1.000 Stunden Kunst pro-Kopf - Impulse für mehr Gerechtigkeit in Kunst und Kultureller Bildung
Aus Anlass der Corona-Krise: Versuch der Übertragung einiger Thesen und Ideen des französischen Ökonomen Thomas Piketty auf den Kulturbetrieb.
Abstract
Dass tiefgreifende Veränderungen und ein gerechterer Umgang mit dem Kulturkapital unaufschiebbar sind, zeigt die Rolle der Kultur während der Corona-Pandemie. Wie unter einem Brennglas offenbart sich die Fragilität des Systems. Die Kultur schreit laut nach Anerkennung ihrer Relevanz und findet Zuhörer fast nur in den eigenen Reihen. Denn wenn Kultur, ähnlich wie die aktuelle sozialdemokratische Politik, keine Antworten auf die wachsende Ungleichheit mehr findet, ist und wird sie de facto für immer mehr Menschen irrelevant. Zuviel Ungleichheit schadet nicht nur der wirtschaftlichen Produktivität, sondern auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und Fortschritt und somit dem kulturellen Wachstum.
Kunstvermittlung, die unter dem Sammelbegriff der Kulturellen Bildung subsumiert wird, befindet sich momentan im Spannungsfeld einer ungerechten Verteilungspolitik, einem Kulturbetrieb in der Krise (vgl. Mandel 2021 im kubi-online Themendossier zu Corona) und einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, welche sie alleine nicht bewältigen kann. Was bedeutet das?
Die Ungleichheit wird von Menschen gemacht und durch Ideologien verteidigt, sagt der französische Ökonom Thomas Piketty. In diesem Beitrag übertrage ich einige seiner Thesen und Ideen auf den Kulturbetrieb. Und ich stelle die Frage, welches Potential in der Wechselwirkung von Kunst und Bildung verborgen liegt, das für eine Transformation des Kulturbereichs genutzt werden könnte. Denn ohne echte, grundlegende Veränderungen liefert aktuell gerade das Feld der Kulturellen Bildung der Politik die besten Argumente, um Ungleichheit im Kulturbetrieb zu rechtfertigen.
Die moderne Ungleichheit nach Piketty
„Jede menschliche Gesellschaft muss ihre Ungleichheit rechtfertigen. Sie muss gute Gründe für sie finden, da andernfalls das gesamte politische und soziale Gebäude einzustürzen droht.“ (Piketty 2020:13 )
Unsere Gesellschaft, wie von Thomas Piketty und dem WID World Inequality Database eindeutig belegt, wird seit 1980 zunehmend ungerechter und verteidigt durch das Zusammenspiel von intellektuellen Diskursen und Institutionen ihr Ungleichheitsregime.
Die heutige Rechtfertigung von Ungleichheit in unserer Gesellschaft lautet: Diese ist gerecht und angemessen. Denn jeder und jede hat die gleichen Chancen und alle profitieren indirekt vom allgemeinen Wohlstand. Außerdem: Wo theoretisch alle dieselben Rechte und Bildungschancen haben, sind Unterschiede auf individuelle Leistungen zurückzuführen. Wer mehr Erfolg und Vermögen besitzt, hat sich das verdient. Wer weniger besitzt, wird stigmatisiert und moralisch abgewertet, da unterstellt wird, ihm oder ihr fehle es schlicht an Fleiß oder Fähigkeiten.
„Die moderne Ungleichheit zeichnet sich denn auch durch eine Reihe von Diskriminierungspraktiken und ethnisch-religiösen oder den sozialen und Rechtsstatus betreffend Ungleichheiten aus, deren gewaltsamer Charakter zu den meritokratischen Ammenmärchen so recht nicht passen will und uns viel mehr in die Nähe der brutalsten Formen vergangener Ungleichheiten rückt, mit denen wir doch nichts gemein haben wollen.“ (Piketty 2020:14)
Wenn es Ungleichheit in der Gesellschaft gibt, gibt es natürlich auch Ungleichheit im Kunst- und Kultur-Sektor. Und ähnlich wie in der Wirtschaft, nur subtiler, rechtfertigt die Kultur ihre Ungleichheitsstrukturen mit eigenen Ideologien. Welches Rechtfertigungsnarrativs bedient sie sich dafür?
