Amateurtheater im peripheren Raum von Ländlichkeit
Abstract
Wie lassen sich so unscharfe Begriffe wie Ländlicher Raum und Amateurtheater in ihren Wechselwirkungen beschreiben? Was ist der Ländliche Raum? Was ist das Amateurtheater? Welche Bedeutung haben Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen jenseits der Städte? Welche Praktiken, welcher Theaterbegriff zeichnen die Arbeit der Amateurtheatervereine aus? Führt die Situation im ländlichen Räumen als Rahmung des Zusammenlebens zu kulturpädagogisch bzw. bildungs- und kulturpolitisch anderen Handlungsstrategien als in urbanen Räumen? Sind andere Wege für die Förderung des Amateurtheaters notwendig, die dem Kultur- und Bildungsverständnis der Ländlichkeit Rechnung tragen? Was ist die Rolle der Theaterpädagogik? Welche gegenwärtigen und zukünftigen Strategien entwickelt der Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT), um mit seiner Arbeit den Herausforderungen im Raum von Ländlichkeit zu begegnen? Der Beitrag geht diesen Fragen nach, gibt versuchsweise Antworten, wenngleich eine breite (theater-)wissenschaftliche Forschungsgrundlage noch fehlt, und skizziert mögliche Rahmungen und spezifische kulturelle Praktiken von Amateurtheatervereinen. Amateurtheatervereine, so eine These des Beitrages, leisten im ländlichen Raum kulturelle Grundversorgung. Die intrinsisch motivierten Bildungsprozesse verlaufen abseits urbaner Zentren in den Arenen und Theatralitätsgefügen der Peripherie von Ländlichkeit. In dieser Perspektive kann Kulturförderung von „Lebenskunst“ und „Gemeinsamkeit“ in ländlichen Räumen nach top down Prinzip kaum erfolgreich sein. Vielmehr befördert sie so, dass aus dem Strukturwandel ein unüberbrückbarer sozial- und kulturpolitischer Graben wird.
Einleitung
Die Programme „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes (Kulturstiftung des Bundes 2016) und „LandKULTUR – Kultur und Teilhabe in ländlichen Räumen“ aus dem Bundesprogramm Ländliche Entwicklung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL 2018) sind nur zwei von zahlreichen förderpolitischen Leuchttürmen, die den neuen Stellenwert der Kultur im ländlichen Raum sichtbar machen. Auch wenn die Kulturpolitische Gesellschaft in ihrer großen Bestandsaufnahme zu kulturellen Aktivitäten im ländlichen Raum (Kulturpolitische Gesellschaft 2015) auf das sich seit Jahrzehnten wellenförmig wiederholende Interesse an der Kultur im ländlichen Raum hinweist, stellt sich doch die Frage, warum gerät die Kultur im ländliche Raum aktuell in den Fokus von Politik, Kultur und den damit verwobenen gesellschaftlichen Diskursen und wissenschaftlichen Disziplinen? Diese Frage ist nicht explizit Gegenstand dieses Beitrages. Doch sie ist es implizit bei allen Fragen nach dem Amateurtheater im ländlichen Raum. Dabei erweisen sich jegliche Antworten auf Fragen etwa nach der Bedeutung von Amateurtheatervereinen in ländlichen Räumen oder ihren spezifischen Praktiken und den Inhalten ihrer Theaterarbeit als problematisch. Denn Amateurtheater im ländlichen Raum ist in zweifacher Hinsicht, geographisch und wissenschaftlich, Theater im peripheren Raum. Es findet geographisch, aus der Perspektive der urbanen Zentren, abseits und lokal begrenzt statt.
Überblick zur Forschungslage „Amateurtheater im ländlichen Raum“
Auch aus wissenschaftlicher Perspektive ist Amateurtheater nur punktuell und am Rande Gegenstand der Forschung; zumeist als Teilaspekt der theaterpädagogischen Perspektive oder im Rahmen allgemeinerer Untersuchungen zur Kulturellen Bildung. Eine theaterwissenschaftliche Forschung zum Amateurtheater bildet nach wie vor ein großes Desiderat, dem in einem ersten Schritt mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekt „Fremde spielen. Amateurtheater als Medium informeller und non-formaler transkultureller Bildung“ (2017 – 2019) am Centre of Competence for Theatre (CCT) der Universität Leipzig begegnet wird. Forschungsgegenstand ist hierbei nicht explizit die Rolle des Amateurtheaters im ländlichen Raum, sondern „die grundsätzliche Frage, wie Amateurtheater in Zeiten von Globalisierung, konstanter Migration, kultureller Hybridisierung und fundamentalistischen Gegenbewegungen gegen (das) Fremde als eine Ressource transkultureller Bildungsarbeit fungieren kann“ (Heeg 2018). Implizit fließen Ansätze und erste Befunde des noch laufenden Forschungsprojektes in die Betrachtung des Amateurtheaters in ländlichen Räumen ein, dennoch kann dabei auf keine systematischen Ergebnisse oder entsprechende Forschungsliteratur zurückgegriffen werden. Der folgende Beitrag kann die Rahmung der Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen nur skizzieren. Er ist mithin der Versuch, Perspektiven für den weiteren allgemeinen, kulturpolitischen und wissenschaftlichen Diskurs zum (Amateur-)Theater im ländlichen Räumen aufzuzeigen.
Dafür folgt der Beitrag den drei Leitfragen: Welche Bedeutung haben Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen jenseits der Metropolen? Welche besonderen Praktiken und Inhalte zeichnet die Arbeit dieser Amateurtheatervereine aus? Führt die Situation in ländlichen Räumen als Rahmung des Zusammenlebens zu kulturpädagogisch bzw. bildungs- und kulturpolitisch anderen Handlungsstrategien als in urbanen Räumen?
Daran anschließend knüpfen sich die weiterführenden Fragestellungen an: Bieten sich andere Wege bzw. Formate für die Förderung des Amateurtheaters an; möglicherweise mit einem anderen Kultur- und Bildungsverständnis als in der Stadt? Gibt es im Hinblick auf kulturelle Vermittlungsarbeit spezifische theaterpädagogische Konzepte? Und abschließend Fragen nach gegenwärtigen und zukünftigen Strategien auf der verbandlichen Ebene der kulturpolitischen Vertreter*innen des Amateurtheaters: Welche Aufgaben sieht der Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT), um mit seiner Arbeit in ländlichen Räumen den Herausforderungen des demografischen Wandels zu begegnen? Welche konzeptionellen und strategischen Perspektiven für die Förderung des kulturellen Engagements für das Amateurtheater ergeben sich aus den Folgen des Strukturwandels ländlicher Regionen?
Ausgangspunkte für die Suche nach potentiellen Antworten sind einerseits empirische Ergebnisse aus Studien zum Amateurtheater und zum ländlichen Raum, andererseits theoretische Ansätze wie der Arenenbegriff von Jörg Zirfas (Zirfas 2015/2016) und das Konzept der Theatralitätsgefüge von Rudolf Münz (Münz 1998). Fragestellungen und Bedingungen möglicher Antworten bzw. Herausforderungen und Perspektiven werden an fünf Beispielen und Modellen aus dem Spektrum des BDAT diskutiert.
Bezogen auf empirische Grundlagen stützt sich der Beitrag auf die aktuellen Studien von Thomas Renz und Doreen Götzky (Renz/Götzky 2014), Beate Kegler (Kegler 2018), die sich in ihren Arbeiten jedoch auf Niedersachsen beschränken, sowie einer vom Autor erstellten Statistik zu Amateurtheatervereinen in ländlichen Räumen, basierend auf Daten des Bundes Deutscher Amateurtheater e.V. (BDAT) und der Studie zur Ländlichkeit von Patrick Küpper (Küpper 2016).
