fundierten Erkenntnisse und fachdidaktischen Leitprinzipien vor. Besonders der Bereich des Anleitungshandelns erscheint auch im internationalen Vergleich weitgehend unerforscht. An diesem Punkt setzt der vorliegende Beitrag an und fokussiert das Anleitungshandeln von Lehrkräften im Rahmen von Gruppenimprovisationsworkshops im Musikunterricht. Mittels der Dokumentarischen Methode werden drei Modi des Anleitungshandelns rekonstruiert und in Beziehung zu den Interaktionsprozessen der Schüler*innen gesetzt. Besonders rückt dabei der Begriff der „musical agency“ in den Vordergrund.
Einleitung
Musikalische Improvisation gilt gemeinhin als Akt der Unvorhersehbarkeit. Auch die Soziologin Silvana Figueroa-Dreher (2016:30) bemerkt, dass die „improvisatorische Produktivität ungeplant, ja unplanbar ist“. Eben jene Unterrichtsplanung sowie die Festlegung auf bestimmte Methoden und Sozialformen jedoch stellen einen wesentlichen Teil der Gestaltung von (Musik-)Unterricht dar (Jank 2018). Damit erscheint die Frage nach einer adäquaten didaktischen Rahmung und Begleitung von improvisatorischen Prozessen im Musikunterricht auf den ersten Blick nur schwer zu beantworten (Gagel 2015:139). Der englische Gitarrist, Improvisator und Autor Derek Bailey sieht in der Vermittlung freier Improvisation im Musikunterricht gar einen nicht aufzulösenden Widerspruch:
[A]voiding the establishment of a set of generalised rules and always allowing an individual approach to develop; these are essentials which, in a classroom situation with, perhaps, a large group of people, are in danger of being lost. (1993: 118)
Auch Maude Hickey (2009) griff dieses Paradox bereits vor knapp 15 Jahren auf und überschrieb ihren vielzitierten Aufsatz mit der provokanten Frage, ob Improvisation denn überhaupt gelehrt und vermittelt werden könne. Sie ergreift dabei explizit Position für einen Musikunterricht, der der freien Improvisation einen hohen Stellenwert beimisst und sieht einen Hauptauftrag von Musiklehrkräften darin, „to motivate and inspire students to be free thinkers and improvisers in a way that will serve them for a lifetime“ (2009:296).
Unabhängig von der enormen Spannbreite in der Bewertung des Verhältnisses von Musikunterricht und (Gruppen-)Improvisation zwischen Un-Unterrichtbarkeit (Bailey) und einer nahezu heilsbringenden Wirkung (Hickey) stellt sich jedoch die Frage, wie es denn tatsächlich um die Praxis des Anleitens von Gruppenimprovisationen bestellt ist. Die didaktische Rahmung von Gruppenimprovisationsprozessen im Musikunterricht folgt prinzipiell der etablierten fachdidaktischen Logik von der Auswahl bestimmter Improvisationsimpulse, Spielideen und Reflexionsanlässe über die Durchführung des eigentlichen Unterrichts bis hin zur nachbereitenden Reflexion (Treß 2019). Jedoch wird in der Literatur besonders das Handeln der Lehrkräfte während des gemeinsamen Musizierens und in kurzen Spielpausen als entscheidend für gelingende Gruppenimprovisationen hervorgehoben (Impulsesetzen, Mitmusizieren, Nachbesprechen, etc.). Dieses Anleitungshandeln stellt den Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags dar: Ausgehend von einer jüngst abgeschlossenen Studie zur Gruppenimprovisation im Musikunterricht (Treß 2022) wird zunächst das Anleitungshandeln im Rahmen von Gruppenimprovisationen im Musikunterricht als beinahe unbearbeitetes Forschungsdesiderat herausgestellt. In einem zweiten Schritt erfolgt anhand der Dokumentarischen Interpretation verschiedener Unterrichtssequenzen die Rekonstruktion dreier Modi des Anleitungshandelns in Gruppenimprovisation im Musikunterricht. Diese werden schließlich vor dem Hintergrund weiterer Ergebnisse der Gesamtstudie diskutiert, sowie abschließend Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften formuliert.
