Ästhetische Wahrnehmung als Grundelement menschlichen In-der-Welt-Seins – Zu einigen Forschungsansätzen

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von Kaspar Maase

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

In der Ästhetik wie in der Ethnologie wird die Auffassung vertreten, dass alle Menschen „Schönes“ schätzen. Anders formuliert: Alle nehmen die Welt ästhetisch wahr. Eine Erklärung dafür ist, dass Menschen die Welt und andere Menschen wesentlich sinnlich wahrnehmen. Zugleich liegt sinnliche Wahrnehmung allen ästhetischen Interaktionen zugrunde. Deswegen sind derartige Überlegungen auch für die Entwicklung von Konzepten Kultureller Bildung nützlich. Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Theorien vor, die sinnliche Wahrnehmung (und deren Verarbeitung) als Schlüsselglied in den Beziehungen zwischen Menschen und Menschen sowie zwischen Menschen und ihren Umwelten betrachten.

Einige davon, die man ganz grob als kulturanthropologisch charakterisieren kann, werden im Folgenden vorgestellt. Zentrale Fragen sind dabei: Wie und auf welcher Naturgrundlage bildete und äußerte sich im Lauf der menschlichen Entwicklung Empfänglichkeit für und Kompetenz zu sinnlichen Wahrnehmungen aller Art – angenehmer wie unangenehmer? Wie wurde aus sinnlicher Wahrnehmung eine quantitativ sich ausweitende und qualitativ ausdifferenzierende Praxis ästhetischen Wahrnehmens und Gestaltens?

„Wir sind schönheitssüchtig“ hat der Ästhetiker Wolfgang Welsch (2009:112) vor einiger Zeit postuliert – wobei „wir“ jede und jeden meint: „Alle Menschen schätzen Schönes. Die Schätzung von Schönheit ist universal“ (ebd.:93). Welsch führt ethnologische Befunde an, die seine These plausibel machen. Das Konzept des „Schönen“ wird allerdings in der Diskussion höchst unterschiedlich verstanden, und es beinhaltet eine in meinen Augen problematische Einengung der Sachverhalte, um die es geht. „Alle schätzen Schönes“ bedeutet ja, dass alle die Welt (auch) ästhetisch wahrnehmen, und man sollte diese Dimension nicht auf die Suche nach „Schönem“ einengen.

Der Ansatz der Ästhetikerin Sabine Sander (2009:197) scheint mir da offener. Sie formuliert im Anschluss an Georg Simmel, „dass der Mensch […] alle Beziehungen zu Mitmenschen und Welt maßgeblich über seine Sinnlichkeit konstituiert“. Sinnliche Wahrnehmung steht wirklich am Ausgangspunkt aller Interaktionen im Feld des Ästhetischen. Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Theorien vor, die ästhetisches Erleben als intensivierte sinnliche Wahrnehmung (und deren Verarbeitung) verstehen und sinnliche Wahrnehmung als Schlüsselglied in den Beziehungen zwischen Menschen und ihren Umwelten betrachten. Deshalb ist es auch für die Grundlegung von Konzepten Kultureller Bildung nützlich, solche Überlegungen zu berücksichtigen.

Einige davon, die man ganz grob als kulturanthropologisch charakterisieren kann, werden im Folgenden vorgestellt. Dabei geht es darum, verschiedene Varianten dieser durchaus unkonventionellen Sicht erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, ohne gleich auf Differenzen und Widersprüche einzugehen. Das macht erst Sinn, wenn man die Anwendbarkeit auf empirische Sachverhalte erprobt hat. So stehen die Autor*innen hier nebeneinander. Ich nehme mir allerdings die Freiheit, einiges zu kommentieren und auch weiterzudenken, so dass sich hoffentlich im letzten Teil Umrisse eines plausiblen Ansatzes ergeben.

Grundfragen sind: Wie und auf welcher Naturgrundlage bildete und äußerte sich im Lauf der menschlichen Entwicklung Empfänglichkeit für und Kompetenz zu sinnlichen Wahrnehmungen aller Art – angenehmer wie unangenehmer? Wie wurde aus sinnlicher Wahrnehmung eine sich ausweitende und ausdifferenzierende Praxis ästhetischen Wahrnehmens und Gestaltens? Derartige Prozesse haben vermutlich die Entwicklung des Homo sapiens seit mehr als 300.000 Jahren begleitet. Der Gedanke, dass menschliches (Zusammen-)Leben nicht ohne ästhetische Kommunikation und Interaktion vorstellbar ist, verbindet die folgenden Überlegungen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft.

Lebensenergie und ästhetische Gewalt – Katya Mandoki

Die mexikanische Philosophin Katya Mandoki (2007:61-64) verknüpft die ästhetische Dimension menschlichen Daseins mit dessen Körperlichkeit, mit der Fähigkeit zu fühlen und mit der grundlegenden biologischen Energie (sie zitiert Bergsons „élan vital“), ohne die Leben nicht vorstellbar ist. Anders formuliert: Ästhetische Beziehungen zur Umwelt sind grundlegend körperbasiert und körpergetragen. Damit sind sie auch so unterschiedlich wie die einzelnen Körper mit ihrer je einmaligen Geschichte und Lebenssituation (ebd.:63).

Als ästhetisch versteht Mandoki jede intensivierte, bedeutungshaltige sinnliche Wahrnehmung, die uns mit Wirklichkeit, mit der materiellen und ideellen Lebensumwelt von Gesellschaft und Natur verbindet. Sie bezeichnet die Verbindung als Einrasten („latching-on”) und verwendet ein starkes Bild für diese Kopplung, welche gewissermaßen in der Struktur der belebten, bedeutungsvollen Welt und in deren morphologischen Interdependenzen vorgesehen ist: die Verbindung, die jeder Babymund zur Brustwarze der Mutter sucht und findet. „If reality can be understood as a semiosic intersubjective network that we share with others, aesthetics is that cohesive structure that allows us to adhere to it” (ebd.:67).