Amateurtheatervereine und Ländlichkeit
Wer, wie skizzenhaft auch immer, Überlegungen zur Situation der Amateurtheater in ländlichen Räumen anstellen will, steht vor zwei grundsätzlichen Herausforderungen. Weder lässt sich Amateurtheater so definieren, dass der Gegenstand in seiner Diversität erfasst wird, noch liegt derzeit eine allgemeine Definition der ländlichen Räume vor.
Der Beitrag folgt bezogen auf die ländlichen Räume der Studie von Küpper und der darin entwickelten Typisierung sowie dem Begriff von „Ländlichkeit“. „Die Typisierung erfolgt anhand von zwei Dimensionen. Zum einen wird Ländlichkeit genutzt, um die ländlichen Räume von nicht-ländlichen Räumen abzugrenzen und um innerhalb dieser Raumkategorie zwischen eher ländlichen und sehr ländlichen Räumen zu unterscheiden. Der Begriff Ländlichkeit wurde gewählt, um zu verdeutlichen, dass die Abgrenzung nicht anhand eines Dichotomiemodells, das Verdichtungsraum und ländlichen Raum als unvereinbaren Gegensatz begreift, sondern nach dem Kontinuummodell erfolgt. […] Zum anderen werden die ländlichen Räume anhand der Dimension sozioökonomische Lage in solche mit guter und weniger guter sozioökonomischer Lage weiter ausdifferenziert. […] Durch die Kombination der beiden Dimensionen werden somit neben den nicht-ländlichen Räumen vier Typen ländlicher Räume unterschieden“ (Küpper 2016:3): (1) Sehr ländlich und weniger gute sozioökonomische Lage, (2) eher ländlich und weniger gute sozioökonomische Lage, (3) sehr ländlich und gute sozioökonomische Lage und (4) eher ländlich und gute sozioökonomische Lage (Küpper 2016:4). Die Indikatoren der Dimension der Ländlichkeit sind „Siedlungsdichte, Anteil der land- und forstwirtschaftlichen Flächen an der Gesamtfläche, Anteil der Ein- und Zweifamilienhäuser an allen Wohngebäuden, regionales Bevölkerungspotenzial, Erreichbarkeit großer Zentren“ (Küpper 2016:5).
Zur Erfassung der Dimension „sozioökonomische Lage“ werden die Indikatoren „Arbeitslosenquote, Bruttolöhne und -gehälter, kommunale Steuerkraft, Wanderungssaldo der 18- bis 29-Jährigen, Wohnungsleerstand, Lebenserwartung, Schulabbrecherquote“ (Küpper 2016:14) herangezogen. „Zusammengefasst sind 267 der 361 Kreisregionen in Deutschland ländlich […]. Hier leben 57,2% der Einwohner auf 91,3% der Fläche. Die Bevölkerungsanteile der vier Typen ländlicher Räume sind relativ ausgeglichen und liegen zwischen ca. 11 und 16%“ (Küpper 2016:27).
Die Typisierung der Ländlichkeit erscheint im Hinblick auf das gesamte Bundesgebiet als hilfreiche Kontextualisierung, um davon ausgehend in konkreten Fallstudien Abweichungen untersuchen zu können. So betont die Studie auch die Heterogenität der Ländlichkeit und warnt vor einer normativen Zuschreibung. „Das hier erarbeitete Verständnis von Ländlichkeit als morphologisches, funktionales und relationales Kontinuum widerspricht also dem überholten Verständnis eines soziokulturellen Stadt-Land-Kontinuum. […] In dieser Diskussion wurde von der Position auf dem Stadt-Land-Kontinuum auf den jeweiligen Lebensstil geschlossen und ein Ausbreitungsprozess von den urbanen Zentren im Sinne einer Modernisierung unterstellt“ (Küpper 2016:29). Die Studie kritisiert also jene Perspektive, die vom Zentrum, dem urbanen Raum, ausgehend auf die Peripherie, den ländlichen Raum, blickt und die, so eine These dieses Beitrages, gerade im Kunst- und Kulturbereich bestimmend ist.
Vergleicht man die Befunde der Studie mit den Daten des BDAT, so zeigt sich eine deutliche Verschiebung. Von den insgesamt 2515 Amateurtheatervereinen, die Mitglied im BDAT sind, befinden sich 1708 im ländlichen Raum. Das sind 68% der Bühnen. Der Anteil der Bevölkerung im ländlichen Raum liegt zum Vergleich bei 57,2%. Während die Verteilung innerhalb der Typologie gesamtgesellschaftlich ausgewogener zwischen 11 und 16% liegt, sind 40% der Amateurtheatervereine im ländlichen Raum in einer eher ländlichen Umgebung mit guter sozioökonomischer Lage verortet. Amateurtheater ist also, diese Schlussfolgerung lassen die Daten zu, ein zum überwiegenden Teil in der Peripherie der Ländlichkeit aktiver Kulturträger. Welche Strukturen von Ländlichkeit für die kulturellen Praktiken der Amateurtheater förderlich oder abträglich sind, lässt sich aufgrund der Diversität der Vereine vermutlich nur in kleineren Teilstudien bzw. Fallanalysen herausarbeiten.
Amateurtheater in Niedersachsen
Deswegen bilden die zentralen Befunde der quantitativen Studie zum Amateurtheater in Niedersachsen (Renz/Götzky 2014) trotz oder gerade aufgrund ihrer Beschränkung auf ein Bundesland bzw. 387 Datensätze (Renz/Götzky 2014:4) eine belastbare Perspektive für weitergehende Betrachtungen, da sie ähnlich wie die Studie zur Situation der Freilichttheater in Niedersachsen (Kegler 2018) Problemstellungen und Fragen identifizieren, die sich sowohl bei allgemeineren Befunden wiederfinden, als auch für konkrete Beispiele der Amateurtheaterpraxis relevant sind. Interessant ist die Studie von Renz/Götzky auch insofern, als sie nicht nur ländliche, sondern auch nicht-ländliche, urbane Strukturen einbezieht. So lautet eine erste These, „dass Amateurtheater vor allem ein Phänomen ländlicher Räume sind. Im Gegensatz dazu sind öffentliche und Freie Theater fast ausschließlich in größeren Städten zu Hause“ (Renz/Götzky 2014:8).
Dabei ist Amateurtheater eine kulturelle Praxis, die prinzipiell auf das nahe Umfeld wirkt. „Amateurtheater wird überwiegend von der örtlichen Bevölkerung und […] für die Menschen vor Ort gemacht“ (Renz/Götzky 2014:13). Dass das Amateurtheater sowohl eine aktive, nahsinnliche und zugleich fernsinnliche (als Publikum) kulturelle Praxis ist, erhellt möglicherweise den ambivalenten Befund, dass trotz Strukturwandel die Attraktivität des Amateurtheaters unvermindert ist, denn „ab den 1970er Jahren setzte mit einem Schub eine nahezu lineare Entwicklung regelmäßiger Gründungen ein. Mit leichten Schwankungen gründeten sich seitdem zwischen 50 und 80 Theatergruppen pro Dekade neu. Bemerkenswert ist, dass diese Entwicklung gegenwärtig nicht abreißt, sondern tendenziell zunimmt“ (Renz/Götzky 2014:9).
Zugleich geben mehr als 50% der Bühnen an, der Nachwuchs an jungen Aktiven sei die größte Herausforderung. „Zwei Ursachen lassen sich dabei spezifizieren: Zum einen werden die Auswirkungen der zunehmenden Ganztagsbetriebe der allgemeinbildenden Schulen geäußert, welche zu weniger Freizeit der Zielgruppe der Jugendliche und Kinder führten; zum anderen wird vor allem auf die ‚Landflucht‘[…] hingewiesen“ (Renz/Götzky 2014:14).