Gruppenimprovisation initiieren und anleiten – aus empirischer Sicht ein weitgehendes Desiderat
Zum Thema Improvisation im Musikunterricht allgemein liegen nur sehr wenige empirische Erkenntnisse vor (Larsson/Georgii-Hemming 2019; Siljamäki/Kanellopoulos 2020). Dies gilt besonders für den Bereich des Anleitungshandelns im Rahmen der Gruppenimprovisation im Musikunterricht, der bis dato kaum erforscht ist (Tafuri 2006). Auch Una MacGlone konstatiert jüngst: “[T]here is a gap in knowledge in effective pedagogical approaches to teaching improvisation for young children in groups bigger than three” (2020:61). Eine deutschsprachige Ausnahme stellt eine Interviewstudie von Verena Seidl dar, die 2016 improvisationsaffine Akteur*innen aus unterschiedlichen musikpädagogischen Bereichen hinsichtlich ihres Improvisationsverständnisses sowie zu von ihnen typischerweise verwendeten Materialien, Aufgabenimpulsen und Anleitungsstrategien befragte. Seidl arbeitet unter anderem heraus, dass Anleitende von Gruppenimprovisationen generell in unterschiedlichen Modi agieren, wie beispielsweise als „Beobachter“, „Moderator“ (2016:89), „Impulsgeber“ (2016:104), „Begleiter“ und „Anstifter“ (2016:106). Da sie ihre Erkenntnisse allerdings ausschließlich auf der Basis von Gesprächsanalysen gewinnt, bietet Seidls Studie lediglich Auskünfte hinsichtlich der Selbstwahrnehmung der Anleitenden. Der performative Vollzug bzw. die Praxis des Anleitungshandelns bleibt auch in ihrer Studie unberücksichtigt.
Projektkontext
Die folgenden Interpretationsausschnitte entstammen einer Promotionsstudie zur Gruppenimprovisation im Musikunterricht (Treß 2022b), die unter anderem das skizzierte Desiderat adressiert. Die Gesamtstudie kombiniert ein fachdidaktisch-entwicklungsorientiertes und ein rekonstruktives Forschungsvorgehen. Dabei steht einerseits die Gestaltung und Weiterentwicklung eines konkreten Unterrichtsdesigns sowie die empirisch informierte Generierung von Gestaltungsprinzipien für die Initiierung und Begleitung von Gruppenimprovisation im Musikunterricht im Zentrum (Buchborn 2022; Treß et al. 2022). Außerdem eröffnen sich dadurch methodisch fundierte Einblicke in die improvisatorischen und unterrichtlichen Interaktionsprozesse der am Unterricht beteiligten Akteur*innen. Das Improvisationsverständis der Studie entspricht einer möglichst voraussetzungslosen und niederschwelligen Auseinandersetzung mit freier Improvisation ausgehend von Körper- und Stimmklängen (Treß 2022:115-124). Zwar liegt der Hauptfokus der Studie auf der Rekonstruktion der improvisatorischen Praxis der Schüler*innen (vgl. ebd.:177-227), jedoch bietet die iterative und über mehrere Zyklen erfolgende Veränderung der institutionellen und fachspezifischen Rahmenbedingungen und Anforderungen sowie die enge Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Musiklehrkräften auch aufschlussreiche Erkenntnisse hinsichtlich der Praxis des Anleitungshandelns von Gruppenimprovisationen im Musikunterricht.
Methodologischer Rahmen
Die methodologische Grundlage der Studie bildet die Praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2017). In ihrem Zentrum stehen zwei konträre Wissensdimensionen, die in einem andauernden Spannungsverhältnis zueinander liegen: Die propositionale Logik umfasst sämtliche Formen institutionellen Wissens, normative Erwartungen und Rollen sowie Common-Sense-Theorien der Akteur*innen (Bohnsack 2017:92). Im Unterschied dazu wird ein in gemeinsam erlebten oder strukturell vergleichbaren Situationen angeeignetes (implizites) Wissen um den Vollzug einer Praxis der sogenannten performativen Logik zugeordnet (93). Das Spannungsverhältnis zwischen beiden gegensätzlichen Logiken und Wissensbereichen wird von Ralf Bohnsack schlagwortartig auch als „notorische Diskrepanz zwischen Theorie und Handlungspraxis, [oder] Norm und Habitus“ (56) bezeichnet. Zur Überwindung dieses Spannungsverhältnisses bedarf es nun der Emergenz eines „interaktiven konjunktiven Erfahrungsraumes“ (121), dessen Initiierung maßgeblich vom professionalisierten Handeln der Lehrkräfte abhängt (Bohnsack 2020).