Emotionen bilden für Mandoki gewissermaßen die Vermittler, die auf menschlicher Seite das Einrasten praktisch werden lassen. Dafür spricht der vehemente Appetit auf ästhetisches Erleben. Menschen reagieren auf sinnliche und bedeutungsgeladene Wahrnehmungen – unaufhörlich und unverzichtbar. „We are captivated by what is affectionately significant, valued, and brimful of meaning” (ebd.:68). Ästhetisches „Einrasten“ beinhalte Faszination, Verführung, Antrieb, Ernährung und Appetit. Es geht für Mandoki weit über Kontemplation oder pure Rezeptivität hinaus; es handele sich um die praktische Öffnung zum Austausch mit der Welt und gehöre somit zu den Grundlagen höherer Lebensformen.

Ästhetische Aktivität in diesem Sinn zielt für Mandoki nicht nur auf angenehme Empfindungen oder Vergnügen. Sie ist zuerst einmal notwendig, denn sie dient dazu – hier nimmt sie Gedanken von Dewey (1980) auf –, Vitalität und Lebensenergie zu erzeugen und gedeihen zu lassen (Mandoki 2007:69). Als Deutsche/r ist man aus gutem Grund skeptisch gegenüber vitalistischen Begrifflichkeiten; in unserer Tradition wurden sie oft anti-aufklärerisch und biologistisch-sozialdarwinistisch eingesetzt. Doch zählen Mandoki wie Dewey fraglos zum entgegengesetzten Theorielager. Der Grundgedanke, dass positive ästhetische Erfahrungen Lebensenergie und Lebenssteigerung zugutekommen, ist aus meiner Sicht nicht a priori zu verwerfen.

Zur basalen Rolle ästhetischer Interaktion gehört, dass sinnliches Wahrnehmen, Empfinden und Austauschen stets von Bedeutungen durchdrungen ist. Es gibt für Mandoki kein Einrasten ohne ein Subjekt, das einem Objekt Bedeutung zuschreibt (ebd.:123). Bedeutungen stehen und wirken stets in sozialen Kontexten; sie legen Bewertungen und Handlungen nahe. Es sei die Verbindung mit emotional affizierenden, anziehenden oder abstoßenden sinnlichen Effekten, die ästhetischer Wahrnehmung erstrangige Wirkkraft verleiht. Mandoki befasst sich daher ausführlich mit Strategien, wie soziale Akteure mittels elaborierter ästhetischer Gestaltung ihre Interessen besonders eindringlich zu kommunizieren versuchen.

Letztlich geht es ihr um ein neues Selbstverständnis akademischer Ästhetik; sie solle empirisch substanzielles Wissen über ästhetische Prozesse im erwähnten Sinn produzieren. Dazu gelte es, an ästhetisches Erleben mit dem Ziel einer Erhellung sozialen Verhaltens und sozialer Probleme heranzugehen. Ästhetik als Wissenschaft erforsche alltägliche Wahrnehmungen, Empfindungen und Praktiken, um das Verständnis aktueller Gesellschaften und letztlich auch deren Lebensverhältnisse zu verbessern (ebd.:Kap. 13).

Mandoki entwickelt dazu einen Gedanken, der vielleicht ihren wichtigsten Beitrag zur alltagsästhetischen Theoriebildung darstellt: die elementare Rolle negativer ästhetischer Erfahrungen im Leben vieler Menschen – global gesehen, der großen Mehrheit. Den Gegenpol zum erstrebten und lebensfördernden ‚Einrasten‘ bildet das ästhetische ‚Eingezwängtwerden‘ („being latched-by“) oder gar ‚Deformiertwerden‘ – eine passive und passivierende Erfahrung. „In this case the subject feels not captivated but captured by the object in situations of intrusion. In latching-on there is intentionality, impetus toward an object, Kant’s ‚free play between imagination and understanding’, whereas in being latched-by there is aesthetic poisoning, loss of capacity for ‚free play’, and the numbing or lesion of sensibility by aesthetic violence. Latched-by is therefore equally relevant to aesthetic theory as a depletive condition of sensibility. […] Latching-on is an opening, an act of amplitude, while aesthetic latched-by is enclosure and narrowness of sensibility in its impotence” (ebd.:69; Herv. i.O.).

Mit ihrem Blick auf die verbreitete „ästhetische Gewalt“ holt Mandoki die globale, auch innerhalb westlicher ‚Wohlstands‘-Gesellschaften präsente Ungleichheit von Lebensverhältnissen und Entwicklungsmöglichkeiten drastisch in die Theorie der Ästhetisierung des Alltags. Man denke an das Aufwachsen in sinnlicher Armut und Enge, in von Industrie und Verkehr schwer belasteten Umwelten, an alle Sinne belastende Arbeitsanforderungen und ähnliches. Vielfach verursacht die elementare, gleichermaßen unverzichtbare wie unvermeidbare sinnliche Kommunikation mit der Umwelt Leiden und Abstumpfung. Und dagegen kann man sich nicht verteidigen oder schützen, da ästhetische Gewalt die Offenheit unserer Sinne ausnutzt!

„Normally sensibility should flow freely at each opportunity that presents itself, since joy is our natural disposition to life. Aesthetic violence, however, blocks sensibility when it ceases to be a source of joy causing only pain. Those who lead a privileged life of aesthetic nourishment and stimuli in benevolent environments can maintain their sensibility open. On the other hand, those who are continually exposed to aesthetic violence by inhabiting sordid, noisy, malodorous spaces, or lead a stressful and aggressively competitive life are latched-by and forced to block their sensibility to avoid suffering. […] When sensibility is latched-by aesthetic sordidness, the subject seeks to unblock it. Defensive numbness of the senses is a reaction of survival and resistance to aesthetic latched-by” (ebd.; Herv.i.O.).