Fragen der Gendergerechtigkeit sind im Kontext des Amateurtheaters, aber auch des Berufstheaters, ein tradiertes, strukturelles Phänomen. Der Anteil der Frauen ist deutlich höher als das von Theaterverlagen zur Verfügung gestellte Spielmaterial. „Andere Arten der Generierung von Theaterstoffen (z. B. Stücke selbst zu schreiben), die das vorhandene Spielerangebot berücksichtigen, sind vor allem bei den Kleinsttheatern wenig verbreitet“ (Renz/Götzky 2014:15). In der Folge drängt dieses Missverhältnis Frauen, wollen sie im Verein aktiv bleiben, in Tätigkeiten abseits der Bühne oder führt zur Einstellung der Spielaktivitäten. Es manifestiert sich zugleich in der besonders im ländlichen Raum vorherrschenden Theaterauffassung. Bevorzugt werden zu „78% Komödien / Schwänke / Lustspiele […] Je mehr Einwohner ein Ort hat, an welchem das Theater angesiedelt ist, desto geringer ist der Anteil der dort inszenierten Komödien/Lustspiele. Während 90% der Theater in kleinen Gemeinden bis 5.000 Einwohner dieses Genre bevorzugt inszenieren, tun dies nur 40% der Theater in Großstädten. Noch extremer ist dieser Unterschied beim Genre der plattdeutschen Stücke, welche in Großstädten so gut wie gar nicht inszeniert werden“ (Renz/Götzky 2014:22). Gemäß der Studie zeichnet sich hier aber ein Wandel ab, denn „bezüglich der bevorzugten Genres fällt auf, dass diese jüngeren Theater wesentlich weniger häufig Komödien oder plattdeutsche Stücke spielen“ (Renz/Götzky 2014:9). Eine gewisse reaktionäre Widerständigkeit, wie sie Ernst Bloch mit seinem Befund der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als konstitutiv für den ländlichen, bäuerlich geprägten Raum charakterisierte (Bloch 1962), schwingt auch im Verhältnis mancher ländlichen Amateurtheatervereine zum demographischen Wandel in der Migrationsgesellschaft mit. „Lediglich 23% der befragten Theater haben Mitglieder mit Migrationshintergrund“ (Renz/Götzky 2014:15). Abgesehen davon, dass der Migrationsanteil im ländlichen Raum bundesweit bei nur etwa 12% liegt (Bundeszentrale für politische Bildung 2016), ist die Feststellung bemerkenswert, „dass Kleinsttheater es nicht als ihre Funktion oder Aufgabe sehen, ein aktuell viel diskutiertes kulturpolitisches Thema umzusetzen“ (Renz/Götzky 2014:16). Die aktuelle Praxis der Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen im Hinblick auf Spielplanangebote (inhaltlich und formal) und die eingeschränkte Bereitschaft andere Beteiligungsformate zu kreieren, wirft die Frage auf, wie eine Öffnung der Vereine auch im Hinblick auf die genannten Nachwuchsprobleme möglich ist. Der naheliegende Gedanke einer verstärkten Netzwerkarbeit mit anderen Akteuren der Kulturellen Bildung, um Lern- und Synergieeffekte zu erzielen, scheitert, „da es in ländlichen Regionen kaum eine Infrastruktur von Anbietern der Kulturellen Bildung gibt, mit denen kooperiert werden könnte“ (Renz/Götzky 2014:21).
Etwas stärker auf die Praxis des Theaters fokussiert, kann die Frage nach dem Anteil professioneller theaterpädagogischer Zuarbeit gestellt werden. Doch auch hier scheinen die Hindernisse groß. „Lediglich 20% der befragten Amateurtheater greifen bei der inhaltlichen Theaterarbeit auf Unterstützung durch professionelle Kräfte zurück. Je größer die Anzahl der Mitglieder des Theaters ist, desto eher werden sie von professionellen Akteuren unterstützt. Eine solche Unterstützung ist darüber hinaus ein Phänomen von Theatern in größeren Städten und findet in Theatern in kleinen Städten und Gemeinden weitaus seltener statt“ (Renz/Götzky 2014:26). Dass der Strukturwandel ein freiwilliges und qualifizierendes Engagement im Amateurtheater als Lernort der Kulturellen Bildung verhindert, legen die Ergebnisse der Studie nahe. Dass nur 38% der Fortbildungsangebote wahrgenommen werden, begründen 41% mit „Zeitmangel“, 21% mit der „mangelnden Erreichbarkeit“. Dass 32% „mangelnde Informiertheit“ angeben, korrespondiert mit der ähnlich hohen „Interesselosigkeit“ von 30%. „Fortbildungen erfordern zusätzliches zeitliches Engagement. Wie bereits dargestellt, ist das Amateurtheater bereits für die Spieler*innen ein zeitintensives Hobby, sodass neben der Verwaltungsarbeit wenig Zeit für zusätzliches Engagement bleibt. Allerdings kann auch davon ausgegangen werden, dass vor allem von Kleinsttheatern auch keine Notwendigkeit für Fortbildungen gesehen wird“ (Renz/Götzky 2014:28).
Freilichttheater in Niedersachsen
Die Befunde der weiter gefassten Studie zum Amateurtheater werden im Kern durch die auf Freilichttheater in Niedersachsen eingegrenzte Studie von Kegler (Kegler 2018) gestützt. Insgesamt nimmt die Studie 18 Bühnen in den Blick, von denen zwei im städtischen Raum ansässig sind, sechs im sehr ländlichen Raum mit guter sozialökonomischer Lage, aber zehn in sehr ländlichen Strukturen in einer weniger guten sozioökonomischen Lage. Es wird deutlich, dass die Theaterarbeit von Freilichtbühnen auch oder gerade in eher schwierigen Ausgangslagen von Ländlichkeit von größerer Bedeutung ist als in urbaneren Räumen. „Sie sind überwiegend dort angesiedelt, wo arbeitsmarktbezogen noch stabile Strukturen vorherrschen. Die Auswirkungen des demographischen Wandels sind in diesen Räumen weniger stark ausgeprägt. Es gibt nur eine geringe Arbeits- und Bildungsabwanderung, die Sozialgemeinschaften vor Ort sind relativ stabil und im Miteinander auf Gegenseitigkeit gut eingespielt. In der Bevölkerung sind potentiell nach wie vor die Menschen ansässig, die als Impulsgeber*innen und Netzwerker*innen agieren können, und in der Lage wären, als Schlüsselpersonen im Ehrenamt von Vereinen zu wirken. Freiwilliges Engagement für die eigene Sozialgemeinschaft hat in diesen ländlichen Räumen in der Regel noch Tradition, wie sie auch im Freilichttheater gepflegt wird“ (Kegler 2018:27). Freilichtbühnen sind seit Jahrzehnten bestehende Formen der Kulturellen Bildung und wirken im Sinne des community building prägend in ländlichen Räumen. Insbesondere die auf ehrenamtlichem Engagement beruhenden Arbeitsstrukturen lassen sich zu „zukunftsweisenden Formaten der generationsübergreifenden Engagementförderung“ entwickeln, „die auch als Modelle für Ansätze einer Entwicklung ländlicher Räume erscheinen“ (Kegler 2018:73).
