Zehn Jahre Tanzfieber. Eine Zwischenbilanz
Wir schreiben das Jahr 2002. Ein junges Berliner Filmteam unternimmt den mutigen und gleichzeitig waghalsigen Versuch, ein Pionierprojekt der Berliner Philharmoniker unter der Leitung des bis dahin in Deutschland noch gänzlich unbekannten Choreografen Royston Maldoom dokumentarisch zu begleiten. Es hätte vieles schief gehen können, ist es aber nicht. „Rhythm is it!“ lockte mehr als 600.000 Menschen in die Kinos, bis heute legen die Geschichten von Marie, Martin und Olayinka Zeugnis darüber ab, wie mächtig die Kunst für persönliche und gesellschaftliche Veränderungsprozesse sein kann. Gewusst haben wir das vorher schon – wirklich glauben tun viele es aber erst jetzt.
In den darauf folgenden Jahren hat die Arbeit Maldooms den Ansatz des „Community Dance“ als wichtigen Bestandteil Kultureller Bildung in Deutschland geprägt. Zahlreiche neue Projekte, besonders im Bereich „Tanz in Schulen“, haben die Arbeitsweise mittlerweile bekannt gemacht (siehe Linda Müller „Tanz in formalen Bildungseinrichtungen“). Community Dance richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Alter, Konstitution, Geschlecht oder tänzerischer Vorerfahrung. Darin lässt sich sein besonderes Potential für die Schule erkennen: Community Dance begreift sich als Kunstform, die aus dem unmittelbaren sozialen Leben entsteht. Dass es sich bei den Beteiligten um tänzerische Laien handelt, ist daher nebensächlich. Dennoch ist es wichtig zu bemerken, dass hier der hauptsächliche Unterschied zum Profi-Tanz begründet liegt: Community Dance zielt nicht auf tänzerische Perfektion der Darbietung ab, vielmehr basiert die Arbeit darauf, jeden prinzipiell einzuschließen und Unterschiede von Herkunft, Geschlecht und Alter zu überwinden.
Zehn Jahre nach „Rhythm is it!“ blicken wir auf eine beispiellose Entwicklung zurück. Die Idee, mit Hunderten von Kindern und Jugendlichen aus allen sozialen Milieus einer Stadt künstlerisch aktiv zu werden und den Tanz als „Werkzeug für persönliche Entwicklung und sozialen Wandel“ (Boxberger 2005:27) einzusetzen, hat eine enorme Strahlkraft entwickelt, die nicht nur für unzählbare Nachfolgeprojekte gesorgt hat, sondern auch bis in die obersten politischen Ebenen vordringen konnte. Ein Fieber, das bundesweit LehrerInnen, TänzerInnen und ChoreografInnen erfasst hat und neben IntendantInnen auch PolitikerInnen gleich mitinfizierte. Was aber macht den Erfolg des deutschen Community Dance bis heute aus?
Vom Modellprojekt zur Strukturbildung
Projekte wie „TanzZeit-Zeit für Tanz in Schulen“ schafften es relativ zügig, der großen Nachfrage seitens der Schulen nach ähnlichen Projekten gerecht zu werden (siehe Marie Beyeler/Livia Patrizi „Tanz – Schule – Bildung. Überlegungen auf der Erfahrungsgrundlage eines Berliner Tanz-in-Schulen-Projekts“). Gerade in Berlin, der Stadt mit der größten freien Tanzszene in Deutschland, gelang es, die Verbindung von freischaffenden ChoreografInnen mit interessierten PädagogInnen herzustellen und die Idee von „Tanz in Schulen“ schnell in die Tat umzusetzen. Im Laufe der Jahre sorgte das Projekt für die Setzung von Rahmenbedingungen, damit die Arbeit der ChoreografInnen als curricularer Bestandteil von Schule direkt vor Ort stattfinden und damit möglichst viele erreichen konnte. Diesem und anderen Modellvorhaben ist es sicherlich zu verdanken, dass medien- und öffentlichkeitswirksame Tanzprojekte wie „Rhythm is it!“ nicht allein für sich blieben, sondern von anderen als Motor für notwendige Strukturentwicklungen in Ländern und Kommunen genutzt werden konnten.
Später sorgte die Gründung des Bundesverbands Tanz in Schulen e.V. für eine Stärkung und Vernetzung der verschiedenen Akteure in den einzelnen Bundesländern. Der Verband setzt sich bis heute maßgeblich für die Evaluation der geleisteten Arbeit ein und spricht fachliche Empfehlungen zur Umsetzung, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung für tanzkünstlerische Projekte an Schulen aus.