Gewiss nicht alle, aber doch sehr viel mehr soziale Probleme als angenommen seien als Folgen ästhetischer Deprivation („aesthetic negligence“) zu verstehen (ebd.:99). Im deutschen Diskussionszusammenhang ist erwähnenswert: Mandoki denkt hier nicht an populäre Kulturangebote – die hierzulande oft als schlimmste Feinde ästhetischer Sensibilität angeprangert werden.

Die gleichrangige Einbeziehung negativer ästhetischer Erfahrungen wirkt im Kontext europäischen Denkens über Kunst und Schönheit geradezu befreiend. Sie entzieht die ästhetischen Praktiken des Alltags der Gravitation von Kunst und ‚Schönheit‘ und stellt sie in den Rahmen gewöhnlicher Lebensbedingungen und sozialer Interaktionen mit Folgen für die Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen.

Ich gehe auf diesen Strang hier nicht weiter ein und folge der Spur, die Mandoki mit der konzeptionellen Metapher vom sinnlich-emotionalen „Einrasten“ legt. In der industriellen Moderne nicht nur des Westens ist nämlich die Suche nach positiven Gefühlen mittels Unterhaltung und Vergnügung zu einem erstrangigen Ziel der Lebensführung geworden – Stichwort „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze 1992). Dafür haben die ‚gewöhnlichen‘ Menschen über Generationen ein Instrumentarium aus spezifischen Praktiken und Gewohnheiten, Sensibilitäten, Kompetenzen und Interessen entwickelt. Es wurde zur Grundlage für eine Populärkultur, in und mit der die Bevölkerung weiter Teile der Welt einen Großteil ihrer wachen Zeit verbringt. Dazu gehören vielfältige mittels (Massen-)Kunst realisierte ästhetische Praktiken ebenso wie die unüberschaubare Menge ästhetischer Wahrnehmungen und Erlebnisse, die uns mit anderen Potenzialen unserer Umwelt verbinden, von Tagträumen über Schmuck und Design bis zur Natur. Um für die Beschreibung solcher Interaktionen ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, ist das Streben nach Lebenssteigerung zu verfolgen.

Das Interesse an massenhaft geschätzten ästhetischen Erlebnissen leitet auch die im Folgenden vorgestellten Ansätze.

Erfahrung und Alltag – John Dewey

Der pragmatistische Universaldenker John Dewey geht in seiner 1934 erschienenen Studie „Art as Experience“ nicht ausdrücklich auf anthropologische Grundlagen ein. Sie sind jedoch unverkennbar schon im Ansatz, den er wählt; der brach damals wirklich mit grundlegenden philosophischen Konventionen. Dewey beginnt nicht mit der üblichen Frage, welche Eigenschaften ein Kunstwerk charakterisieren. Er interessiert sich für die Eigenschaften eines besonderen Typs von Erfahrungen, die Menschen machen. So startet er mit Grundelementen, die jede/r aus dem Alltag kennt – „Ereignissen und Szenen, die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen“. Als Beispiel nennt er „das Behagen dessen […], der ein Holzfeuer im Kamin anfacht und dabei die hochschießenden Flammen und die zerfallende Glut betrachtet. […] Von dem sprühenden Farbenspiel, das vor seinen Augen abläuft, ist er […] fasziniert, und seine Phantasie nimmt daran lebhaften Anteil“ (Dewey 1980:11).

Für Dewey enthält alles praktische Handeln und jedes konturierte Wahrnehmen ein ästhetisches Potenzial. Kunst bezeichnet aus dieser Perspektive eine besondere, relativ seltene Art von Ressource. Ihre Angebote sind einzig dafür bestimmt, ästhetische Erfahrungen zu machen (ebd.:12). Die Monofunktionalität unterscheidet sie von den meisten Dingen und Tätigkeiten, die unsere Sinne anziehen und doch primär anderen Zwecken dienen. Wichtiger als dieser Unterschied ist Dewey aber – und ein solches Vorgehen kann man als anthropologisch charakterisieren –, was allen Erfahrungen welcher Art auch immer gemeinsam ist: Wir machen sie im strengen Sinn des Wortes. Eine Erfahrung ist nichts, was einer Person ohne ihr Zutun geschieht. Wir erzeugen sie aktiv. Für Dewey ist Erfahren eine Tätigkeit, deren Produkt die Erfahrung ist. Ästhetische Erfahrung ragt aus dem Gleichmaß und Gleichlauf des Alltags heraus und hebt Menschen ein Stück weit darüber hinaus. Doch bleibt sie mit dem gewöhnlichen Leben verbunden; sie gehört keinem wesentlich anderen Bereich des Handelns und Denkens an.

Diese Sicht folgt auch daraus, dass für Dewey alltägliches Vergnügen („pleasure“) keine Trivialität darstellt, sondern hohe Bedeutung für die Lebensführung hat. Der pragmatistische Philosoph Richard Shusterman (2000:29) hat diese Auffassung pointiert zugespitzt: „ […] we humans, philosophers included, live primarily not for truth but for sensual and emotional satisfaction.” Freilich kennt Dewey (1980:62 f.) auch ein Vergnügen am Erkennen und formalen Analysieren. Aber das könne nicht den einzigen Maßstab für ästhetischen Genuss bilden; den entdeckt er auch im Schmecken eines Gerichts, wenn es Wissen um die Ursache des Geschmacks und Anerkennung für die Art der Zubereitung einschließe. In diesem umfassenden Sinn versteht Dewey „ästhetische Empfindungen“ als „notwendige Bestandteile des Glückes“ (ebd.:17). Die Engführung auf das Vergnügen und seine alltäglichen Funktionen hin markiert im Vergleich mit Mandoki die Grenzen seines Zugriffs. Zugleich benennt Dewey damit einen wesentlichen Aspekt der Ästhetisierung des Alltags.