Die Praxeologische Wissenssoziologie ist untrennbar mit ihrem methodischen Zugang, der „Dokumentarische[n] Methode“ (Bohnsack et al. 2013) verknüpft. Diese erwies sich in der Forschungspraxis als besonders geeignet, um der Komplexität der unterrichtlichen Interaktionsprozesse gerecht werden zu können. Da der analytische Fokus dabei weitgehend auf der rekonstruktiven Analyse videografischen Datenmaterials lag, ermöglichte das eigens für musikalische Interaktionsprozesse erweiterte Verfahren der dokumentarischen Videointerpretation zudem einen aufschlussreichen Zugang zum performativen Vollzug musikalischer Handlungspraxis (Treß 2022:160-166). Als Kernergebnis der Studie konnte so eine „Typik der Interaktionsphasen in angeleiteten Gruppenimprovisationen“ (227) rekonstruiert werden. Zwar boten sich im Laufe des Forschungsprozesses vielfältige Einsichten bezüglich des Anleitungshandelns von Musiklehrkräften in Gruppenimprovisationen, jedoch wurde in dieser Hinsicht keine systematische und auf dem Prinzip der „komparativen Analyse“ (Bohnsack 2017:122) beruhende Rekonstruktion vorgenommen. Die folgenden Interpretationsergebnisse sind daher nicht als umfassend angelegte Typisierung zu verstehen, sondern lediglich als erster empirischer Schritt in Richtung einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Anleitungshandeln von Musiklehrkräften im Rahmen von Gruppenimprovisationsprozessen.
Rekonstruktive Erkenntnisse:
In den folgenden drei Teilabschnitten werden die empirischen Erkenntnisse der vorliegenden Studie hinsichtlich des Anleitungshandelns von Gruppenimprovisationen im Musikunterricht dargelegt. Zur besseren Nachvollziehbarkeit werden sowohl Videografien als auch Transkriptausschnitte verwendet anhand derer die jeweilige Dokumentarische Interpretation nachvollziehbar gemacht werden soll. Einen genaueren Einblick in die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Untersuchung findet sich an anderer Stelle (Treß 2022: 147-173).
Modus des Anleitens: Setzen eines klaren Rahmens durch die Einforderung der Einhaltung vereinbarter Spielregeln
Die erste Sequenz zeigt einen Teil einer siebten Klasse eines Gymnasiums im Rahmen eines eintägigen Improvisationsworkshops sowie die reguläre Musiklehrkraft. Die Gruppe steht rund um am Boden markierte Interaktionsfelder, die je nach Feld unterschiedliche Spiel- und Materialvorgaben enthalten. Beim Betreten des jeweiligen Feldes sollen entsprechend den Vorgaben bestimmte Klänge und Geräusche produziert werden (Betzner-Brandt 2011).
Die Lehrkraft erläutert zunächst die genauen Vorgaben und Spielregeln im Zusammenhang mit dem Interaktionsfeld anhand eines an die Wand projizierten Bildes und gibt der Gruppe anschließend ein verbales Startsignal („und los“).
Direkt im Anschluss an das Startsignal betritt ein Schüler (Viktor) das vor ihm liegende Interaktionsfeld mit locker gefalteten Händen, ohne einen musikalischen Akt zu vollziehen. Die umstehenden Akteur*innen richten ihre Blicke unmittelbar in Richtung Viktor und die Lehrkraft weist den Schüler umgehend auf die Spielregel hin: Das Betreten eines Feldes müsse prinzipiell mit der Produktion von Klang einhergehen (vgl. Transkriptausschnitt). In der Proposition im Modus des Kausalschlusses (Wenn … dann) seitens der Lehrkraft dokumentiert sich eine Orientierung an der Vermittlung eines klaren Referenzrahmens zur Initiierung musikalischer Interaktion entsprechend der Feldvorgaben. Das direkte Einfordern der Einhaltung festgelegter Spielregeln sowie die zuvor erfolgte lehrkraftzentrierte Instruktionsphase offenbaren zudem eine Orientierung der Lehrkraft an der Etablierung und Aufrechterhaltung unterrichtlicher Ordnung, wie sie für (Fach-)Unterricht typisch ist (Asbrand/Martens 2018:102). Das hier rekonstruierte Handeln der Lehrkraft kann somit als aktive Form der Lenkung des interaktiven Geschehens bezeichnet werden und wird daher als Modus des Anleitens gefasst.
