Zur Bedeutung der Kulturwissenschaften für die Kulturelle Bildung
Der Begriff der Kulturellen Bildung wird im Sinne ästhetischer und musischer Bildung gebraucht, d.h. zur Darstellung der Bedeutung sowie der Aufgaben der Künste und ihrer Vermittlungsstrukturen im Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung des Menschen (Fuchs 2008a:13). Er bezieht sich z.B. auf Bildende Kunst, Kreatives Schreiben und Darstellende Künste (Theater, Tanz), wie sie in einer Vielzahl von Initiativen unserer Lebenswelt entwachsen. Der Begriff der Kulturellen Bildung kann in einem zweiten Sinne auch verwendet werden als eine Grundkategorie zur lebensweltlichen Aufgabenbestimmung der Kulturwissenschaften, verstanden als institutionalisierte Reflexionsformen anthropologisch verankerter kultureller Tätigkeiten des Menschen, wie wissenschaftsfähige Gesellschaften sie sich leisten. Für die Kulturelle Bildung im erstgenannten Sinne kommen die Kulturwissenschaften teils in einer Bildungsprozesse möglicherweise befördernden und hilfreichen Funktion in Betracht (Pädagogik), teils, indem sie sich direkt mit zugehörigen Fachgebieten beschäftigen (Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Philosophie).
Zur historischen Entwicklung der Kulturwissenschaften
Eine bedeutende Blüte des (im Englischen Humanities genannten) Wissenschaftsfeldes fand an der deutschen Universität des 19. Jh.s statt. Eine zusammenfassende Theorie gibt Wilhelm Dilthey (1833-1911) in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ von 1883 (vgl. Lessing 2001). Prägend sind die drei Paradigmata: (1) historisches Denken/Historismus, (2) avancierteste Quellenkritik der aus der Vergangenheit überkommenen Zeugnisse menschlicher Kultur/Philologie und (3) Verstehensmethode/Hermeneutik. Obwohl der Geist im Sinne der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels als metaphysisches Konstrukt außer Kurs gerät, werden die Geisteswissenschaften zu einer untereinander methodisch verwandten Formation je spezifischer Untersuchungsprogramme im Sinne dieser drei Paradigmata. Im 20. Jh. kommt es in einer Epoche, in der alles gesellschaftlich bestimmt scheint, eine Zeitlang dazu, dass die Kulturwissenschaften selbst fast bereits jene Sozialwissenschaften darstellen wollen, zu denen sie bis heute in einem nicht ganz genau geklärten Verhältnis stehen. Auch die Aufgaben der Geisteswissenschaften werden im 20. Jh. unterschiedlich beschrieben: „konservativ“ unter Rekurs auf den Begriff der Kompensation, nämlich im Sinne eines „Traditionen festhaltenden“ und erinnernden Ausgleichs für alltagsweltliche Veränderungen angesichts der naturwissenschaftlich-technisch induzierten und ökonomisch befeuerten Beschleunigung in der globalisierten Welt (Joachim Ritter, Hermann Lübbe, Odo Marquard) oder „progressiv“ im Anschluss an die Philosophie von Jürgen Habermas unter Rekurs auf den Begriff der Emanzipation.
Stand der Theorie
Zum Vergleich: Als naturwissenschaftliche Bildung kann man heute das Gesamt derjenigen kulturellen Formen bezeichnen, in denen das Wissen über die natürliche Welt, die Paradigmata seines Erwerbes und die Konsequenzen beider für ein menschliches Selbst- und Weltverhältnis präsent sind. So sehr jene „andere Bildung“ (Fischer 2005) ihrerseits zu unserer Orientierung hinzugehört, so sehr erscheint diese Orientierung in besonderer Weise an den Bereich der Kulturwissenschaften gebunden, weil in ihnen das Bildungssubjekt in einer nicht abreißenden Kette von Relevanzzuweisungen mit den Gehalten des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses konfrontiert wird und zugleich in je aktuellen Herausforderungen steht (Steenblock 1996).