Deweys Ansatz hat zweifellos eine vitalistische Färbung. Mit der Betonung von Energie, Dynamik, Integration und ermächtigender Befriedigung zielt er auf eine Gestalt von Erfahrung, die als steigernde Verdichtung elementarer Lebenskräfte konzipiert ist. Zwar verläuft Erleben in der Praxis oft deutlich weniger fokussiert und in sich geschlossen, doch öffnet Deweys Einstieg von den Erfahrungen der Menschen her den Blick für die ästhetischen Momente im Alltag. Wir haben auszugehen von Praktiken, mit denen jedefrau und jedermann positiv bewertete Empfindungen zu erzeugen suchen. Als Material dafür nutzen sie starke sinnliche Eindrücke und Vorstellungen, die spürbar mit Emotionen verbunden sind.

Interphänomenalität und massenhaftes ästhetisches Begehren – Joachim Fischer

Der Soziologe Joachim Fischer (2018a) stellt ästhetische Kommunikation und rezente Ästhetisierungsprozesse ebenfalls in einen universellen, die Menschenwelt sogar übergreifenden Zusammenhang; in der Tradition der Philosophischen Anthropologie spricht er von Interphänomenalität (Fischer 2018b). Den empirischen Ausgangspunkt bilden für ihn weit gespannte Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft, die er als Kunstprozesse fasst, insofern sie allesamt auf die „Frage der gelingenden Gestaltung der sinnlichen Erscheinung des Lebens“ (2018a:507) bezogen seien.

Als wichtige Felder nennt er „das Design der Dinge, das die Familienseelen und -ressourcen okkupiert, vom Spielzeug der Kinder bis hin zum ästhetisch gelungenen Interieur der Wohnräume“ (2018a:508, Herv.i.O.); die ästhetischen Aspekte von Architektur und Städtebau; Faszination und subjektive Bedeutung der Mode als unaufhörlicher „Versuch, einander die je eigene Unergründlichkeit in den unerschöpflichen vestimentären Ausdrucksvarianten interphänomenal zu zeigen oder zu verbergen, sich einander in den unendlichen Schnittmöglichkeiten die Expressivitätspotentiale in der Öffentlichkeit vorzuführen“ (ebd.:509); kosmetische Chirurgie und Tätowierungsboom; Selbstdarstellungen bei Facebook; Popmusik, Konzerte und Diskotheken, die die „individualisierten Massen durch die ihnen jeweils […] auf die Ohren und Seelen, auf ihre nach Ausdruck hungernden idiosynkratischen Innenwelten, auf ihren aufgedeckten und facettierten Geschmack hin komponierte Musik in verzückte Schwingungen versetzen“ (ebd.:510); die Spektakel des Schausports; die „hunderttausend-fach gepflegten Gärten […], die alle der aufwendigen, kultivierten Naturästhetik frönen in dem, was sie […] zum schön angeordneten Keimen und Blühen bringen – ihren Nachbarn und Gästen zur Schaulust“ (ebd.:511; Herv.i.O.); der Tourismus als „Genießen der Ästhetik anderer Gesellschaften, ihrer sinnlichen Erscheinungsweise“ (ebd.); schließlich die renommierten Kunstmuseen als die „eigentlichen Sakral-räume[] der großen Metropolen“ und die allgegenwärtigen Graffiti (ebd.:512).

Wie Mandoki (2007:57-60) mit Bezug auf Identität und sinnlich verstärkte Kommunikation, so versteht auch Fischer (2018a:513) das Bemühen um eindrucksvolle Selbstdarstellung von Personen – „das Voreinandererscheinen-Wollen“– als eine wesentliche Triebkraft von Ästhetisierungsprozessen; diese ließen sich historisch weit zurückverfolgen. In der jüngeren Vergangenheit betont er den Massencharakter solcher Praktiken wechselseitiger Selbstpräsentation. Dem müsse die Forschung Rechnung tragen, wenn sie „die Ästhetisierung als den Basiszug moderner Vergesellschaftung“ (ebd.:505; Herv.i.O.) und die Rolle der auf „Kunst“ (in der skizzierten Breite!) bezogenen ästhetischen Praktiken „als eigentliches Kraftzentrum der Gegenwartsgesellschaft“ (ebd.:507) verstehen wolle. Kulturwissenschaftler*innen sollten „sich tief und in neutraler Beobachterhaltung vor allem und in erster Linie auf die omnipräsenten ästhetischen Praxen der individualisierten Massen einlassen“ (ebd.:506 f.).

Fischer konstatiert verbreitetes Verlangen nach einem „offensichtlich existentiell wichtigen Zugang der Rezipienten zu ästhetischen Ressourcen“ wie Spielfilmen und Musik (ebd.:507). Dieses „ästhetische Begehren“ bestätige die bereits von Gerhard Schulze (1992) in seiner Studie zur „Erlebnisgesellschaft“ umfassend herausgearbeitete „erlebnisrationale Orientierung am Projekt des schönen Lebens, des Ästhetischen“ (Fischer 2018a:507; Herv.i.O.). Kaum etwas sei gegenwärtig für die Einzelnen wie für die Institutionen wichtiger als „die sinnlichen Erscheinungsverhältnisse, also die je spezifische Gestalt der sinnlich affizierenden Erscheinungen, einerseits des Subjektes vor und für sich selbst, andererseits der Subjekte interphänomenal vor- und füreinander“ (ebd.:508; Herv.i.O.). Angesichts solcher vielfach geteilten Beobachtungen müsse man sich ernsthaft auf „den élan vital der ästhetischen Praxen der individualisierten Massen […] einlassen“ (ebd.:515).