Modus des Begleitens: Initiierung sachbezogener Eigenkonstruktionen der Schüler*innen
Die zweite für den Beitrag ausgewählte Sequenz zeigt ebenfalls einen Ausschnitt aus einer Unterrichtseinheit zur Gruppenimprovisation einer anderen siebten Klasse. Auch in diesem Fall agiert ein Klassenteil (3 Jungen, 2 Mädchen, Lehrkraft) in einer Gruppenarbeitsphase. Der in dieser Phase von der Gruppe explorierte Improvisationsimpuls „Klangzellen“ (Treß 2022a:11) sieht vor, dass die im Stehkreis befindlichen Akteur*innen eine mit geschlossenen Augen in der Mitte stehende Person mittels zuvor ausgehandeltem musikalischen Materials durch den Raum führen (vgl. Abb. 2). Wie im folgenden Transkriptausschnitt eines direkt an die Unterrichtsstunde angeschlossenen Reflexionsgespräch mit der Musiklehrkraft deutlich wird, agiert diese hier in einem gänzlich anderen Modus als in der vorigen Sequenz:
Die Musiklehrkraft beschreibt hier zunächst den interaktiven Aushandlungsprozess der Schüler*innen zur Festlegung des musikalischen Materials im Rahmen der Gruppenarbeitsphase, der der eigentlichen Musizierphase vorausgeht (Z. 232-237). Der Transkriptausschnitt macht deutlich, dass die Lehrkraft in dieser Phase an der Initiierung und Ermöglichung „sachbezogener Eigenkonstruktionen“ (Martens/Asbrand 2021:67) seitens der Schüler*innen orientiert ist. Durch eine gewisse ‚Zurückhaltung‘ (Z. 235) bzw. durch das bewusste Vermeiden sachbezogener Lenkung („wollte natürlich nicht so viel Input geben“; Z. 235-236) widersteht sie in dieser Phase den Erwartungshaltungen der Schüler*innen, die auf Grund der für Unterricht typischen „asymmetrische[n] Rollenstruktur“ (Luhmann 2002:108) offenbar fest mit der fachlichen Unterstützung der Lehrkraft rechnen („obwohl sie das auch von mir erwartet haben“; Z. 246). Die Lehrkraft wertet diesen Handlungsmodus dabei selbst als gewissen Kontrast zum Modus des ‚Anleiten[s]‘ (Z. 245-246). Trotz der Zurückhaltung im vorgeschalteten Aushandlungsprozess, beteiligt sich die Lehrkraft anschließend aktiv an der musikalischen Exploration des Improvisationsimpulses (vgl. Abb. 2). Sie bewertet diese im Nachhinein als „schön“ und „gut funktionier[end]“ (Z. 237-239). Die Zurückhaltung seitens der Lehrkraft einerseits bei gleichzeitig aktiver musikalischer Beteiligung in der Improvisationssituation wird hier als Modus des Begleitens gefasst.