Kritisch hinterfragt diese Studie die Einstellung der Aktiven zu Inklusion und Offenheit. Hier kommen beide Studien zu dem Ergebnis, dass das Motto „Theater für alle“ zwar propagiert wird, aber im Sinne der Inklusion nicht pro-aktiv gehandelt wird. Im Hinblick auf den demographischen Wandel haben Freilichtbühnen keine generellen Nachwuchsprobleme, vielmehr aber im Hinblick auf Gendergerechtigkeit. Ähnlich wie im Amateurtheater dominieren auch im Freilichttheater bei der Spielplangestaltung Komödien, Schwänke und plattdeutsche Stücke, ergänzt durch Musicals und Produktionen für Kinder. Die Spielplangestaltung wird von den Amateurtheatern nicht als impulsgebendes Instrument für den gesellschaftlichen Diskurs verstanden, sondern affirmativ mit der Publikumserwartung begründet. Entsprechend werden Fortbildungsangebote auch weniger für die künstlerisch-kulturelle Weiterbildung genutzt, sondern zur praktischen Verfestigung bereits erworbener Fähigkeiten. Beide Studien geben erste Antworten auf die Fragen nach der Bedeutung der Amateurtheatervereine jenseits der urbanen Räume und welche besonderen Formen und Inhalte die Arbeit von Amateurtheatervereinen auszeichnet. „Die Statistik zeigt, dass gerade im strukturschwachen ländlichen Raum die Freilichtbühnen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Menschen aller Altersklassen dauerhaft zu motivieren und zu befähigen, die kulturelle Infrastruktur vor Ort selbstorganisiert, gemeinschaftlich und generationenübergreifend zu gestalten“ (Kegler 2018:28).
Arenen und Theatralitätsgefüge
Für ein weiterführendes Verständnis der Prozesse im Verhältnis von Amateurtheater und Ländlichkeit bedarf das empirisches Material einer theoretischen Erweiterung. Als erster Schritt erscheinen hier die Ansätze zur Arena der Kulturellen Bildung (siehe: Jörg Zirfas „Die Arena der Kulturellen Bildung“) und das Konzept der Theatralitätsgefüge (Rudolf Münz 1998) fruchtbar. Beide Konzepte bzw. Verfahren können an dieser Stelle freilich nur skizzenhaft dargestellt oder zur Anwendung gebracht werden. Sie ermöglichen dennoch eine notwendige Perspektivierung des Gegenstandes „Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen“ im Hinblick auf eine gesellschaftliche und kulturelle Dimension.
Zirfas entwickelt ausgehend vom Begriff der „Arena“ als öffentlicher Ort des Wettkampfs, der Vorführung und des Spiels ein analytisches Modell Kultureller Bildung in fünf Dimensionen. „Der Arenenbegriff erscheint methodisch als ein heuristischer, analytischer und nominalistischer Begriff, der einen Sachverhalt unter diskurstheoretischen, machtpraktischen, inszenatorischen, ludischen und kritischen Perspektiven aufzuklären in der Lage ist. […] Andererseits liegen die genannten Perspektiven aber auch auf unterschiedlichen Ebenen, auf diskursiven, institutionellen, sozialen, praktischen und körperlichen Ebenen, die jeweils mit zu berücksichtigen sind" (Zirfas 2015/2016).
Mit der Dimension des Diskursraumes verknüpft sich unter Bezug auf Foucault die Frage nach den gesellschaftlichen Regeln, die Prozesse der Kulturellen Bildung durch Ausschließung, Kontrolle oder Setzungen steuern. Für Zirfas „bietet der Arenenbegriff die Möglichkeit, den Diskursraum auch als agonalen Raum des Wettkampfes zu verstehen. […] So kann […] in den Blick kommen, wie die Existenz- und Ausschlussbedingungen sowie die Bedingungen für das Auftauchen, Modifizieren und Verschwinden der Diskurse Kultureller Bildung durch Machtprozeduren geregelt werden. […] Der Sinn der Kulturellen Bildung ergibt sich […] nicht aus dem Gegenstand, sondern aus den spezifischen Kräfteverhältnissen, die diesen Gegenstand erst hervorbringen und ihm Sinn verleihen“ (Zirfas 2015/2016). Mit der Dimension der performativen und inszenatorischen Praktiken „steht […] die konkrete körperliche und soziale Praxis […] im Mittelpunkt“ (Zirfas 2015/2016). Also die Frage, wie sich Prozesse der Kulturellen Bildung im Alltag präsentieren oder als Ausnahme inszeniert werden. Den „Spielcharakter des Arenenbegriffs“ (Zirfas 2015/2016) entwickelt Zirfas im Anschluss an Hans Scheuerl (Scheuerl 1954) entlang der Begriffe „Freiheit, Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit“ (Zirfas 2015/2016). Im Zentrum stehen hier die Zweckhaftigkeit, der Bildungscharakter und „die Debatte um die Funktionalität bzw. Disfunktionalität oder A-Funktionalität Kultureller Bildung“ (Zirfas 2015/2016). Als fünfte Dimension kennzeichnet Zirfas Kulturelle Bildung als Arena der Kritik. Sie „markiert Grenzen, etwa soziale oder kulturelle Geschmacksgrenzen, […] Grenzen zwischen dem Deskriptiven und dem Normativen, den Bedingungen und den Effekten. […] Die Arenen Kultureller Bildung sind Krisenorte der Infragestellungen und Herausforderungen, in denen sich nichts von selbst versteht und in denen alle Faktizitäten und Geltungsansprüche nach kritischer Auslegung und Umsetzung verlangen“ (Zirfas 2015/2016).
Da es sich beim Arenenkonzept um eine allgemeinere Perspektive der Kulturellen Bildung handelt, soll diese versuchsweise – im Blick auf die Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen – um Ansätze aus dem Theatralitätsgefügemodell des Theaterwissenschaftlers Rudolf Münz ergänzt werden. Münz betont die historiographische Dimension des Theatralitätsbegriffs, dessen „eigentliches Anwendungsgebiet die Selbstdarstellung im Alltag sowie die Kultur der Riten, Feste und Feiern ist“ (Münz 1998:68) und das bereits seit der Antike über den Schaucharakter mit Theater verknüpft ist. „Selbstverständlich ist bei alledem der interaktionistisch-kommunikative Charakter – vermittelt vornehmlich über den (biologischen und sozialen) Körper, und der eben war gesellschaftlich zu steuern. Prozession, Wettkampf, Tänze und Rollenspiel erweisen dies deutlich. Agora, Tempel, Stadion und Theater gehören so gesehen notwendigerweise und aufs engste zusammen, und zwar generell und nicht nur in der Antike (Münz 1998:69). Darauf aufbauend entwickelt Münz vier Grundtypen von Theatralität: (1) Theater als Theaterkunst, (2) Theater als „Selbstdarstellung im Alltag (Gebaren, Kleidung, Schminken usw.), soziales Rollenspiel, Veranstaltungsverhalten […], Elemente der Alltagsunterhaltung“ (Münz 1998:69), sowie (3) Nicht-Theater als „die generelle Ablehnung jeglicher „Theaterei“ (als Kunst ebenso wie im Alltag)“ (Münz 1998:70) und (4) ein „Strukturtypus von ‚Theater‘, der […] bewußt entgegensteht, der das „Theatralische“ […] kritisch durchleuchtet. […] Dieses ‚Theater‘ gibt sich betont und unbewußt „unnatürlich“, d.h. supra-artifiziell; sein Hauptrepräsentant, Harlekin, hatte „kein Vorbild in der Natur“, avancierte aber zum „Genius des Lebens. […] Theatralität in diesem Sinne drückt ein Verhältnis aus, kein Verhalten“ (Münz 1998:70).
Beide Konzepte betonen das (Amateur-)Theater als Gegenstand Kultureller Bildung. Das Eingebundensein der Amateurtheatervereine in die lokalen Verhältnisse bestätigt auch die Studie von Renz/Götzky. „Mit 49% der befragten Theater nimmt etwa die Hälfte auch regelmäßig an Veranstaltungen der Gemeinde, Städte oder Kirchen teil, in erster Linie sind das Dorf- und Stadtfeste, gefolgt von Festen im Jahresverlauf wie z.B. Ostern, Herbst oder Weihnachten. Die Amateurtheater sind somit auch Teil des lokalen kulturellen Lebens“ (Renz/Götzky 2014:41).