Das Konzept der Interphänomenalität hat Fischer (2012; 2018b) im Rahmen der Philosophischen Anthropologie entwickelt. Er versteht darunter grundlegend „das Faktum eines universellen Ausdrucksüberschusses im Kosmos, einer ‚Interexpressivität‘“ (2018b:120). Das bedeutet, dass Phänomene „als Phänomene vor- und füreinander erscheinen, also auf so etwas wie Ausdruck und Eindruck bzw. Ausdruckswahrnehmung und Eindrucksmanöver untereinander eingestellt sind“ (ebd.:119 f.). Damit ist sozusagen eine universelle ‚Ästhetisierungsdisposition‘ gegeben. Sie bilde auch die Grundlage aktueller ästhetischer Steigerungsprozesse, sei jedoch keineswegs auf menschliche Bestrebungen und Praktiken beschränkt, sondern eine allgemeine Eigenschaft des belebten wie unbelebten Kosmos.

Ontologisch bedeute das, „dass es bereits vor oder neben und auch nach menschlichen Lebewesen Ausdrucksphänomene im Kosmos gibt – nämlich in der Pflanzen- und Tierwelt, in der Welt des Lebendigen, in der die Organismen von sich her bereits auf expressive Erscheinung (voreinander) angelegt sind. Es gibt eine vitale Zone des Interphänomenalen vor und neben der zwischenmenschlichen Lebenswelt“ (ebd.:120). Fischer leitet daraus eine kognitiv-emotionale Disposition menschlicher Wesen ab, „tendenziell oder primär […] alles Gegebene im Universum und Kosmos als Ausdrucksphänomen auffassen zu können […]. Menschliche Lebewesen sind ausdrucks-projizierende Lebewesen, sie vermuten – weit über ihresgleichen und weit über tierische und pflanzliche Ausdrucksverhältnisse hinaus – auch Ausdrucksverhältnisse in der sogenannten unbelebten Natur“ (ebd.). Sie seien grundlegend offen für und begierig auf die Perzeption von Erscheinungen, die durch ihre sinnliche Gestalt die Erwartung auf Expression eines Anderen nähren und befriedigen.

Wie Mandoki bezieht sich auch Fischer auf natur- und lebenswissenschaftliche Befunde. Hier ist zunächst das gemeinsame Argument festzuhalten, wonach Aus-drucksbedürfnis und Begehren nach Interaktion beziehungsweise Kommunikation mittels sinnlich starker Eindrücke Grundelemente menschlicher Entwicklung bilden. In Verfolg der angedeuteten lebenswissenschaftlichen Linie ist es angebracht, knapp auf evolutionistische Ansätze einzugehen – wenngleich eher exemplarisch als systematisch –, die die menschliche Disposition zu ästhetischer Kommunikation entwicklungsgeschichtlich herleiten.

Fitness und Wahrnehmungslust – Evolutionistische Perspektiven

Verschiedene Disziplinen haben Konzepte vorgelegt, die eine solche Veranlagung zu belegen suchen. Biologen und Psychologinnen fragen vor allem nach evolutionären Vorteilen für Individuen. Sie nehmen in erster Linie Mechanismen der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sowie der Auswahl von Fortpflanzungspartnern in den Blick und betrachten deren Funktionieren als genetisch fundiert. Anthropolog*innen suchen eher nach den Vorteilen für Menschengruppen und sind offen für die kulturelle Implementierung vermuteten (proto-)ästhetischen Handelns. In allen Fällen geht es um Fitness im Sinne optimierter Chancen zur Weitergabe der eigenen Gene.

Tätigkeiten wie Schmücken und Verzieren, Darstellen von nicht Wirklichem, Singen usw. erscheinen aus biologischer Sicht auf den ersten Blick überflüssig, ohne evidente Funktion. Evolutionäre Ästhetik sucht den Nutzen solchen Tuns in einer frühen Entwicklungsphase der Gattung Homo plausibel zu machen, seit sich vor ca. zwei Millionen Jahren das moderne menschliche Gehirn zu bilden begann. Argumentiert wird beispielsweise mit den Vorteilen, die es bot, die komplexe Reizverarbeitung des Hirns in der Beschäftigung mit ‚Ausgedachtem‘ zu entfalten, zu trainieren und zu eichen (Tooby/Cosmides 2001; Eibl 2009, 2004); mit der Überlegenheit, die es brachte, in der Flut von Außenweltreizen nach Ordnung zu suchen (Sütterlin 2003, 1994; Richter 1999); mit der ‚protoästhetischen‘ akustischen Kommunikation zwischen Müttern und Kleinkindern, die den Nachwuchs besser gedeihen ließ (Dissanayake 2001); mit der hirnfördernden Entwicklung der Fähigkeit, andere zu täuschen (Knight 1999; Power 1999; Watts 1999).

Das sind zunächst ziemlich spekulative Thesen; Kulturwissenschaftler*innen können sie nicht im Einzelnen bewerten. Doch erscheinen viele Überlegungen miteinander vereinbar; manche in diesem Zusammenhang benannten Potenziale kann man sich zu wechselseitigem Vorteil vernetzt vorstellen. Evolutionär orientierte Argumentationen suchen jedenfalls das Ästhetische in der psychosensorischen Ausstattung und Interaktion der Menschen, nicht in ‚Werken‘; „all people are aesthetes“, formuliert Thornhill (2003:15). Der Grundgedanke ist stets: Verbreitete Präferenzen für die Wahrnehmung von Eigenschaften der sinnlichen Umwelt, die heute als schön gelten, sind fest verknüpft mit Verhaltensdispositionen und neuronalen Strukturen, die modernen Menschen in der Frühzeit Selektions- und Überlebensvorteile brachten. Solche Dispositionen sind zu erheblichen Teilen genetisch verankert und werden als natürliches Erbe tradiert. Das folgt Darwins Ansatz: Individuen, deren psychophysisches System ‚ästhetisches‘ Verhalten intrinsisch mit Wohlgefühl belohnte, waren stärker disponiert zu entsprechenden Aktivitäten und konnten damit systematisch ihre Chancen zur Weitergabe der eigenen Erbinformation verbessern.