Wie der Kunstbetrieb seine Ungleichheit rechtfertigt
Argument Eins: Ist es Kunst oder kann es in die Schule?
Eines der beliebtesten Argumente des Kultursektors, um Ungleichheit zu rechtfertigen, ist die Trennung von Kultur und Bildung unter dem Deckmantel der Zweckfreiheit der Kunst. Bezogen auf den von Bourdieu eingeführten Begriff des kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) bedeutet dies, dass nur die Menschen, die Zeit und Ressourcen in den Erwerb von kulturellen Fertigkeiten investieren können, später in den Genuss der öffentlich geförderten künstlerischen Freiheit kommen können. Für alle, die selbst keine Ressourcen haben, gibt es ja die öffentliche Bildung.
Nun ist es aber keine Neuigkeit, dass die sozialdemokratischen Gesellschaften, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischenzeitlich Erfolge erzielten mit dem Versuch das Kapital gerechter umzuverteilen, und Bildungs-, Gesundheits- und Rentensysteme usw. zu verstaatlichen, keine dauerhafte Antwort auf die Entwicklung der Ungleichheit finden konnten. Ein besonderes Versäumnis u.a. ist die wirkliche Chancengleichheit im Bildungssystem, welche sogar eine der Ursachen für die heutige wachsende Ungleichheit ist.
Wenn dann die sture Trennung von Kultur und Bildung aufrechtgehalten wird und, wie beispielsweise von der Koalition der freien Szene Berlin in ihrem 11 Punkte-Papier zur Förderpolitik vertreten wird, dass „Bildungs- und Sozialaufgaben ... keine Aufgaben der Kulturpolitik" sind (ebd. 2018: Punkt 2), reproduziert der Kulturbereich die allgemeine gesellschaftliche Ungleichheit. Denn zum einem ist die Zeit, welche in der öffentlichen Bildung der Kunst gewidmet ist, minimal, zum zweiten können nicht alle Familien gleich viel Zeit in das Kulturkapital ihrer Kinder investieren. Die Gewinner dieser Prozesse sind diejenigen, welche das meiste Kulturkapital ergattern konnten. Ihre Spielregeln setzen sich durch und legen später wieder fest, welche Kultur eine legitime ist und welche nicht.
Argument Zwei: Kunst ist frei und wir haben so viele Kinder erreicht!
Ein weiteres beliebtes Ammenmärchen des Kunstbetriebs, das dessen ungerechtes System verteidigt – auch beliebt im Feld der Kulturellen Bildung –, ist die Freiwilligkeitsfalle. Kunst ist frei und offen für alle, es geht bei ihr nicht um Zwang, sondern um Vorlieben und um den eigenen Antrieb. Doch auch hier hilft Bourdieu zu unterscheiden zwischen dem materiellen Wert, z.B. einem kostenlosen Tanzkurs, und dem immateriellen, verinnerlichten Kulturkapital, welches es erlaubt, Angebote überhaupt zu erkennen und zu schätzen. Wie kann man Lust haben auf etwas, das man nicht kennt oder das man sogar als befremdlich empfindet? Und wenn man es doch wagt, sind die Projekte meist doch schon wieder vorbei.
Das Problem des Zeitkapitals pro-Kopf bezüglich der Vermittlung von Kunst in der Gesellschaft wurde nie zu Ende gedacht. Die Quantität wird heute anhand der Anzahl der Konsumenten Kultureller Bildung berechnet und nicht anhand der Dauer ihrer Teilhabe. Und dies, obwohl Analysen von Vorhaben wie der „Demokratisierung der Kultur“ in Frankreich oder der „Kultur für Alle“-Bewegung in Deutschland der 60er und 70er Jahre längst den Mythos entzaubert haben, ein Theaterbesuch reiche, um sich nachhaltig mit Kunst zu infizieren.
Somit bleibt der omnipräsente Begriff der Teilhabe abgekoppelt von der Frage, wie die Teilhaberechte einzulösen seien (siehe Eckart Liebau: Kulturelle Bildung für alle und von allen? Über Teilhabe an und Zugänge zur Kulturellen Bildung.) Dadurch reproduziert auch dieses Feld, trotz der Fortschritte der letzten Jahre, das meritokratische Prinzip, mit welchem unsere Gesellschaft die ungerechte Umverteilung ihres Kapitals rechtfertigt.