Modus des Sich-Leitenlassens:
Der dritte Ausschnitt stammt aus dem Datenmaterial des bereits vorgestellten eintägigen Improvisationsworkshops (vgl. Sequenz 1). Der folgende Transkriptausschnitt zeigt dieselbe Gruppe noch immer im Interaktionsfeld agierend, jedoch einige Minuten später. Nachdem die Schüler*innen und die Musiklehrkraft einige Zeit im Feld musizierten, unterbricht die Lehrkraft die Gruppe und schlägt eine Änderung der Spielregeln vor:
Die von der Lehrkraft proponierte Änderung der bisherigen Feldvorgaben sieht vor, das in der Mitte liegende Feld nicht mehr als ‚Groove‘-Feld (vgl. Abb. 1) zu nutzen, sondern als „Mute-Feld“. Seinem Vorschlag zufolge soll die Gesamtgruppe umgehend pausieren, sobald eine beliebige Person das mittlere Feld betritt. Die Schüler*innen beginnen daraufhin erneut in den jeweiligen Feldern zu musizieren. Jedoch erweist sich die Umsetzung der geänderten Spielregel in der Handlungspraxis als schwierig, da die Ansage der Lehrkraft lediglich Informationen darüber enthält, was jene Akteur*innen im Falle des Betretens des Mute-Felds zu tun haben, die außerhalb des mittleren Feld stehen. Für die jeweilige Person, die das Mute-Feld betritt, werden keine weiteren Vorgaben gemacht. Aufgrund dieser Unschärfe der Vorgabe entsteht zunächst eine allgemeine Unruhe: Mehrere Schüler*innen betreten teilweise zur gleichen Zeit das mittlere Feld und vollziehen dort div. musikalische Akte, ohne dass die weiteren Akteur*innen verstummen, wie es die neu eingeführte Spielregel eigentlich vorsieht. Die Schüler*innen verstricken sich schließlich in verbale Auseinandersetzungen über die vermeintlich ‚richtige‘ Deutung der Regeländerung und die musikalische Interaktion kommt komplett zum Erliegen.
In diesem Moment wirft Rodolfo beide Arme in die Luft, zeigt in Richtung mittleres Feld und schlägt vor, die Regeländerung der Lehrkraft erneut abzuwandeln bzw. zu konkretisieren (vgl. Fotogramm 2 im Transkript): Statt lediglich den Außenstehenden zu signalisieren, dass diese beim Betreten des mittleren Feldes umgehend verstummen sollen, sieht Rodolfos Änderungsvorschlag gleichzeitig vor, dass das mittlere Feld in exponierter Form für solistische musikalische Akte genutzt werden soll. Rodolfo blickt während des Erläuterns seines Änderungsvorschlags in Richtung Musiklehrkraft. Nachdem diese ihre Zustimmung äußert beginnen sämtliche Akteur*innen erneut und unmittelbar mit der musikalischen Interaktion.
Während die Lehrkraft in dieser Sequenz zunächst im lehrkraftzentrierten Modus des Anleitens agiert (Proposition einer Regeländerung), dokumentiert sich im weiteren Verlauf ebenfalls eine Orientierung an der Initiierung sachbezogener Eigenkonstruktionen durch die Schüler*innen. Die Anhörung, Übernahme und nahtlose Integration schüler*innenseitiger Änderungs- und Optimierungsvorschläge hinsichtlich der didaktischen Rahmung bzw. der fachspezifischen Anforderungen deutet dabei auf einen fachspezifischen Interaktionsmodus hin. Dieser kann vom lehrkraftzentrierten Anspruch des Anleitens und auch von defensiv-zurückhaltendem Begleiten deutlich abgegrenzt werden kann: Die Regelvorgaben zur gemeinsamen musikalischen Improvisation werden von sämtlichen Beteiligten im Rahmen der musikalischen Praxis ausgehandelt und teilweise erst im Vollzug konstituiert. Aus der Perspektive der Lehrkraft kann deshalb in dieser Sequenz von einem Modus des Sich-Leitenlassens gesprochen werden, der besonders dadurch gekennzeichnet ist, dass sich etablierte „asymmetrische Rollenstruktur[en]“ (ebd.) zumindest phasenweise im Vollzug der Handlungspraxis angleichen.