Angenehmes und Nützliches bilden in dieser Sicht zwei Seiten einer Medaille. Lebewesen, die als angenehm empfinden – und deswegen tun! –, was objektiv ihre Fortpflanzungschancen im Vergleich zu anderen Individuen derselben Art vergrößert, werden so die Disposition, Nützliches ‚schön‘ zu finden, weiter innerhalb der Art verbreiten. In Abwandlung der Hume’schen These, die Schönheit liege im Auge des Betrachters, heißt es evolutionistisch: „beauty is in the adaptions of the beholder“ (Symons 1995, zit.n. Welsch 2009:98).

Damit Ästhetisierung als Grundbestandteil menschlicher Lebensgestaltung plausibel wird, ist allerdings noch eine weitere Annahme nötig – dass nämlich aus den unbewussten Dispositionen eine neue Qualität entstand: ‚Wahrnehmungslust‘. Die wurde dann nicht mehr genetisch, sondern kulturell weitergegeben und gefördert. Der Begriff meint, dass prähistorische Gruppen von Menschen und ihren Vorgängern das Erleben von Wohlgefallen an Wahrnehmungen und damit verbundenen Vorstellungen unter eigene Regie zu bringen suchten. Sie entwickelten die Neigung und zunehmend auch die Fähigkeit, jene Konstellationen, unter denen Vergnügen an sinnlicher Wahrnehmung empfunden wird, nicht mehr dem Zufall und der vorsprachlichen Expertise einzelner zu überlassen. Man begann, solche Interaktionen zunehmend bewusst und kollektiv zu gestalten; letztlich führte das zu jenen Ästhetisierungspraktiken, die neuere Forschung als bewusste und systematische Gestaltung der sinnlichen Umwelt beschreibt.

Aus der zunächst sprachlosen, angenehmen Empfindung des eigenen sinnlichen Wahrnehmens entwickelte sich ein ganzer Bestand an Wissen, Regeln und Praktiken zur Gestaltung ästhetischer Interaktionen. In einem von heute aus gesehen letzten Schritt entstanden dann aus der nutzenorientierten sinnlich gesteigerten Kommunikation Praktiken, deren vorrangiges Ziel die Herstellung ästhetischen Wohlgefallens war. Im Lauf der Urgeschichte bildete sich solche Wahrnehmungslust auf evolutionärer Naturgrundlage fort zur entwicklungsoffenen kulturellen Disposition. In Kurzform: eine Entwicklung von der vorbewussten Freude am sinnlichen Wahrnehmen zur bewussten Erzeugung ästhetischen Erlebens.

Sinnliche Ordnung und Wohlgefallen – Eckhard Neumann

Einen Ansatz, der solche evolutionären Perspektiven aufnimmt und mit Blick auf die soziale Funktionalität ästhetischer Potenziale und der damit verbundenen „Sinnesarbeit“ (Neumann 1996:15,53,passim) kulturanthropologisch weiterführt, hat der Psychologe Eckhard Neumann vorgelegt. Aus seinem ausgreifenden Entwurf nehme ich einige Grundgedanken zur historischen Verankerung von Ästhetisierungspraktiken auf und denke sie weiter.

Für Neumann (ebd.:194) ist menschliches Dasein „stets auch ein ästhetisch gestaltetes Sein.“ Das folge daraus, dass menschliche Existenz nur in Gruppen mit einer sozialen Ordnung möglich ist. Homo sapiens sei nicht denkbar ohne „ästhetische Produktivität“; darunter versteht er „eine universale, spezifisch menschliche Verhaltensweise […], die sämtliche gestalterischen und wahrnehmenden Verhaltensweisen in allen Sinnesbereichen umfasst“ (ebd.:53). Indem sie wahrnehmen, was den Sinnen zugänglich ist, und Wahrnehmungskonstellationen gestalten, treten Menschen in ästhetische Beziehungen ein. Sie müssen Neumann zufolge ihre sinnliche Umgebung formen, weil es keine Weise menschlichen Lebens geben kann ohne erfolgreiches Zusammenwirken – und dazu braucht es effektive Kommunikation. Zweckdienliche sinnlich expressive Kommunikation ist mithin unverzichtbar für jede menschliche Ordnung. Menschen führen und entwickeln ihr (Zusammen-)Leben „in sinnlichen Ordnungsstrukturen“ (ebd.:53). Aus dieser Grundgegebenheit ist die gesamte Früh- und Vorgeschichte als Geschichte fortschreitender „Versinnlichung“ (ebd.:55) des kollektiven Lebens herzuleiten.