Auch wenn Zirfas und Münz in ihren Konzepten die Makroebene der Kulturellen Bildung und der Theatergeschichtsschreibung fokussieren, lassen sich die kulturellen Praxen der Amateurtheatervereine anhand der von ihnen elaborierten Faktoren und Dimensionen auf die Mikroebene der ländlichen Räume als Arenen im lokalen Theatralitätsgefüge beschreiben.
Modellbeispiele Kultureller Bildung im ländlichen Amateurtheater
Erste Hinweise in diese Richtung sollen die drei Modelle Volkstheater Flintsbach e.V., Theater – Club Kattendorf e.V. und Theater unter der Dauseck Oberriexingen geben. Diese Amateurtheatervereine sind Nominierungen für den Deutschen Amateurtheaterpreis 2018 in der erstmalig ausgeschriebenen Kategorie „Gesamtwirken eines Amateurtheaters“.
- Modell Eins: Volkstheater Flintsbach (Bayern)
Das Volkstheater Flintsbach ist ein Amateurtheaterverein im eher ländlichen Raum mit guter sozioökonomischer Lage an der Grenze zu Österreich. Mit einer 343-jährigen Geschichte ist es eines der ältesten Theater Deutschlands. Das historische Theatergebäude wurde 1948 von Vereinsmitgliedern gekauft. Seit 2016 ist es als eines von 120 Theatern Teil der Europäischen Route Historischer Theater. Nachdem zunächst vorwiegend Heiligen- und Ritterstücke auf dem Spielplan standen, werden seit Ende des 19. Jahrhunderts im wesentlichen Volkstheater- und Mundartstücke gespielt. Der Erhalt des Theaters und die Pflege der Mundart kennzeichnen seither die kulturelle Praxis des Vereins. Heute sind etwa 5% der Einwohner*innen Flintsbachs Mitglieder des Theatervereins. Darüber hinaus sind sie vielfach Mitglieder in anderen Ortsvereinen, die wiederum vor und hinter der Bühne als Feuerwehr, Musikkapelle usw. an den Aufführungen beteiligt sind. Durch die Verwobenheit in das kommunale Netzwerk eröffnet das Volkstheater Flintsbach nachhaltig generationenübergreifende Zugänge. Die jährlich etwa 7000 bis 8000 Zuschauer*innen unterstreichen die Bedeutung des Theatervereins. Im Blick auf die Machtverhältnisse im Theatralitätsgefüge zeigt sich die besondere Position des Volkstheaters Flintsbach. Durch die Aufnahme in die Europäische Route Historische Theater entgeht es dem potentiellen Ausschluss aus dem allgemeinen Theaterdiskurs, der ihm durch seine Volkstheaterpraxis als einer aktuell kaum legitimierten Theaterform drohen würde; vielmehr legitimiert es seine Stellung durch die Verortung auf der Karte des Kulturellen Erbes.
Die von Zirfas angesprochenen „interne(n) Prozeduren der Kontrolle, die als Prinzipien der Klassifikation, Anordnung und Verteilung in der Arena wirken“ (Zirfas 2015/2016:2), zeigen sich durch die klare Zuordnung zum Volkstheater als Mundarttheater. Aus diesem Umstand gewinnt Flintsbach den durch offizielle Auszeichnungen und überregionalen Publikumszuspruch dokumentierten Status, der dem Verein in der (kulturellen) Peripherie vom Zentrum (der politischen und kulturellen Institutionen) zuerkannt wird.
Im lokalen Theatralitätsgefüge von Flintsbach dominiert Theater im Alltag; begreift man die Praktiken des Volkstheaters als Derivat eines Theaters jenseits der Hochkultur, so ist es dennoch in einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis zum Kunsttheater. Nach zahlreichen Spielverboten und behördlichen Interventionen gegen das „angestammte bayrische Laster“ der „Theaterer“ (aus der Bewerbung für amarena 2018) verdankt das Volkstheater Flintsbach seine überregionale Anerkennung nur dem Rückgriff auf die Historie als immaterielles (Mundarttheater) und materielles Kulturerbe (Gebäude und Bühnenhaus). Dies prägt und begrenzt auch die theatrale Praxis des Volkstheaters. Denkmalschutz verspricht öffentliche Unterstützung und Anerkennung, bestimmt aber die performative und inszenatorische Praxis.
- Modell Zwei: Theater-Club Kattendorf (Schleswig-Holstein)
„Der Theater-Club Kattendorf e.V. ist ein Amateurtheater bis in die kleinste Faser des gemeinschaftlichen Miteinanders – und das kleinste Dorf Deutschlands mit einem eigenen Theater! In Kattendorf (Schleswig-Holstein) leben 860 Menschen, insgesamt 216 Mitglieder zählt der Theaterverein“ (Dominik Eichhorn/Frank Grünert 2018). Dass fast 25% der Bevölkerung sich im Theater-Club engagieren, spricht für seine immense Bedeutung in der Kommune; insbesondere da der Verein erst vor 34 Jahren gegründet wurde. Gestartet als plattdeutsch spielende Gruppe, prägt die kulturelle Praxis des Vereins ein starkes und intergeneratives Integrationsvermögen durch eine Vielfalt der Beteiligungsformate.
Neben der plattdeutsch spielenden Gruppe haben sich innerhalb kurzer Zeit vier weitere Gruppen mit ihren spezifischen Akzentuierungen gebildet. Außer einem Ensemble, das sich auf theatrale Kleinformen spezialisiert, gehören dazu je eine Kinder- und Jugendtheatergruppe, die ebenso hochdeutsch spielen wie ein weiteres Ensemble, das Klassiker der Theaterliteratur in den Fokus nimmt. Auch wenn sich der Theaterverein auf keinen historiographischen Diskurs beruft, so ist auch diese lokale Arena gekennzeichnet durch die von der Hochkultur vorgegebene Machtstruktur. Die Existenz des Vereins wird wesentlich legitimiert durch die Praxis des plattdeutschen Theaters als kulturelles Erbe und die Spielweise aller Gruppen orientiert sich an den Praxen des Literaturtheaters. Damit ist das Spiel des Theater–Club Kattendorf nicht frei, sondern zweckgebunden und richtet sich am dominanten Theaterbegriff aus. Während es in Flintsbach gelingt, den Verein durch die Tradition des Volkstheaters zu verankern, ist die Handlungsstrategie der Kattendorfer*innen die Diversifizierung der künstlerischen Beteiligungsformen, die durch das soziale Engagement und das kritische Aufgreifen gesellschaftlich aktueller Themen in den lokalen Alltag wirkt.
Die lokalen Theatralitätsgefüge oder Arenen des Volkstheater Flintsbach und des Theater-Club Kattendorf stabilisieren sich wesentlich durch die intrinsische Motivation der Bürger*innen, ein eigenes Theater zu betreiben. Daraus entwickeln sie einen eigenen, gleichwohl legitimierten Ansatz kultureller und ästhetischer Bildungspraxis. Gleiches gilt zunächst auch für das Theater unter der Dauseck aus Oberriexingen (Baden-Württemberg).