Die Vielschichtigkeit des Anleitungshandelns in Gruppenimprovisationen
Grundsätzlich zeigen die Analysen, dass sich Anleitende auf Grund der interaktionalen Kontingenz der jeweiligen Unterrichtssituation in permanenter Spannung zwischen dem Zurückhalten und Aushalten von Unsicherheit(en) einerseits (Treß 2023) und dem feinfühligen Eingreifen und Nachjustieren, um Überforderung und Frustration zu vermeiden, andererseits bewegen. Neben den drei ausführlich beschriebenen Formen des Anleitungshandelns konnten in der Gesamtstudie noch weitere Modi rekonstruiert werden (Treß 2022:286-287): Während der bereits dargestellte Modus des aktiven Begleitens und Mitmusizierens für Lehrkräfte die Möglichkeit bietet, handlungspraktische und musikalisch-ästhetische Impulse zu setzen und somit aktiv auf das musikalische Geschehen in der Gesamtgruppe einzuwirken (Treß i.E.), erwies sich der gegenteilige Fall des Sich-Enthaltens von jeglicher musikalischen Beteiligung an der Improvisation als ebenso einflussreicher Modus. Derartige Formen des Zurücktretens und Geschehenlassens öffnen für die musizierenden Schüler*innen einen Raum zur Exploration individueller und kollektiver Akte und Praktiken, ohne dass diese im permanenten Vergleich zur musikalischen Performanz der anleitenden Lehrkraft zu stehen drohen. Nicht aktiv mit zu musizieren bietet dabei auch für Anleitende selbst eine zumindest temporäre Entlastung vom permanenten Handlungsdruck im Unterricht. Gleichzeitig ermöglicht ein phasenweiser Rückzug aus der musikalischen Handlungspraxis einen Blick von außen auf das musikalische Geschehen, der vor allem hinsichtlich individueller oder gruppenspezifischer Rückmeldungen von hoher Bedeutung sein kann.
Das Anleitungshandeln im Verhältnis zur „eigensinnigen“ Praxis der Schüler*innen
Die vielfältig gearteten Formen des Anleitungshandeln der Lehrkräfte sind nicht für sich stehend zu interpretieren, sondern befinden sich in andauernder Wechselwirkung mit der Praxis der Schüler*innen. Daher werden nun die rekonstruierten Modi des Anleitungshandelns in direkten Bezug zur bereits erwähnten „Typik der Interaktionsphasen in angeleiteten Gruppenimprovisationen“ (Treß 2022:227) gesetzt. Im Rahmen der Typenbildung der Gesamtstudie konnten drei aufeinanderfolgende Phasen der musikalischen Handlungspraxis der Schüler*innen rekonstruiert werden: Vor allem zu Beginn der jeweiligen Interventionen oder auch im Zusammenhang mit neu eingeführten Improvisationsimpulsen wurden unterschiedliche Arten der Distanzierung von der geforderten Sache des Unterrichts in Form von Ironisierungen oder kollektivem Kichern und Lachen der Schüler*innen erkennbar. Die zweite Phase der Etablierung und Aufrechterhaltung habitueller Übereinstimmung offenbarte vielfältige Formen aktionistischer und explorativer musikalischer Akte und Praktiken der Schüler*innen, die häufig an bereits etablierte Wissensbestände und Erfahrungsräume anschlossen (Beatboxing, Einbezug von Popsong-Fragmenten, peerspezifische Bewegungschoreographien, etc.). Für die dritte Phase der Kollektiven Integration und Steigerung musikalischer Akte waren schließlich tonhöhenbezogene, tonale oder auch pulsbezogene Formen der musikalischen Koordination und Steigerung charakteristisch.
Die oben rekonstruierten Modi des Anleitungshandelns erwiesen sich in diesem Zusammenhang als entscheidende didaktische Einflussfaktoren zur Überwindung der ersten Phase der Distanzierung bzw. zur Initiierung eines Übergangs in die zweite Phase der Etablierung und Aufrechterhaltung habitueller Übereinstimmung. Die relativ restriktive Form des Anleitens und die damit einhergehende Vermittlung eines klaren Referenzrahmens in Kombination mit der Einforderung der Einhaltung vereinbarter Spielregeln entlastete die Schüler*innen vor allem zu Beginn der Auseinandersetzung mit musikalischer Gruppenimprovisation vom hohen Maß an Kontingenz und der handlungspraktischen Entscheidungsfreiheit, die mit musikalischer Improvisation einhergeht. Klare Ansagen, deutliche Einschränkungen des improvisatorischen Möglichkeitsraumes hinsichtlich des zu verwendenden musikalischen Materials und Interaktionsstrategien sowie die oben bereits dargestellte Einforderung der Einhaltung formulierter Spielregeln dienten damit einer didaktisch intendierten Reduktion von Komplexität.