An der Schnittstelle zwischen Kunst, Vermittlung, Bildung, Politischem und Sozialem haben sich im Bereich der Kulturellen Bildung neue Arbeitsfelder entwickelt, die je nach Handlungsfeld differenzierte Kompetenzen anwenden. Das multiperspektivische Wissen fließt in die Entwicklung von Qualitätskriterien und bei Wirkungsreflektionen ein. Zugänge werden in beide Richtungen gedacht: Wie kommt Kunst in die Gesellschaft und wie kann Kunst sich durch das Wissen der Gesellschaft weiterentwickeln?
Doch wenn die Expertisen nicht ausreichend für die Erneuerung des Kunstbetriebes genutzt werden, wird das Feld Teil eines Kultur-Bildungs- und Kunstvermittlungssystems, welches nach wie vor strukturell überwiegend getrennt voneinander agiert und, mehr noch, sich in Abgrenzung voneinander definiert.
Die Gefahr einer Instrumentalisierung dieses Feldes liegt somit ebenfalls nah. Noch perfider ist, dass gerade das Feld, das am ehesten an einer gerechteren Umverteilung des künstlerischen Kapitals arbeitet, die besten Argumente dafür liefert, die Ungleichheit zu rechtfertigen, wenn es um Öffnung und Teilhabe im Kunstbetrieb geht: Es gibt Kulturelle Bildung doch und sie erreicht so viele Kinder aus sozial schwachen Milieus!
Argument Drei: Das Gewissen der Gesellschaft
Schließlich sind es die zeitlich oft nur sehr begrenzt geführten Diskurse der Kulturszene, die gerne als das aufgeklärte Gewissen der Gesellschaft auftritt, die einen hervorragenden ideologischen Deckmantel für die kulturelle Ungleichheit liefern.
Vor zwanzig Jahren, nach dem Schock der Pisa-Studie, hat das Thema Kulturelle Bildung plötzlich wieder Fahrt aufgenommen. Seit dem hat es mehr Konjunktur (siehe Max Fuchs: Kulturelle Bildung als neoliberale Formung des Subjekts? Eine Nachfrage). Wenn man aber den Blick von allen bisherigen wertvollen Errungenschaften auf die aktuellen Fakten lenkt, stellt man fest: Eine flächendeckende Verankerung von qualitätsvollen Kunstangeboten im Bildungswesen ist nicht gegeben. Universitäre Studiengänge für Künstler*innen, die Kunst in Schulen und in der Gesellschaft vermitteln, gibt es kaum. Bei der empirischen Wirkungsforschung fehlen Langzeitstudien. Was die Förderinstrumente angeht, sind zwar glücklicherweise neue Fonds und Programme entstanden, aber insgesamt reproduzieren die Kulturausgaben die üblichen Machtverhältnisse. Das meiste Geld fließt in die großen Kulturinstitutionen, und diese geben von ihrem Budget nur ein wenig für Vermittlung aus.
Grenzen waren auch ein beliebter Diskurs in der Kulturszene während der Flüchtlingskrise 2015 (siehe Carmen Mörsch: Refugees sind keine Zielgruppe). Auch hier war großer Aufruhr, Programme entstanden, Fördermittel flossen. Inzwischen ist es still geworden, sowohl um die nach wie vor im Mittelmeer sterbenden Flüchtlinge als auch um die wenigen, die es geschafft haben, hierher zu kommen. Die Jüngsten gehen zur Schule und sind somit nun Teil der Masse von Menschen geworden, welche von unserem Ungleichheitsregime ungleich behandelt werden.
In den letzten Jahren vor der Corona-Pandemie bildete das Thema Diversität den Brennstoff des Kulturdiskurses (vgl. Themenfeld Diversität auf kubi-online). Sinnvolle Studien, Förderprogramme, Beratungsangebote, Fahrpläne für Kulturinstitutionen, um sich diverser aufzustellen, sowie Glossare für eine rassismuskritische Sprache sind wie Pilze aus dem Boden gewachsen. Brandbriefe an den Tanzkongress der Kulturstiftung des Bundes oder wie neulich an das neu aufgelegte Corona bedingte Förderprogramm NEUSTART KULTUR sind gesendet worden, um auf die Diskriminierung von behinderten Künstler*innen hinzuweisen.