Verständigung findet nicht allein und nicht zuerst mittels Sprache statt (die ja auch sinnlicher Gestaltung und Wahrnehmung von Lauten, Gesten, Mimik etc. bedarf). Kommunikation nutzt in großem Umfang das Gestalten und Perzipieren nonverbaler sinnlicher Ausdrucksmittel. Seit der Frühgeschichte setzen Menschen Farben, Formen, Klänge, Gerüche und die taktile Qualität von Oberflächen als Mittel ein, um Unterscheidungen als beachtenswert zu markieren und mittels ritualisierter Inszenierungen auf angemessenes Verhalten hinzuweisen. Neumann (ebd.:143-158) zieht hier ethnologische Befunde heran, etwa von Silvia Schomburg-Scherff (1986), zum allumfassenden Charakter der „planerischen Inszenierung von Sinneserfahrungen“ in Stammesgesellschaften (Neumann 1996:149). Er nennt „beispielsweise körperliche Pflege und Inszenierung, die Gestaltung von Bekleidung, Behausung, Geräten bzw. Gebrauchsgegenständen, die ‚allästhetische‘ Inszenierung von Sozialisationsprozessen, Festen und Riten, einschließlich der räumlichen, motorischen, gestisch-mimischen Organisationsweisen“. Eine Dimension zuspitzend, konstatiert er: „Der bekleidete und geschmückte, mitunter benarbte Körper wird bei den Naturvölkern aus der funktionalen Perspektive […] zur ‚Signaltafel‘ für die gesellschaftlich gelenkte Kommunikation und Interaktion“ (ebd.; Herv.i.O.) – wobei anzumerken ist, dass jeweils auch Selbstpräsentation der einzelnen (in den jeweils kulturell möglichen Formen) im Spiel ist.

Die Universalität derartiger „ästhetischer Produktivität“ ergibt sich für Neumann aus der Notwendigkeit des Aufbaus nichtdiskursiver Kommunikations- und Organisationssysteme (ebd.:189) sowie daraus, dass bewusste, auf Effekte zielende Gestaltung sinnlicher Dimensionen faktisch für alle sozialen Lebensäußerungen einsetzbar war und ist (ebd.:194). So kann er ästhetische Praktiken letztlich als „das mediale Instrument gesellschaftlich organisierter Lebenssicherung“ bezeichnen (ebd.:159; Herv.i.O.).

Analytisch möchte ich die hedonische, Wahrnehmungslust erzeugende, und die symbolische, bedeutungsvermittelnde Leistung ästhetischer Produktion unterscheiden. Die hedonische Funktion ist notwendig, damit die symbolische optimal wirken kann. Negativ empfundene Wahrnehmungen können zwar kurzfristig zur Warnung und Abschreckung eingesetzt werden. Doch nur Kommunikate, deren sinnliche Rezeption als in irgendeiner Weise attraktiv empfunden wird, werden anhaltende, interessierte, motivierende Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auf dieser Kombination basieren jene Praktiken, die mittels sinnlicher Gestaltung etwas herausheben, bedeutsam machen, markieren, von der Umgebung oder gleichen Gegenständen mit anderer Markierung unterscheiden. Zusätzlich zur Auslösung von Wahrnehmungslust können Form und Farbe, Größe und verwendetes Material nichtsprachliche (‚symbolische‘) Bedeutungen tragen; zum Beispiel wird Rot oft mit dem Bedeutungsfeld des Blutes verbunden, Größe mit Autorität, Gold mit Strahlen und Seltenheit.

Nonverbale Verständigung und Kooperation funktionieren umso besser, je kräftiger und prägnanter sinnliche Hinweise die menschlichen Sensoren und die Signalverarbeitung im Hirn ansprechen. Damit das funktioniert, sind neben der hedonischen Qualität des Gestalteten Sensibilität und Aufmerksamkeit der Menschen unverzichtbar. Das bedeutet: Training und Verfeinerung der Empfindsamkeit für die hedonischen wie symbolischen Dimensionen des sinnlich Gestalteten sind für das Funktionieren sozialer Gruppen und für deren erfolgreiche Interaktion mit ihrer Umwelt unabdingbar. Zugespitzt: Fähigkeiten zur Gestaltung sinnlicher Prägnanz und zu sensibler und verstärkender Aufnahme dieser Signale verschafften evolutionäre Vorteile. „Sensory apprenticeship“ (Leder Mackley/Pink 2014), das alltagspraktische wie auch gezielte Erlernen der Rezeption sinnlicher Botschaften war und ist Teil menschlicher Gattungsgeschichte.

Die gesamte menschengeschaffene materielle Umwelt wird in ihren sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten nach einem symbolischen Code geformt, an dem sich die Mitglieder eines Verbandes orientieren. Ästhetische Gestaltung und ihre Potenziale sind für Neumann keine Surplus-Leistung, die als zweckfreier Raum der Freiheit und Schönheit jenseits der Zwecke und Lebensimperative steht. Ästhetische Praktiken dienten in der gesamten Menschheitsgeschichte der Entwicklung „sinnlicher Ordnungsstrukturen“ des Sozialen (Neumann 1996:53). Sie wurden eingesetzt zur sinnlich-emotiven Orientierung von Individuen und Verbänden im Aufbau komplexer sozialer Strukturen (ebd.:79). Menschheitsgeschichte war Ästhetisierungsgeschichte. Dies zu leugnen hieße die Lebenszusammenhänge zu verkennen, die ästhetische Produktivität und Sensibilität der Spezies Homo seit ihren Anfängen geprägt haben.

Ein weiterer Gesichtspunkt wird von Neumann eher implizit angedeutet. Ästhetische Produktivität als Einheit von Gestaltung und Rezeptivität folgte von Beginn an einer inhärenten ‚Optimierungsdynamik‘. Die hat sozusagen als Treibriemen den oben skizzierten Übergang von der naturgeschichtlichen zur kulturellen Qualität ästhetischer Praktiken vorangebracht. Das galt schon, bevor mit zunehmender Arbeitsteilung und Hierarchisierung der Personenverbände ein Wettbewerb unterschiedlicher Akteure um Aufmerksamkeit, Überzeugungs- und Anziehungskraft einsetzte. Je eindringlicher beispielsweise Trommeln in Rhythmus, Klangfarbe, Frequenz, Tempo usw. mitteilten, ob es um Arbeit, Kampf, Zeremonie, schamanisches Ritual oder Feier der Gemeinschaft ging und je aufmerksamer und intensiver die Beteiligten die sinnlichen Signale perzipierten, emotional empfanden und in eigener sinnlich-körperlicher Praxis von Bewegung oder Gesang verstärkend aufnahmen – desto besser war die Verständigung, desto effektiver die Synchronisierung der Gestimmtheit und desto klarer die Ausrichtung auf das erwartete Handeln.