Der zweite und dritte rekonstruierte Modus des Begleitens bzw. des Sich-Leitenlassens wiederum begünstigte – wie bereits erwähnt – in entscheidendem Maße die Ermöglichung „sachbezogener Eigenkonstruktionen“ (Martens/Asbrand 2021:67) und diente insofern direkt der Unterstützung einer aktionistischen Suche nach einem „eigensinnigen Zugang zur Sache“ (Bohnsack 2020:99) des Unterrichts durch die Schüler*innen. Insofern stehen die Ergebnisse in direktem Zusammenhang mit den Erkenntnissen von Guro Gravem Johansen et al. (2019:269) bezüglich veränderter unterrichtlicher Machtverhältnisse beim Anleiten von Gruppenimprovisation, wenn diese schreiben: „[We] have addressed the importance of yielding power for the benefit of the participants“. Durch das Zurückhalten der Lehrkräfte in Aushandlungsphasen und durch die aktive Einbeziehung von Vorschlägen und Änderungswünschen der Schüler*innen zur Gestaltung der didaktischen Rahmung der Gruppenimprovisationssituationen öffnete sich für die Schüler*innen in den Interventionen vielfach ein Raum für die Erfahrung von Handlungsmacht, Eigenverantwortung und Gestaltungsspielraum. An anderer Stelle konnte zudem gezeigt werden, dass derartige Anleitungspraktiken und der dabei sich vollziehende Ko-Konstruktionsprozess im Unterricht bzw. in der musikalischen Praxis selbst eine wesentliche Bedingung für die Etablierung einer „konstituierenden Rahmung“ (Bohnsack 2020: 32) und allgemeiner auch für professionalisierten Musikunterricht darstellt (Treß 2023, i.E.). Die Initiierung eigener musikalischer Ideen durch die Schüler*innen selbst, deren ausdrucksstarke und selbstbewusste Verwirklichung teils auf der Basis bereits angeeigneter musikalischer Erfahrungen und Wissensbestände sowie die Übernahme von Verantwortung für das eigene musikalische Handeln beschreibt Jackie Wiggins (2016:115) als wesentliche Qualitäten einer „musical agency“.
Fazit und Ausblick
Im Rahmen des vorliegenden Beitrages wurde das Anleitungshandeln von Musiklehrkräften in Gruppenimprovisationen im Musikunterricht als ein entscheidendes Desiderat in der musikpädagogischen Forschung aufgegriffen. Aus einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive wurden ausgehend von diesem Befund mittels der Dokumentarischen Methode drei Modi des Anleitungshandelns von Lehrkräften rekonstruiert und in Beziehung zu weiteren rekonstruktiven Erkenntnissen hinsichtlich der Handlungs- und Interaktionsprozesse der Schüler*innen in Gruppenimprovisationen gesetzt. Dabei wurde erkennbar, dass das Anleitungshandeln der Lehrkräfte maßgeblich zur Initiierung und Ermöglichung einer „musical agency“ (Wiggins 2016:115) beiträgt. Die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Funktionen und Rollen der Anleitenden birgt dabei aber auch ein hohes Anforderungspotenzial hinsichtlich der benötigten Kompetenzen für die Initiierung und Begleitung von Gruppenimprovisation im Musikunterricht. Sowohl die vorliegenden Ergebnisse als auch die der Gesamtstudie (Treß 2022) geben damit ein äußerst hoffnungsvolles Bild hinsichtlich der vielfältigen Potenziale von Gruppenimprovisation im Musikunterricht ab. Da der Improvisation im Musikunterricht bis dato jedoch lediglich eine marginale Bedeutung zukommt (Fiedler/Handschick 2014), bedarf es einer umfassenden Verankerung von improvisationsspezifischen Erfahrungsmöglichkeiten, der Vermittlung von Methoden, Anleitungsstrategien und nicht zuletzt der eigenen improvisatorischen Praxis im Rahmen des Lehramtsstudiums und der gezielten Ausrichtung diesbezüglicher Weiterbildungsangebote. Denn nur auf diesem Weg werden (zukünftige) Musiklehrkräfte in die Lage versetzt, diese Potenziale in ihrem eigenen Unterricht tatsächlich entfalten zu können (Treß 2019).