Alle diese Diskurse spiegeln die Suche nach mehr Gerechtigkeit wider, stellen die Fragen, wie wir leben wollen in unserer Gesellschaft und welche Rolle Kunst und Kultur darin haben wollen und sollen. Wenn sie dabei aber nicht begleitet werden von Ideen und Taten, die darauf zielen, das Kunst- und Kultursystem systemisch zu verändern, liefern sie mögliche Rechtfertigungen für die Ungleichheit, denn sie funktionieren als Gewissenspillen für die Szene.
Was tun? Die Macht der Ideen
Thomas Piketty deutet den Begriff Ideologie im positiven Sinn als „Gefüge von Ideen und Diskursen, die auf grundsätzlich plausible Weise beschreiben wollen, wie die Gesellschaft zu organisieren sei" (Piketty 2020:54). Er schreibt weiter:
„Man muss zunächst vorausschicken, dass die (im weiteren Sinne) sozialdemokratischen Koalitionen für Umverteilung, die Mitte des 20. Jahrhunderts auf den Plan traten, sich nicht alleine auf der Ebene der Wählerschaft, der Institutionen und der Parteien gebildet hatten. Sie zeichneten sich vor allem durch eine intellektuelle und ideologische Dimension aus. Es war, anders gesagt, zunächst und vor allem das Feld der Ideen, auf dem die Schlachten geschlagen und Siege davongetragen werden wollten.“ (ebd.:54)
Seine Thesen und seine Vorschläge für eine gerechtere Gesellschaft basieren auf der Annahme, dass soziale Unterschiede kein naturgegebenes Phänomen sind, sondern das Produkt politischer Entscheidungen, welche wiederum zuerst aber nicht wirtschaftlicher oder technologischer Natur sind, sondern ideologischer.
Was heißt das übertragen auf den Kunst- und Kulturbetrieb?
Zuerst bedeutet es, dass die Kultur ein neues Narrativ, eine alternative Erzählung braucht, welche der Rechtfertigung von Ungleichheit durch das meritokratische Prinzip etwas entgegensetzt. Ein Kunstbetrieb, der alle Arten der Zusammenarbeit fördert, der eine Multiperspektivität ermöglicht und es erlaubt an der Intersektionalität, also an der Verschränkung verschiedener Ungleichheit-generierender Strukturkategorien, mitzuwirken.
Dieses ist aber nur möglich, wenn das Feld zuerst anerkennt, dass es momentan die allgemeine Ungleichheit eher bedient. Eine systematische Analyse in Form z.B. von einer Art Kartografie der Ungleichheit im europäischen Kunst- und Kulturbetrieb, welche Rück- wie Fortschritte misst, könnte den Anfang bilden, um eine neue Karte des Möglichen zu definieren. Die Bekämpfung der Ungleichheit ist zwar eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, doch wie lange kann Kunst frei bleiben und Künstlerinnen und Künstler von ihrer Kunst leben in einer zunehmend ungerechten Welt?
Was eben auffällt bei der aktuellen Krise des Kulturbetriebs, ist das Fehlen einer Vision, die alle Einflussgrößen innerhalb das Systems Kunst berücksichtigt, deren Interdependenzen wahrnimmt, und jeweils das fehlende Bindeglied dazwischensetzt. Die fünf Wirkungsfelder Ausbildung-Praxis-Rezeption-Vermittlung-Forschung sollten gleichberechtigt in den Blick genommen werden, um mit Akteuren der freien Szene und der Zivilgesellschaft, mit Kultur- und Förderinstitutionen gemeinsam darüber nachzudenken, wie der Kunstbetrieb künftig zu organisieren sei, um bestimmte Ziele zu erreichen. Allianzen mit Expertinnen und Experten für Bildungsinnovation sollten dabei eingegangen werden. Dies würde die Entstehung einer Kontinuitätskette ermöglichen, welche das Teilhabedilemma systematisch in den Blick nimmt.