- Modell Drei: Theater unter der Dauseck (Baden-Württemberg)
„Eines der wichtigsten Prinzipien dieses Amateurtheaters: Jede und jeder darf mitmachen – ob auf der Bühne, bei der Technik, Kostüm oder Maske. […] Die Akteur*innen spielen in keiner festen Spielstätte, sondern dort, wo die Menschen sind – in Kellern, Ruinen, Schweineställen, auf Wiesen, im Wasser. Der öffentliche Raum wird erforscht und wird zum eigenen Akteur der Inszenierungen. Mit Liebhaberei zum Theater entwickeln die Amateure Theater, das einem höchst professionellen Anspruch folgt. Das Theater unter der Dauseck lädt hierzu professionelle Teams ein, die vor Ort mit den Amateurtheaterschaffenden arbeiten“ (Eichhorn/Grünert 2018). Während die Amateurtheatervereine in Flintsbach und Kattendorf zum eher ländlichen Räum mit guter sozioökonomischer Struktur gehören, zählt das Theater unter der Dauseck aus Oberriexingen nicht zu dieser Kategorie. Dabei hat der Verein mit seinen „Theaterspaziergängen“ als site specific theatre ein eher den aktuellen performativen Theateransätzen zugeneigtes, dem Lokalen verpflichtetes Format entwickelt. Mit ihm gelingt es nicht nur über die Spielorte hinaus Partner*innen in der lokalen Wirtschaft und in der Bürgerschaft zu gewinnen, sondern auch überregionale Aufmerksamkeit. So gelingt es dem Theater, sich strategisch im Theatralitätsgefüge eines urbaneren Raumes zu positionieren. Auch wenn der Verein auf den intrinsischen Motivationen seiner Mitglieder ruht, gelingt dies in der Praxis durch die Kooperation mit externen, professionellen Künstler*innen. Ihre Expertise und künstlerische Innovation sichert letztlich die Anerkennung in den lokalen, regionalen und bundesweiten Arenen der ästhetischen Bildung. Das Beispiel des Theaters unter der Dauseck wirft die Frage auf nach der Rolle der Theaterpädagogik bzw. der künstlerischen Anleitung.
Die Rolle der Theaterpädagogik im ländlichen Amateurtheater
Während rund 25% der 628 Bühnen im Landesverband Amateurtheater Baden-Württemberg e.V. ein theaterpädagogisches Fortbildungsangebot nutzen, kritisieren beide Studien zum Amateurtheater in Niedersachsen, dass Fortbildungsangebote wenig genutzt werden und wenn, dann lediglich Angebote des eigenen (Landes-)Verbandes. Die Empfehlung lautet entsprechend, sich gegenüber theaterpädagogischen Angeboten anderer Anbieter*innen zu öffnen und verstärkt die Kooperation mit Akteuren der Soziokultur oder der Darstellenden Künste zu suchen. Letztlich mit dem Ziel einer erweiterten künstlerischen Vielfalt, die sich nicht ausschließlich am Publikumsgeschmack, sondern an den aktuellen Qualitätsmaßstäben der Theaterpädagogik und des Berufstheaters orientiert. Dabei zeigen sich für Amateurtheater in ländlichen Räumen zwei wesentliche Probleme: Zum einen die Erreichbarkeit der Angebote je nach Grad der Ländlichkeit. Je höher der Grad an struktureller Ländlichkeit ist, desto niedriger ist, aufgrund der Entfernung und dem entsprechenden finanziellen und zeitlichen Aufwand, die Zugangsmöglichkeit an aktuellen ästhetischen und/oder pädagogischen Theaterdiskursen und -praktiken zu partizipieren, da diese in zentrumsnahen Räumen stattfinden. Zum anderen rührt die Forderung nach Öffnung an einen Grundkonflikt des Amateurtheaters, welcher sich zwischen intrinsischer Motivation und pädagogischer Anleitung bewegt. Dies gilt nicht nur, aber besonders für Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen. Die Freiheit des Spiels, als eine rein lokale Arena der Kulturellen Bildung, wird durch die externe Einflussnahme theaterpädagogischer Expertise einer immanenten Zweck- und Zielorientierung untergeordnet, welche sich bereits in den methodischen Ansätzen zeigt. Ein gelingender Dialog wäre abhängig von spezifischen theaterpädagogischen Konzepten für Theaterspielen auf dem Land. Diese liegen derzeit jedoch nicht vor. Die theaterpädagogischen Ausbildungen an Hochschulen, Universitäten oder im Bundesverband Theaterpädagogik (BUT) sehen keine anwendungsspezifischen Schwerpunkte vor (siehe: Ulrike Hentschel „Theaterpädagogische Ausbildung“). Aktuelle theaterpädagogische Diskurse beschäftigen sich häufig – in der Reaktion auf die politischen Auseinandersetzungen um Migration – auf Theaterarbeit im inter-/transkulturellen Kontext. Nach wie vor konzentriert sich die grundlegende Perspektive der Theaterpädagogik in der Arbeit mit nicht professionellen Akteur*innen auf Vermittlungskonzepte, die sich am Schlüsselbegriff „Performativität“ orientieren (siehe: Malte Pfeiffer „Performativität und Kulturelle Bildung“). So gibt es derzeit eine große Differenz zwischen den theaterpädagogischen Vermittlungsansätzen und den ästhetischen Praktiken stark ländlicher Amateurtheatervereine.
Anders stellt sich das lokale Gefüge dar, wenn die Theaterpädagogik selbst Akteur vor Ort ist. So ist das Theaterpädagogische Zentrum Lingen seit 1980 im ländlichen Raum des Emslandes aktiv (Norbert Radermacher 2013). Die Zielgruppen sind hier im Wesentlichen Kinder, Jugendliche und Senior*innen, weniger die bereits existierenden Spielgruppen und Amateurtheatervereine. Dennoch hat sich durch die kontinuierliche theaterpädagogische Arbeit vor Ort erst die Möglichkeit ergeben, in einem verstetigten Angebot die lokalen Erfordernisse aktiv aufzugreifen und zu gestalten.
Ein weiteres Beispiel für eine gelingende theaterpädagogische Arbeit in ländlichen Räumen, hier sogar im Verein selbst, ist der SJC Hövelriege. Wie zahlreiche Sportvereine unterhält der Fußballverein eine Theatergruppe. Die Gruppe wird von einem ausgebildeten Schauspieler und Theaterpädagogen geleitet und weiterentwickelt, der selbst wiederum bereits als Kind im Verein Fußball gespielt hat. Eine kontinuierliche theaterpädagogische Vermittlungsarbeit vor Ort, sei es durch ein institutionalisiertes Theaterpädagogisches Zentrum oder das Engagement einzelner Künstler*innen und Theaterpädagog*innen, hat das Potential, in ländlichen Räumen eine zukunftsfähige, transkulturelle Perspektive zu eröffnen. Beide Akteure sind Leuchttürme der Theaterarbeit in ländlichen Räumen, die für ihre Arbeit bundesweite und internationale Anerkennung erhalten haben. Das TPZ Lingen erhielt 1994 für seine Konzeption und Durchführung (seit 1990) des Welt-Kindertheater-Festes den LEGO-Preis und der SJC Hövelriege 2013 den BKM-Preis Kulturelle Bildung. Die Modellhaftigkeit, die diesen Leuchtturmprojekten auf Landes-, Bundes- und auch internationaler Ebene zugeschrieben wird, verstellt aber den Blick darauf, dass sie nicht ohne Weiteres auf die breitenkulturelle Praxis übertragbar ist. Preise und die damit verbundene gesellschaftliche und politische Anerkennung wirken ambivalent. Denn bleiben die Gelingensbedingungen unberücksichtigt (und ihre Analyse förderpolitisch folgenlos), perpetuieren die Auszeichnungen und Ehrungen mit ihrer impliziten, kulturpolitischen (Auf-)Forderung an die Akteure in den ländlichen Räumen, „Schafft zwei, drei, viele dieser Leuchttürme“, nur die dominanten hierarchischen Machtstrukturen der kulturpolitischen Metropole. Ein Problem dem sich auch der Bund Deutscher Amateurtheater e.V. (BDAT) als mitgliedsstärkster Amateurtheaterverband in Europa stellen muss.