Nach Gunter Scholtz gibt es die Kultur- oder Geisteswissenschaften, weil es einen zusammenhängenden Komplex menschlicher Verhaltensformen gibt, die mit kulturell erreichtem Stand der Wissenschaftsfähigkeit eine kohärente Wissenschaftsgruppe beschäftigen. „Die Geisteswissenschaften entstehen durch Reflexion auf Handlungsnormen, Sprache, Geschichte und Selbstverständnis des Menschen. Denn es spricht viel dafür, dass die Menschen nicht leben, nicht miteinander als Menschen leben können, ohne 1. miteinander zu sprechen, ohne 2. nach bestimmten Regeln sich zu verhalten, ohne 3. sich zu sich selbst zu verhalten und sich ihr Dasein zu deuten und – damit zusammenhängend – ohne 4. sich Geschichten zu erzählen. Die Nichtnaturwissenschaften gründen demnach in vorwissenschaftlichen Verhaltensformen, die den Menschen zum Menschen machen, und sie heben dies Verhalten ins Bewusstsein, um es zu reflektieren und damit zu ordnen, zu stabilisieren oder zu kritisieren. [...] So gründen auf der Sprache die älteren Disziplinen Grammatik, Rhetorik, Dialektik und die späteren Philologien und Sprachwissenschaften. Das durch Regeln bestimmte praktische Verhalten ist die Basis für Ethik, Ökonomie, Politik, Rechtswissenschaft, Pädagogik und die Sozialwissenschaften insgesamt. Die in Mythos und Religion tradierte Daseinsdeutung wird der Ausgang für Philosophie und Theologie, für Kunst und Dichtung und von diesen ausgehend auch für Philologie und Kunstwissenschaften. Die zuerst in der Sage sich artikulierende kollektive Erinnerung wird in Historie transformiert (teils in Dichtung)“ (Scholtz 1991:33). Entsprechend haben die Kulturwissenschaften vier Aufgabenfelder: „1. Sie ermöglichen die Kommunikation zwischen verschiedenen Traditionen und Sprachgemeinschaften [...]. Ohne die Geisteswissenschaften würde die menschliche Welt dem Menschen zum größten Teil fremd und unverstehbar. 2. Sie halten [...] orientierende Normen und damit auch Maßstäbe für die Kritik präsent [...]. 3. Sie bewahren und explizieren Deutungen des Daseins [...]. 4. Sie erinnern als historische Wissenschaften unsere Vergangenheit und sagen uns so, wer wir sind“ (Scholtz 1991:34f.).
Die Geisteswissenschaften lassen sich so verstehen als die wissenschaftlich-methodische Auseinandersetzung mit jenen anthropologischen Grundbedürfnissen, denen sie ihre Entstehung verdanken. Ihr Metier sind Fragen, in denen jeder Einzelne seine Entscheidungen nicht delegieren kann. Denn mag er auch Wahl und Reparatur seiner technischen Geräte oder seine Gesundheitsfürsorge zuständigen Fachleuten überlassen, so muss er sich z.B. zu der sich aufdrängenden Frage nach dem Grund seines Daseins selbst verhalten und ist hierzu auf das Wissen von Theologie und Philosophie angewiesen.
Herausforderungen und Perspektiven
Durch die vorstehenden Bestimmungen erscheinen die Kulturwissenschaften in relativer Distanz zur Gesellschaft, aber als ein Teil von ihr und auf sie bezogen. Ihr Expertentum, dessen Notwendigkeit nicht in Frage steht, würde freilich zur bloßen Wissensakkumulation im Soziotop „Universität“ verkümmern, wenn Kulturelle Bildung als „Sinnkompetenz in der kulturellen Orientierung der menschlichen Lebenspraxis“ (Rüsen 2006:164) nicht zur inneren Logik ihres Denkens gehörte und eine wirkliche und systematische Vermittlung in die Erziehungs- und Bildungssysteme nicht konstitutiver Teil ihrer disziplinären Identität wäre. Umgekehrt verarmt unsere Lebenswelt, wenn ihr nicht die Erkenntnis- und Rationalisierungsfortschritte der eigenlogisch immens fortentwickelten, zugleich aber alltagsweltlich „eingekapselt[en]“ Expertenkulturen immer wieder neu zuwachsen können (Habermas 1981:484).