Dabei sollte die Kunst freilich frei bleiben in der Vielfalt ihre Gestaltungs- und Ausdrucksformen. Kunst kann verstörend und irritierend sein, Kunst soll hinterfragen und wehtun können. Kunst ist ebenfalls eine ästhetische Erfahrung und somit „hirngerechte“ Bildung.
„Hirngerecht sind Bildungsangebote immer dann, wenn sie als eigene Erfahrung am ganzen Körper, mit allen Sinnen und unter emotionaler Beteiligung erfahren werden, wenn sie also unter die Haut‘ gehen.“ (Hüther 2011:155)
1.000 Stunden Kunst pro-Kopf
Eine der Lösungen, die Piketty für eine gerechtere Gesellschaft vorschlägt, ist junge Menschen mit einem Startkapital auszustatten, um den Erb- und Klassenvorteilen durch mehr Chancen für alle entgegenzuwirken. Auf den Kunst – und Kulturbetrieb übertragen könnte man über ein Kultur Startkapital nachdenken, das jedem jungen Menschen zusteht.
1.000 Stunden Kunst pro-Kopf/Schülerinnen und Schüler, gedeckt durch Stunden in Schulen und im außerschulischem Bereich, an welchen der gesamte Klassenverband teilnimmt. 100 Stunden im Jahr während der zehn Jahre Schulpflicht in jeder der ca. 330.000 Schulklassen Deutschlands als eine Mischung von Praxis und Rezeption, gestaltet durch eine innovative Verschränkung des Systems Kunst mit dem System Schule.
Das bewusste Einbringen solch einer utopischen und hier bloß exemplarisch stehenden Idee, die alle Schulen Deutschlands über Nacht zu Kulturschulen erklären würde, und deren Realisierung von keinem der Akteure eines einzigen Systems alleine zu stemmen wäre, will die These dahinter greifbarer machen, dass eine Systemänderung nicht durch gegenseitige Abgrenzung erfolgen kann. Demokratie zu schützen ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Wie schon dargelegt, ist die Trennung von Bildung und Kultur einer der effektivsten Wege, um Ungleichheit zu begünstigen. Eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen Kunst und Bildung bedeutet auch die Weichen dafür zu legen, dass künstlerische Prozesse ihr Potential im Sinne der Schulentwicklung für eine Transformation des Bildungswesens entfalten können. Diese Prozesse finden schon statt, müssen aber in einerm weitaus größeren Maßstab durchgeführt und besser empirisch erforscht werden.
In mehreren Vermittlungsvorhaben der letzten Jahre zeichnet sich ein neues Modell ab, welches das aktive Gestalten eines dritten Raums zwischen dem System Kunst und dem System Schule ermöglicht und das „Bild einer Schule als ein offenes Gemeinwesenzentrum entstehen lässt, dessen Qualität sich im vielfältigen Zusammenwirken mit Künstler*innen, Kultureinrichtungen und vielen anderen Akteuren der Zivilgesellschaft begreift.“ (siehe Michael Wimmer: Was vermag Kulturelle Bildung für die Gesellschaft zu leisten? – Eine Ermutigung zur politischen Selbstermächtigung)
Dieses würde den Ausbau von Qualifizierung und Jobs im Vermittlungswesen voranbringen und den von vielen Künstler*innen ausgeübten und überlebensnotwendigen Nebentätigkeiten eine Alternative bieten. Die Praxis zeigt, dass Freischaffende, die sich solide Kompetenzen im Vermittlungsfeld aneignen konnten, durchlässige Arbeitsmodelle entwickelt haben, wodurch sie eine alternierende oder geteilte Tätigkeit zwischen Kunst und Kunstvermittlung ausüben. Selbst bezeichnen sie diese Modelle als fruchtbar und sich gegenseitig ergänzend in ihrem künstlerischen Wirken. Aus der Studie „Freie Darstellende Künste und Kulturelle Bildung im Spiegel der Förderstrukturen von Bund, Ländern und Kommunen", erschienen 2016, geht hervor, dass 60% der freien darstellenden Künstler*innen im Rahmen von kultureller Bildung arbeiten (Bundesverband Freie Darstellende Künste 2016:17). Der Kunstbetrieb sollte also vielmehr auf die Qualität der künstlerischen Vermittlung achten, auf die Ausbildung und kontextspezifische Diversifizierung von Inhalten und Methoden, statt darüber zu streiten, ob Vermittlung in der Gesellschaft Kunst sei oder nicht.