Das ist zunächst einmal ein funktionalistisches Argument. Wenn die Kommunikationsleistung sinnlicher Botschaften lebenswichtig ist, dann sind Menschengruppen im Vorteil, in denen das Schaffen wie das Perzipieren sinnlicher Kommunikate belohnt wird. Aufmerksames Wahrnehmen kann über soziale Anerkennung oder über Drohung mit Sanktionen gefördert werden. ‚Verlässlicher‘ und effektiver scheint es allerdings, sinnliche Kommunikation mit positiven emotional-motivationalen Mechanismen zu verbinden.

Das macht eine Entwicklung hin zur unmittelbar affektiven ‚Belohnung‘ ästhetischer Sensibilität wahrscheinlich, da vorteilhaft. Schlicht formuliert: Aufmerksame sinnliche Wahrnehmung und Gestaltung werden von den einzelnen mit starken und daher reizvollen Gefühlen verbunden – nicht immer direkt angenehmen, sondern auch abschreckenden, warnenden. Die „sinnlichen Ordnungsstrukturen“ funktionieren am besten, wenn grundlegend positive Erwartungen sensuelle Kommunikation begleiten, wenn also die sinnlichen Phänomene bereits ‚vor‘ dem Erschließen ihrer Bedeutung als angenehm, reizvoll, belebend, erregend oder sonst positiv wahrnehmenswert empfunden werden. Anerkennung und Belohnung praktizierter Wahrnehmungslust können über soziales Tradieren auf Dauer gestellt werden; doch legen Befunde von Verhaltensforschung und Paläoanthropologie es nahe, auch an evolutionäre Verankerung im Erbgut (infolge von Fortpflanzungsvorteilen entsprechender Individuen und Gruppen) zu denken.

Heute jedenfalls reagieren Menschen weltweit positiv auf sinnliche Opulenz und Prägnanz. Vor jeder kulturellen Differenzierung sind dabei offenbar unwillkürliche Empfindungsmuster im Spiel, die im Optimierungsprozess zunehmend gezielt eingesetzt wurden. Beispielsweise animiert Rot mehr als Grau – auch wenn die Farbe uns warnt; weich und warm fühlt sich besser an als stachelig und kalt; glänzende Oberflächen sind reizvoller als stumpfe. Evolutionär-historisch kann man hier das Überschreiten einer (empirisch schwer zu greifenden) Schwelle annehmen: Sinnliches Wahrnehmen konnte zunehmend über seine Funktionalität hinaus, als solches, angenehm empfunden und um der Empfindungen willen gesucht und genossen werden. Sinnliche Wahrnehmung, sinnliche Interaktion als Vergnügen unabhängig von allen Zwecken, rein aus sich heraus – damit war das ästhetische Weltverhältnis in unserem heutigen Verständnis ausgebildet.

Ästhetische Produktivität in ihren beiden Dimensionen – sinnlich eindrucksvolle Gestaltung und deren aufmerksame Rezeption – wurde belohnt durch soziale Anerkennung und individuell durch positive Gefühle bei der Wahrnehmung. Beides trug dazu bei, dass sich mit sinnlicher Perzeption zunehmend positive Erwartungen verbanden, ja dass sich eine explizit als solche thematisierte Wahrnehmungslust ausbreitete (Serner 1984; Löffler 2014).

So überschritt die Optimierungsdynamik – an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten und in wechselnden Formen – eine wichtige Schwelle. Prägnante Sinneseindrücke werden mittlerweile hedonisch wegen der mit ihrer Perzeption verknüpften angenehmen Gefühle gesucht, habituell wie bewusst. Sinnliche Wahrnehmung als solche ist zum alltäglichen Quell positiver Empfindungen geworden, zum eigenständigen Handlungsziel, zum Selbstzweck. Die sinnenhaft perzipierte Gestalt von Sachen und Tätigkeiten, Personen und sozialen Figurationen wird über deren Zeichen- und Symbolfunktion hinaus als – ein moderner Terminus – ‚schön’ empfunden; sie wird als Vermittlerin angenehmer Empfindungen geschätzt, gesucht und bedarfsgerecht geschaffen.

Fazit

Die hier vorgestellten Ansätze verbindet, dass sie für die Allgegenwart, wenn nicht gar Lebensnotwendigkeit ästhetischer Interaktion im menschlichen Zusammenleben argumentieren. Die Thesen zu konkreten Perzeptionsmechanismen und Wirkungszusammenhängen weichen durchaus voneinander ab. Dennoch schließen sie einander nicht völlig aus – vieles kann man sich additiv oder synergetisch denken. Im Kontext Kultureller Bildung liegt es allerdings nahe, sich auf Interaktionen zu konzentrieren, die von Menschen freiwillig und mit der Erwartung positiven Erlebens eingegangen werden. Wie die beklemmende Realität der Belastung durch negative ästhetische Erfahrungen wissenschaftlich zu verfolgen ist, sei ebenso Fachdebatten überlassen wie die Widersprüche zwischen den skizzierten Ansätzen. Für das Verständnis von Ästhetisierung als Massenphänomen und Alltagspraxis in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart scheint mir die Verknüpfung von kollektiver Daseinsgestaltung, Kommunikation und Ästhetik bei Neumann eine gute Grundlage zu bieten.

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Kaspar Maase (2024): Ästhetische Wahrnehmung als Grundelement menschlichen In-der-Welt-Seins – Zu einigen Forschungsansätzen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/aesthetische-wahrnehmung-grundelement-menschlichen-welt-seins-einigen-forschungsansaetzen (letzter Zugriff am 13.09.2024).

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