Die Rolle des Bundesverbandes: Konzepte und Strategien des BDAT
Seit 2010 vergibt der BDAT den bundesweiten Amateurtheaterpreis amarena und verwirklicht damit eine Empfehlung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages. Der Preis wird alle zwei Jahre, im Wechsel mit der Auslobung einer Innovationsförderung, von einer unabhängigen Jury mit dem Ziel vergeben, herausragende Theaterarbeit im Amateurtheater sichtbar zu machen und neue Ansätze zu unterstützen. Aber werden damit auch die besonderen Formen und Inhalte gewürdigt, die die Arbeit von Amateurtheatervereinen und Laienspielgruppen in ländlichen Regionen auszeichnen? Ein Blick auf die Statistik macht die Problematik der Top Down – Strukturen von bundesweiten Preisen und Förderinstrumenten deutlich. Obwohl mehr als 2/3 der Amateurtheaterbühnen im ländlichen Raum angesiedelt sind (zum Vergleich liegt der Anteil an der Gesamtbevölkerung bei 57,2%), kommen seit 2010 nur 40% der Preisträger und 29% der Nominierten aus ländlichen Räumen. Bei der amarena „Innovationsförderung“ stammen nur 21% der geförderten Projekte aus ländlichen Räumen. Eine vergleichbare Konstellation findet sich beim BKM-Preis Kulturelle Bildung und den jährlich vergebenen Auszeichnungen an Projekte, „die Kunst und Kultur innovativ und nachhaltig vermitteln - und bislang unterrepräsentierte Zielgruppen besonders berücksichtigen“ (Bundesregierung 2018). Von 27 seit 2009 vergebenen Preisen gingen nur zehn an Projekte in ländliche Räume. Legt man den Bevölkerungsproporz zugrunde, dann müssten es über 15 Projekte sein.
Die Schlussfolgerung kann freilich nicht sein, dass Preise oder Förderzusagen proportional vergeben werden sollten. Dennoch könnten die künstlerische oder innovative Qualität als entscheidende Kriterien der Juryentscheidungen unter dem Aspekt von Zentrum und Peripherie reflektiert werden. Denn diese allgemeingültig gesetzten Qualitätskriterien bilden sich aus den Avantgarden des urbanen Diskurses und verfestigen sich dort zum hochkulturellen Mainstream. Ihre Rückwirkungen auf das Amateurtheater bleiben auf den städtischen und wenig ländlichen Raum beschränkt. Amarena und der BKM-Preis Kulturelle Bildung eignen sich durchaus als Mittel, um herausragende Leistungen in den Arenen der Kulturellen Bildung oder aus einem Theatralitätsgefüge des Amateurtheaters im urbanen Diskursraum sichtbar zu machen. Als Antworten auf die Frage, welche besonderen Formen und Inhalte zeichnet die Arbeit von Amateurtheatervereinen in ländlichen Regionen aus, eignen sie sich nicht. Welche anderen Wege und Formate bieten sich also für die Förderung des Amateurtheaters an – u.U. mit einem anderen Kultur- und Bildungsverständnis als in der Stadt?
Mit dem Programm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wird ausdrücklich Ländlichkeit als Raum von Bildungsbenachteiligung anerkannt und rückt die lokale Ebene in den Fokus. „Kultur macht stark“ bietet die Möglichkeit, ästhetische Bildungsprozesse im Lokalen zu stärken, ohne dass diese in einem regionalen oder bundesweiten Diskurs relevant sein müssen. Um die lokalen Prozesse dennoch von einer bundesweiten Ebene aus kontrollieren zu können, wurden vom Fördergeber bedauerlicherweise so engmaschige Verwaltungsvorschriften vorgegeben, verknüpft mit einem evidenzbasierten Kulturbegriff, dass sie für auf Nachhaltigkeit und Prozesshaftigkeit ausgerichtete Theaterprojekte aus dem Ehrenamt – auch im Zusammenspiel mit einer hauptamtlichen Bundesgeschäftsstelle – nicht leistbar sind. Ähnlich den Anerkennungs- und Förderinstrumenten amarena und BKM-Preis ist auch das Programm „Kultur macht stark“ eine wenig wirksame Maßnahme, wenn es darum geht, den Herausforderungen des demografischen Wandels zu begegnen, da es an den Bedürfnissen und Potentialen ländlicher Räume vorbeigeht. Diese Instrumente stärken in ihrer bisherigen Form letztlich die Logiken von Zentrum und Peripherie im Dispositiv der Macht und wirken als Mittel der Distinktion.
Welche Möglichkeiten ergeben sich für den BDAT, um mit seiner Arbeit in ländlichen Räumen den drei zentralen Herausforderungen des demografischen Wandels – eine alternde Gesellschaft, Migration und Landflucht – zu begegnen? Da die Fortbildungsangebote des BDAT im Rahmen der Grundlagenausbildung „Theaterpädagoge BuT® bzw. Theaterpädagogin BuT®“ des Bundesverbandes Theaterpädagogik organisiert sind, orientieren sie sich bislang an den Zielgruppen Kinder, Jugend und Senior*innen, ohne die Spezifika von Ländlichkeit zu betonen. Fragt man umgekehrt, welche Lösungen die Bühnen vor Ort vorschlagen, welche Erwartungen sie an den Verband formulieren, kommt die Studie von Renz/Götzky zu einem ernüchternden Ergebnis. 39% machen hierzu keine Angaben, 13% nennen explizit keine Wünsche, was sowohl „keine Wünsche vorhanden“ als auch „keine Unterstützung durch Verbände bei bestehenden Problemen denkbar“ beinhaltet (Renz/Götzky 2014:37). Hier wird offensichtlich, dass es an einem gemeinsamen Diskursraum zwischen den Akteuren vor Ort und der Verbandsebene fehlt, in dem die Herausforderungen des Strukturwandels zunächst zur Sprache gebracht werden, um dann konzeptionelle und strategische Perspektiven für die Förderung des kulturellen Engagements für das Amateurtheater zu entwickeln. Die bisherigen Aktivitäten des Bundesverbandes greifen punktuell Initiativen und Impulse aus ländlichen Räumen auf, um diese Potentiale modellhaft bundesweit und international sichtbar zu machen und auf breiter Ebene Zugänge zu ermöglichen. In erster Linie sind diese Initiativen internationale Amateurtheaterfestivals.
Im Theatralitätsgefüge des ländlichen Amateurtheaters bilden sich etwa seit den 1960er Jahren an verschiedenen Orten Arenen eines transkulturellen Amateurtheaters, in denen die transkulturelle Perspektive auf das Eigene und das Fremde verhandelt wird. Stellvertretend sind hier die aktuellen Festivalorte Donzdorf, Rudolstadt, Friedrichshafen und Lingen genannt. Sie stehen für eine intrinsisch motivierte transkulturelle Bildungspraxis auf dem Land, wie sie beispielsweise von Kegler eingefordert wird (Kegler 2018:38 ff.). Der BDAT nimmt diese transkulturellen Impulse auf und versucht sie zu verstetigen. In diesem Kontext steht das Format „Wurzelwerk“, das als Festival des Volkstheaters in transkultureller Perspektive konzipiert ist. Es greift jene Praktiken der Amateurtheater in ländlichen Räumen auf, die unter einem weiten Volkstheaterbegriff gefasst werden können, um sie im Zusammenspiel mit neueren, postmigrantischen Volkstheaterperspektiven im Hinblick auf die breitenkulturellen Gestaltungsmöglichkeiten einer Migrationsgesellschaft zu öffnen.