Auch auf politischer Ebene ging die Entwicklung weiter. So erkennt auch die deutsche Enquete-Kommission im Jahr 2007 die positiven Auswirkungen von Kunst im Rahmen von Bildungsprozessen und beschreibt, dass „eine ganzheitliche Bildung, die Musik, Bewegung und Kunst einbezieht, wenn diese Komponenten im richtigen Verhältnis stehen, im Vergleich zu anderen Lernsystemen bei gleicher Informationsdichte des Unterrichts für den Lernenden zu höherer Allgemeinbildung führt. Gleichzeitig werden höhere Kreativität, bessere soziale Ausgeglichenheit, höhere soziale Kommunikationsfähigkeit, höhere Lernleistungen in den nichtkünstlerischen Fächern (Mathematik, Informatik), bessere Beherrschung der Muttersprache und allgemein bessere Gesundheit erreicht“ (Deutscher Bundestag 2007:379). In ihrem Schlussbericht „Kultur in Deutschland“ empfiehlt die Kommission daher unter anderem „den Aufbau von Netzwerken der Kooperation von Schulen und Kultureinrichtungen zu fördern und allen Kindern während der Schulzeit die Begegnung mit Künstlern zu ermöglichen“ (Deutscher Bundestag 2007:399).
Die Wege scheinen geebnet. Was aber überall fehlt, ist Geld. Nicht nur der Bereich Kulturelle Bildung ist in vielen Bundesländern und Städten unterfinanziert, auch in der Sparte Tanz liegen die öffentlichen Förderungen weit unter denen anderer Kunstsparten (Zentrum für Kulturforschung/Tanzplan Deutschland 2011:88ff.). 2005 entscheidet sich die Kulturstiftung des Bundes, 12,5 Millionen Euro für den Tanz in die Hand zu nehmen. Das ursprüngliche Vorhaben eines großen und international ausstrahlenden Festivals wurde von der späteren Projektleiterin Madeline Ritter durch die Idee eines in Europa bis heute einzigartigen Strukturentwicklungsplans abgelöst, der auch den Bereich der Kulturellen Bildung als zentrales Handlungsfeld einschließen sollte.
Der Tanzplan Deutschland (2005-2010) – eine beispielhafte Strukturmaßnahme
Was möglich ist, wenn eine Förderung über einen längeren Zeitraum vergeben und an die Bedingung geknüpft wird, alle beteiligten Akteure auf lokaler Ebene in einen Entwicklungsprozess einzubeziehen, beweist das Modellprogramm „Tanzplan Deutschland“. Anders als bei der Kulturstiftung des Bundes damals üblich, wurde hier kein für sich stehender Leuchtturm, sondern eine bundesweite Strukturmaßnahme gefördert, die auf lange Sicht Anreize für die lokale Politik schaffen sollte, künftig mehr in den Tanz zu investieren. Als zentrale Handlungsfelder des Tanzplans wurden die KünstlerInnen und Nachwuchsförderung, die Tanzausbildung, das Kulturelle Erbe Tanz – und die Kulturelle Bildung benannt. Städte und Länder wurden dazu aufgerufen, modellhafte Zukunftspläne zu entwerfen, die die Tanzentwicklung in ihrer Region und damit in ganz Deutschland vorantreiben sollten.
Neun beispielhafte Tanzpläne wurden zur Umsetzung ausgewählt: Berlin, Bremen, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Potsdam. Die geplanten Maßnahmen mussten zur Hälfte durch die jeweiligen Haushalte zusätzlich zur regulären Tanzförderung und verbindlich für die Dauer von fünf Jahren kofinanziert werden. Mit Hilfe des Match-Funding-Prinzips war es so möglich, eine Summe von insgesamt 21 Millionen Euro in den Tanz zu investieren (vgl. Ritter 2011:14-15).