Das Wissenschaftssystem erkennt dies auch, zumindest in Ansätzen. Institutionalisiert sind die Fachdidaktiken zuständig, zu deren Aufgaben neben der Lehrerausbildung als Gewinnung der entscheidenden Multiplikatoren in einem etablierten Bildungs- und Schulsystem (inkl. Erwachsenenbildung, Volkshochschule) auch allgemein und im Prinzip die Beförderung ästhetischer, literarischer, religiöser und philosophischer Bildung in unserer Gesellschaft, von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur gehört (vgl. Demantowsky/Steenblock 2011). Zugleich sind hier Elemente Kultureller Bildung im engeren Sinne auch über die fachdidaktisch diskutierten Methoden präsent (z.B. Theatrale Bildung, Leibliches Lehren und Lernen).
Im traditionsreichen Begriff der Bildung (Lessing/Steenblock 2010) wird bereits bei Wilhelm von Humboldt (1767-1819) in der Verbindung von Forschung und Lehre die Wissensproduktion zugleich in einem Modus der Teilhabe begriffen. Die zwischen objektiven Kultur gehalten und je individueller Orientierung vermittelnde Bildungsstruktur kann das Eintreten der Individuen in Kulturprozesse und deren lebendigen Fortgang gemäß jener Sinnperspektive der Bildung bestimmen, die im Eigenwert humaner Selbstkultivierung und einer von hierher ermöglichten sozial verantwortlichen Handlungsfähigkeit liegt. Indem Humboldts Bildungstheorie davon ausgeht, dass unsere individuelle Selbstwerdung sich Zug um Zug mit unserer Weltgewinnung vollzieht, können die Fachdidaktiken ihre spezifischen Bildungsbegriffe ihrerseits in der geistigen Auseinandersetzung mit denjenigen kulturellen Objektivationen bestimmen, für die sie jeweils zuständig sind (als literarische, historische, philosophische usw. Bildung). Dies ist ein Grund dafür, dass es an den Bildungsorten „Fächer“ zu lernen und zu studieren gibt, durch deren Teilleistungen hindurch die Vision eines sich geistig gleichsam „anreichernden“ Individuums Gestalt gewinnt. (Im Zeichen „neuer Steuerung“ in Schule und Hochschule sowie der PISA-Leistungsmessungen gewinnt freilich gegenwärtig auch ein ganz anderer Begriff von „Bildung“ an Boden, dem es um die Ausbildung funktional nötiger Kompetenzen für Gesellschaft und Wirtschaft geht und dem „Individualisierung“ Flexibilität und Mobilität bedeutet; vgl. Münch 2011.) (Siehe auch Jürgen Oelkers „Schule, Kultur und Pädagogik“)
Die Selbstbegegnung des Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner Kultur impliziert die Notwendigkeit, deren Zukunfts- und Bildungsfragen nicht dem freien Spiel jeweils wirksamer, z.B. ökonomischer Kräfte zu überantworten, sondern zu versuchen, sie zu Gegenständen bewusster Gestaltung werden zu lassen. Für deren normative Sinnbestimmung steht der Begriff der Humanität. Gegenüber seiner naturhaften Existenz, gegenüber den Chancen wie Folgekosten seiner eigenen technisch-zivilisatorischen Errungenschaften, aber auch gegenüber den eigenen undurchschauten Sinnbildungen etwa des Mythos gewinnt der Mensch in der Arbeit kultureller Orientierung die Freiheit, das „uneingelöste Versprechen“ (Helmut Peukert) der Bildung für Individuum und Gesellschaft zur Wirkung zu bringen. Die Kulturwissenschaften speisen zugleich „das öffentliche Gedächtnis, aus dem die[se] Freiheit lebt und sich nährt“ (Metz 1995:131).