Mit Landluft 2.0 entwickelt der BDAT ein Vernetzungsvorhaben, das lokale Kleinformate z.B. Minifestivals als ästhetische Impulse und Ideen miteinander vernetzt und finanziell in der Realisierung unterstützt. Das Projekt folgt dem agency Gedanken, denn konzeptionelle und strategische Perspektiven für die Förderung des kulturellen Engagements im Amateurtheater lassen sich gerade im Hinblick auf den Strukturwandel aus der Stärkung der lokalen Handlungsfähigkeit und der Prozesse der Selbstorganisation gewinnen.
Das Empowerment der lokalen Ebene ist zugleich eine Herausforderung für kulturpolitische Zielstellungen und förderpolitische Verantwortlichkeiten, der nur auf allen drei Ebenen von Kommune, Land und Bund begegnet werden kann. Peripherie ist keine rein geographische Kategorie, sondern eben auch eine soziale, kulturelle, ökonomische, mithin also gesellschaftspolitische Kategorie. Die Diversität der einzelnen Landesverbände im Hinblick auf finanzielle und personelle Ressourcen ist erheblich. Dieses Gefälle wird perspektivisch entscheidende Folgen für Amateurtheatervereine als kulturelle Grundversorger im ländlichen Raum haben. Ob es, wie in Baden-Württemberg, gelingt, einen erfolgreichen LEADER-Projektantrag zur Förderung des Amateurtheaters im Kontext von Ländlichkeit und Migrationsgesellschaft zu stellen oder wie in Sachsen-Anhalt, ein „Modellprojekt Theaterpädagogik des Landes Sachsen-Anhalt“ zu platzieren, hängt stark von den verfügbaren hauptamtlichen Personalressourcen ab. Erst finanziell und personell gut ausgestattete Geschäftsstellen auf Landesebene können jene Transmission zwischen Politik, Wissenschaft und den Amateurtheatervereinen leisten, die jenseits der Top down – Förderprinzipien für die Entwicklung der intrinsischen Potentiale in ländlichen Räumen zur Bewältigung der Herausforderungen des demographischen Strukturwandels notwendig sind.
Diversität und Kulturelle Vielfalt in den ländlichen Räumen
Die skizzierten Gefüge, Arenen, Befunde und Beispiele machen deutlich, dass man richtigerweise nicht von dem ländlichen Raum sprechen kann; vielmehr handelt es sich um ländliche Räume mit einem unterschiedlichen Grad von Ländlichkeit. In der Folge ist die Praxis der Amateurtheatervereine in ländlichen Räumen als Gesamtheit nicht darstellbar. Zwar gibt es Wiederholungen in den Vereinsstrukturen und Ähnlichkeiten in den Parametern von Ländlichkeit. Doch die einzelnen Gefüge und Arenen entziehen sich einer empirischen Gesamtdarstellung. Empirie kann an dieser Stelle nur Hinweise geben, aber keine Antworten und auch keine Handlungsempfehlungen oder Vorlagen für politische Entscheidungen nach dem Top down Förderprinzip. Vielmehr gilt es mit Bourdieu die unterschiedlichen Dispositionen innerhalb der ländlichen Räume und ebenso im Verhältnis der Peripherie der Ländlichkeit zum Zentrum des urbanen Raumes zu beachten. Der Ansatz, das Modell des Theatralitätsgefüges auf der Mikroebene der Amateurtheatervereine zu spiegeln, verweist auf die Machstrukturen, die Prinzipien von Disziplinierung, Anpassung und Ausschluss, die im Anschluss an Foucault in den Dispositiven des Theaters und der Kulturellen Bildung wirksam werden und die einer genaueren Untersuchung bedürfen. Dennoch zeigt sich bereits jetzt, dass so begrüßenswerte Anerkennungs- und Förderinstrumente wie amarena, der BKM-Preis Kulturelle Bildung oder Programme wie „Kultur macht stark“ und Handlungsempfehlungen zu einer verbesserten ästhetischen und kulturellen Bildungspraxis vom Zentrum eines urbanen Ästhetik- und Kulturbegriffes her gedacht werden und letztlich gegenüber den Akteuren in ländlichen Räumen als Mittel der Distinktion wirken.
Die Formung der Lebenskunst
Mitunter aber hat es den Anschein, dass das große Interesse an Ländlichkeit und den darin sich abspielenden Prozessen ästhetischer Praxis und Kultureller Bildung gerade dem Ziel der Funktionalisierung dieser Prozesse dient. Max Fuchs weist darauf hin, dass auch in Zeiten der politischen Wertschätzung für Kulturelle Bildung jede Form der agency, des Empowerment zur Selbstorganisation stets begrenzt bleibt; sie bleibt der Formung, der Disziplinierung durch die Kulturpolitik und Kulturfinanzierung unterworfen (siehe: Max Fuchs „Kulturelle Bildung als neoliberale Formung des Subjekts? Eine Nachfrage“).
Das Theaterspiel der Amateure in den ländlichen Räumen ließe sich auch als lernende, als performative Lebenskunst (Pfeiffer 2013/2012) begreifen. Sie ist ein aktiver Umgang mit den Rahmungen von Ländlichkeit mit ihren Herausforderungen aufgrund struktureller und demographischer Veränderungen. Die Besonderheit des Amateurtheaters ist seine Intergenerationalität. Es ist damit stark einer gegenwärtigen Realisierung von Lebenskunst als gelingender Arbeit, gelingender Interaktion, gelingendem Spiel und gelingender Betrachtung gebunden (siehe: Hildegard Bockhorst „Lernziel Lebenskunst in der Kulturellen Bildung“). Das erklärt vielleicht manche Differenz gegenüber den Ansätzen Kultureller Bildung, die stärker auf die Bildung einer Zielgruppe, etwa Kinder und Jugendliche oder im Hinblick auf eine noch zu erreichende, zukünftige Lebenskunstperspektive ausgerichtet sind.
Lebenskunst als Vorstellung von einem guten, glücklichen und gelingenden Leben ist im Hinblick auf die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten sicherlich kritisch zu betrachten, da es ein autonomes Subjekt voraussetzt. Die hier skizierten Ansätze gehen von der Verwobenheit der Akteure und ihren Praktiken in den diversen Arenen und im Theatralitätsgefüge aus, die das Maß an Selbstbildungsmöglichkeit bestimmen. Dabei ist ein erstes Zwischenergebnis des Forschungsprojektes „Fremde spielen. Amateurtheater als Medium informeller und non-formaler transkultureller Bildung“, dass „Geselligkeit“ und „Gemeinschaft“ in historiographischer und gegenwärtiger Perspektive konstitutive Leitbegriffe des Amateurtheaters sind.
Fuchs weist auf die Ambiguität von Begriffen wie Selbstverantwortung, Aktivierung, Empowerment als Kategorien der Kulturellen Bildung und zugleich neoliberaler Zielstellungen hin (Fuchs 2014). In Zeiten einer zunehmenden Renationalisierung der Gesellschaft ist die Ambiguität der für eine politische Instrumentalisierung so anfälligen Begriffe wie Volktheater und Gemeinschaft offensichtlich. Umso dringender stellt sich die Frage, mit welcher Wirkungsabsicht, mit welcher Zielvorstellung wird welcher kulturelle Prozess gefördert und welche politischen und kulturellen Kräfte letztlich die Antworten auf den demographischen Wandel gestalten. Im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari ließe sich sagen, dass die Stadt den ländlichen Raum erst erfunden hat, so dass sich zwei Arten von Räumen überlagern – „der glatte und der gekerbte Raum“ (Deleuze/Guattari 2015). Diese sich daraus ergebenden Gefüge bleiben ein Forschungsdesiderat, denn „die Konfrontation von Glattem und Gekerbtem, die Übergänge, die Wechsel und die Überlagerungen finden heute und in den unterschiedlichsten Richtungen statt“ (Deleuze/Guattari 2015).