Die Tanzpläne München, Düsseldorf, Frankfurt und Bremen konzentrierten sich dabei besonders auf die Kooperation mit Schulen und Jugendeinrichtungen. Das Projekt „Takeoff: Junger Tanz“ aus Düsseldorf entwickelte ein Modell für eine „umfassend vernetzte tänzerische Breitenarbeit für Schul- und Vorschulkinder. Das umfangreiche […] Planungspapier sieht einen Stufenplan vor, in dem von der Lehrerausbildung bis zur künstlerischen Produktion so ziemlich alle Aspekte des Kinder- und Jugendtanzes bedacht sind“ (Pölert 2007:33ff.). Bemerkenswert und einzigartig scheint hier die intensive Zusammenarbeit zwischen Theatern, Schulen und Jugendclubs mit international renommierten KünstlerInnen und freien Ensembles. Das Projekt „Access to Dance“ aus München legte seinen Schwerpunkt auf die kontinuierliche Qualifizierung von TänzerInnen, ChoreografInnen, TanzpädagogInnen und LehrerInnen. In Kooperation mit der Ludwigs-Maximilian-Universität und dem Bayerischen Staatsballet wurden zahlreiche Weiterbildungsangebote realisiert, die künftig in ein Curriculum eingebunden und zertifiziert werden sollen. Auch das Projekt „Anna tanzt“, das vom Münchner St. Anna Gymnasium, dem Bayerischen Staatsballet sowie Tanz und Schule e.V. jährlich durchgeführt wird, hat mittlerweile einen großen Bekanntheitsgrad erreicht. Anstatt in die Schule zu gehen, erarbeiten hier alle achten Klassen über vier Wochen eine professionelle Tanzproduktion zum Schuljahresende (Schneider 2007:49ff.). Nach fünf Jahren Laufzeit konnte der Tanzplan im Bereich der Kulturellen Bildung insgesamt mit knapp 700 Tanzaufführungen und über 30.000 Kindern und Jugendlichen im Umfang von 13.000 Unterrichtsstunden aufwarten.
Nach dem erfolgreichen Abschluss des Modellvorhabens setzte die Kulturstiftung des Bundes ihr Engagement fort und stattete gleich zwei neue Fonds – den „Tanzfonds Partner“ und den „Tanzfonds Erbe“ – mit einer Fördersumme von jeweils 2,5 Millionen Euro aus. Über zwei Jahre unterstützt der „Tanzfonds Partner“ nun zwölf verschiedene Kooperationsvorhaben zwischen Tanzinstitutionen und allgemeinbildenden Schulen in ganz Deutschland, die die Kunstform Tanz für SchülerInnen im realen Theaterbetrieb erfahrbar machen und gleichzeitig das Potential zur Öffnung des Kulturbetriebs für junge Menschen in den Blick nehmen. Darüber hinaus sollen 80 % der durch den Tanzplan geförderten Initiativen – vor Ort und auf Bundesebene – ihre Arbeit fortsetzen (vgl. Ritter 2011:15).
Zwangsmaßnahmen für mehr Freiraum
Der Kunstsparte Tanz, die bis vor gar nicht allzu langer Zeit vielerorts noch ohne öffentliche Aufmerksamkeit, Geld und politische Lobby dastand, ist es – besonders im Bereich der Kulturellen Bildung – in den vergangenen zehn Jahren geradezu vorbildlich gelungen, für die Entwicklung von Strukturen zu sorgen. Pionier-Projekte wie „TanzZeit“ setzen sich bis heute maßgeblich dafür ein, nicht in der Beliebigkeit zu versinken, sondern das künstlerische Selbstverständnis stetig neu zu hinterfragen und KünstlerInnen für ihre Zusammenarbeit mit SchülerInnen und LehrerInnen fachlich weiter zu qualifizieren und durch professionelle Supervision bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Sichtbar wird dadurch eine künstlerische und gleichermaßen auch pädagogische Qualität, die sich im Kontext von Schule und freier Szene kontinuierlich weiter entwickelt und damit bis heute eine ungebrochene Nachfrage generiert. Was anfangs niemand geglaubt hätte, ist Wirklichkeit geworden: dass sich aus der Begeisterung für ein einziges Projekt heraus eine ganze Bewegung formatiert, dass Kräfte intelligent gebündelt und damit strukturelle Veränderungen in Gang gesetzt werden können, die auch zehn Jahre nach „Rhythm is it!“ noch neue Früchte tragen. Deutlich ist aber auch geworden, dass alle Begeisterung nichts nützt, wenn nicht auch auf politischer Ebene den Akteuren dann und wann „die Pistole auf die Brust gesetzt“ wird. Der Tanzplan hat gezeigt, was möglich ist, wenn sich lokale VertreterInnen aus der freien Szene mit TheaterintendantInnen und KultusministerInnen zusammensetzen und gemeinsam eine Vision darüber entwickeln, was in fünf Jahren zu erreichen ist. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass eine Kooperationsbereitschaft lokaler Partner auch zukünftig weiter politisch einzufordern und durch adäquate Fördermaßnahmen zu untermauern ist. Was nach einer Zwangsmaßnahme klingt, kann letztendlich alte Strukturen aufbrechen und neue und kreative Freiräume etablieren. Denn „das ist kulturpolitisch kluges Handeln: nichts aufdrücken, sondern Raum schaffen, damit andere sich artikulieren können, und diese dann, wenn man Glück hat, auch den richtigen Moment erwischen, etwas durchzusetzen“ (Völkers 2008:2).