Ein weiterer Vorschlag von Thomas Piketty ist, ein Besteuerungssystem einzuführen, welches Wohlhabende viel mehr in die Pflicht nimmt, sowie eine Priorisierung der Bildungsausgaben vorzunehmen, sodass sie nicht mehr überwiegend den Privilegierten, sondern den weniger Privilegierten zugutekommen. Auch nichts Neues, denkbar logisch, und doch nicht umgesetzt. Wenn Kultur für die Idee eines Kulturstart-Kapitals ihren Tribut bei den Bildungsetats einfordern könnte, hieße es ebenfalls, auf eine gerechtere Priorisierung von Kulturausgaben zu achten. Die Devise müsste also lauten: Wer mehr Geld besitzt, müsste auch mehr der Gesellschaft zurückgeben.
Die Sache mit den Systemänderungen
Das Wesen eines Systems ist, dass die beteiligten Einflussgrößen sich gegenseitig bedingen. Denn wenn verschiedene Wirkungen in einem einzigen Indikator sich vermischen, gerät die Vielschichtigkeit und Komplexität eines Systems aus dem Blick. Dabei entgehen wertvolle Möglichkeiten Gesamtsysteme zu erneuern. Zum Beispiel bei der Teilhabe: Diese wird von der Kultur zwar gefordert, kann aber ohne die Bildung nicht nachhaltig eingelöst werden.
Bezogen auf den Bildungsindikator wird jede Studie über Teilhabe im Kulturbetrieb immer wieder zu denselben Ergebnissen kommen, so auch, trotz Haupt- und Kulturstadtbonus, die neuste Studie aus Berlin (vgl. Kulturelle Teilhabe in Berlin 2019). In der Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa vom 12.03.2021 heißt es zu den Ergebnisse dieser repräsentativen Bevölkerungsbefragung über Kulturelle Teilhabe in Berlin 2019:
„Die Studie zeigt, dass der Faktor Bildung neben dem Alter zu den stärksten Einflussfaktoren für Kulturelle Teilhabe gehört. Personen mit höheren formalen Bildungsabschlüssen zählen mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zum Kreis der Besucherinnen und Besucher von klassischen Kulturangeboten. Die große Bedeutung des Faktors Bildung für Kulturelle Teilhabe bestätigt die hohe Relevanz von Programmen und Initiativen der Förderung Kultureller Bildung sowohl in den Einrichtungen selbst als auch in allen Schulformen und außerschulischen Lernorten.“ (Senatsverwaltung für Kultur und Europa:1)
Nun sind systemische Veränderungen sehr unbeliebt. Wann hat es angefangen und wer ist dafür verantwortlich? Womit legt man los? Ist nicht alles schon einmal gedacht, gesagt und versucht worden? Man schreckt vor allen komplexen Aufgaben in einer immer noch komplexer werdenden Welt zurück. Dass es dabei nur ein paar Jahre sind, bis die heutige Generation herangewachsen ist und die künftigen diversen Künstler*innen sein werden, die diversere Programme gestalten oder ein diverseres Publikum bilden könnten, wird gerne verdrängt.
Spannend bleibt für alle Akteur*innen der Kulturellen Bildung die Frage, inwiefern man weiter das aktuelle ungleiche System bedienen will? Dazu Michael Wimmer in seinem Beitrag anlässlich des kubi-online Diskursaufrufs zu Corona:
„Aus institutioneller Sicht ist es nur zu naheliegend, die verbleibenden Kräfte in erster Linie darauf zu konzentrieren, zumindest „Business as usual“ zu mimen, auch wenn die Adressat*innen für das bislang bewährte Programmangebot abhandengekommen sind. Dies wird aber den Niedergang des Sektors in dieser grundstürzenden Phase auf Dauer nicht aufzuhalten vermögen.“ (Wimmer 2020:o.S.)
Das Manko an einem Willen zu Veränderung ist aber nicht nur das Ergebnis von kollektiven Verdrängungsmechanismen, sondern auch von unterschiedlichen Interessenskonflikten und starken Machtstrukturen der unterschiedlichen Akteursgruppen, die sich auch im Kunst- und Kulturbetrieb an ihren Privilegien festklammern. Ohne diese zu hinterfragen, kann aber kein Sektor alleine die Bürde einer Transformation auf sich nehmen. Fakt ist: Systemisch betrachtet, kann es keine diversere Kunst geben ohne eine gerechtere Bildung.
Und welche Alternativen gibt es zur Entwicklung einer neuen Vision?
Der Kultur drohen laut mehrerer aktueller Studien – wie Rebuilding Europe und der Betroffenheitsanalyse der Kultur- und Kreativwirtschaft von der Corona-Pandemie – Milliardenverluste. Es gibt einen deutlichen Ruck nach rechts von größeren Teilen der Bevölkerung, die sich von keiner Partei mehr repräsentiert fühlen.
Wir leben inmitten einer digitalen Revolution und in einer sozialen, ökologischen und jetzt auch in einer pandemischen Krise, deren Auswirkungen Jahre andauern werden. Kann die dadurch erzeugte spürbare aktuelle Fragilität im Kulturbetrieb der Boden sein, aus welchem ein Perspektivenwechsel erwächst? Wie kann der Kunst- und Kulturbetrieb, statt die Lähmung des aktuellen politischen Kontexts widerzuspiegeln, ein aktiver Teil des intellektuellen und geistigen Motors werden, um gesamtgesellschaftliche Transformationen anzustoßen?
Was wäre, wenn die Entscheidungsträger*innen und Akteur*innen im Feld Kulturelle Bildung sich weigerten, nur als Erfüllungsgehilfen für die halbherzig umgesetzten Teilhabeziele vom Kultur- wie auch Bildungssektor „gebucht“ zu werden? Wenn sie all ihre Kräfte bündelten, um sich stärker als ein eigenständiges, drittes Kompetenzressort für Kunst & Bildung zu positionieren und einen neuen künstlerischen Kenntnis- und Erkenntnisraum formten – als transdisziplinäres Wissensgebiet, in das Praxis, Theorie, Rezeption und Forschung aus dem Sektor Kulturelle Bildung einfließen? Wenn dieses neue Kompetenzressort eigene Programme und Projekte initiieren, neue Einrichtungen und Institutionen gründen könnte: Wie würde ein Theater oder ein Museum aussehen, das von Beginn an als ein Zentrum der Kunst & Bildung konzipiert wird? Wie eine Schule , die als Ort der künstlerischen Praxis und Rezeption gestaltet wird? Folgerichtig wäre es, wenn die Mittel für ein solches Kompetenzressort aus Kultur, Bildung, Forschung, Jugend und Soziales zusammenkämen und in einem eigenen inhaltlichen Zuständigkeitsbereich gebündelt wären. Vielleicht braucht der Sektor Kulturelle Bildung auch einen neuen Namen, der dessen übergreifendem Wissen mehr gerecht wird und ihm zu mehr Anerkennung, Selbstermächtigung und neuen Perspektiven verhilft.
Ideen bereiten den Boden, aus welchem in früheren Gesellschaftsmodellen sowohl schreckliche als auch fantastische Veränderungen erwachsen sind. Relevanz wird die Kunst haben, wenn sie einen Beitrag leistet für einen gerechteren Zusammenhalt unserer Demokratie. Und wenn sie zu einem Fundament wird einer sich von innen gestaltenden künstlerischen, auf die Gesellschaft ausstrahlenden Erneuerung. Dafür müsste sie wie Brot werden, wenn man Hunger hat, für viel mehr Menschen und in aller Kraft ihrer vielfältigen Erscheinungsformen.
„Wenn die Weltgeschichte der letzten drei Jahrhunderte uns eines gelernt hat, dann dies: Der menschliche Fortschritt verläuft nicht linear und nichts entspricht der Wahrheit weniger als die Hypothese, es werde alles immer besser und der freie Wettbewerb unter Staatsmächten und Wirtschaftsakteuren sorge schon dafür, wie durch ein Wunder zu universaler sozialer Eintracht zu führen. Es gibt menschlichen Fortschritt, aber es ist ein Kampf, und setzt vor allem eine sorgfältige Analyse vergangener historischer Entwicklungen voraus, mit allem, was sie an Gutem und Schlechtem bereithalten.“ (Piketty 2020:35)