Wissen als Raum? Macht? Spiel? Verbände und Weiterbildungsträger als Schnittstelle zwischen Praxis, Forschung und Politik
Ein Interview mit zwei Wissenstransfer-Akteur*innen für das kubi-online Dossier „Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung", geführt von Anne Hartmann und Kerstin Hübner
Abstract
Welche Rolle spielt Wissenstransfer in der kulturellen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung? Welche Formen und Facetten umfasst Transfer in Bezug auf diese Felder und wie kann dieser bewusst gefördert und gestaltet werden? Aus zwei Perspektiven, die sich an der Schnittstelle von Forschung und Praxis verorten, reflektieren die Akteurinnen im Interview das Thema Wissenstransfer, unter anderem anhand von Aspekten wie dem Einfluss von machtvollen Rahmenbedingungen oder der Gestaltung von Gremien- und Jurytätigkeiten.
Anne Hartmann und Kerstin Hübner führten mit der Geschäftsführerin der LKJ Sachsen und der Programmleiterin für Bildende Kunst an der ba Wolfenbüttel dieses Interview vor dem Hintergrund des Projekts „Witra KuBi" und der 14. Netzwerktagung „Experiment Wissen" (2023). Der Beitrag ist Teil des von Hartmann/Hübner erarbeiteten kubi-online Dossiers über Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung (i. E.).
Sarah Kuschel leitet seit 2018 den Programmbereich Bildende Kunst an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel. In dieser Rolle ist sie in der kulturellen Erwachsenenbildung tätig. Durch ihre frühere Tätigkeit an der Universität Hildesheim hat sie einen unmittelbaren Bezug zum wissenschaftlichen Kontext, der auch in ihre Arbeit an der Akademie hineinspielt. Akademisches Wissen, Erfahrungswissen und weitere Wissensformen kommen so zusammen. Mit dem Thema Wissenstransfer beschäftigt sie sich auch im Rahmen von Gremien und Jurys, in deren Kontext immer wieder deutlich wird, dass Theorien Praktiker*innen stärken können.
Nina Stoffers ist seit 2021 Geschäftsführerin der Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen (LKJ) und somit in der Kinder- und Jugendbildung tätig. Dies war vorher ihr Forschungsschwerpunkt als Wissenschaftlerin (unter anderem an der Universität Hildesheim) mit einer Ausrichtung auf diversitätsorientierte und machtkritische Fragestellungen. Nun richtet sie ihren Fokus darauf, aus ihren Erhebungen und Analysen Konsequenzen für die Praxis abzuleiten und umzusetzen. Dabei spielen auch Gremientätigkeiten eine Rolle.
kubi-online: Welches Verständnis und welche Aufgabe einer Akademie der Kulturellen Erwachsenenbildung siehst Du mit Blick auf die Transferperspektive?
Sarah Kuschel: Es gibt verschiedene Ebenen und Dimensionen. Erstens kommen unsere Teilnehmenden mit verschiedensten Wissensformen und Erfahrungen in unsere Seminare, Qualifizierungen und Tagungen. Diese in Erfahrung zu bringen und zu berücksichtigen, ist Herausforderung und Chance zugleich, da es wahnsinnig bereichernd ist, wenn wir dieses Wissen in die Weiterbildungen einbeziehen. Das zweite ist, dass wir an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis agieren, weil beides in die Inhalte unserer Weiterbildungen einfließt und diese prägt. Ich glaube, dass Wissenstransfer drittens Vermittlung braucht. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn Dozierende viel Fachvokabular verwenden, das nicht verstanden wird. Da kann es zum Beispiel unsere Aufgabe sein, dieses aufzugreifen und wichtige Begriffe, Konzepte oder auch Referenzen zu erläutern, damit Teilnehmer*innen an diesen Stellen nicht hängenbleiben oder aussteigen. Dann gibt es viertens eine Form von Wissenstransfer zwischen den Künsten oder, konkret in der Bundesakademie, auch zwischen den Programmbereichen. An vielen Stellen haben wir ähnliche Verständnisse, in Bezug auf anderes aber eben auch nicht und über diese unterschiedlichen Verständnisse ist eine Verständigung absolut interessant und gewinnbringend. Eine weitere, fünfte Dimension bezieht sich auf Facetten von Diversität, die es mit Dozierenden und Teilnehmenden-Gruppen mitzudenken gilt. Darüber hinaus sehe ich noch weitere Aspekte wie das Wissen, das sich in Bezug auf Generationen sehr unterschiedlich darstellen kann, und dann, auf einer organisationalen Ebene, das spezifische Wissen verschiedener Bereiche, für das es nicht zuletzt einen Wissenstransfer braucht, wenn es Stellenwechsel gibt.
kubi-online: Und welche Form von Wissenstransfer wird in Eurem Wirkungsfeld als Verband, als LKJ Sachsen, besonders relevant und wirksam?
Nina Stoffers: In der täglichen Arbeit eines Landesverbandes erlebe ich vor allem drei unterschiedliche Dimensionen des Wissens, die ihren Transfer in verschiedene Richtungen suchen: Da ist das Wissen der Teilnehmenden, also das Wissen aus den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen oder auch der jungen Menschen in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung. Dann ist da das Wissen derjenigen, die Angebote Kultureller Bildung umsetzen, der Fachkräfte, die ihre fachliche Ausbildung als Grundlage und zudem einen ungeheuren Erfahrungsschatz an „Praxiswissen“ haben. Weiterhin ist für uns als Verband das Wissen von und um Verwaltung, Politik und Netzwerke sehr wichtig, da wir uns diesen gegenüber anwaltschaftlich für die Kulturelle Bildung einsetzen und zum Beispiel unsere Mitglieder und die Anliegen Kultureller Bildung in Gremien vertreten. Dabei spielt es eine große Rolle, in welchem Querschnittsbereich der Kulturellen Bildung wir uns bewegen – also in der Kunst- und Kulturszene, der Jugendarbeit oder im Bildungsbereich wie in der Schule. Die Handlungslogiken und jeweiligen Glaubenssätze der Bereiche sind sehr unterschiedlich, miteinander verwoben und entsprechend braucht es immer wieder einen Transfer in Form einer Übersetzungsleistung. Als Landesverband transferieren wir die unterschiedlichen Dimensionen des Wissens in verschiedene Richtungen, um sie miteinander in Bezug zu setzen und fruchtbar zu machen. Das ist das A und O und das, was meine Kolleg*innen und ich eigentlich täglich machen: das viele und unterschiedliche Wissen praktisch erfahrbar werden zu lassen, das heißt, von einer Ebene in die andere zu bringen – wie verschiedene Jonglierbälle, die gemeinsam ein großes und dynamisches Bild ergeben. Dabei stellt sich dann schnell die Frage: Wie schaffen wir es, dass kein Ball runterfällt und alle miteinander in Verbindung bleiben?
kubi-online: Wie versteht Ihr Euch als Transferakteur*innen an den Schnittstellen, gerade in Hinblick darauf, dass Ihr persönlich sowohl Forschungs- als auch Praxiserfahrungen habt?
Nina Stoffers: Als Dozentin an der Uni Hildesheim fand ich es interessant, dass es so eine Scheu vor Theorien und ihren abstrakten Gebäuden gibt – ich habe auch selbst gebraucht, bis ich mir diese ohne falsche Ehrfurcht aneignen konnte. Und dann war es mir wichtig, mit den Studierenden zu erarbeiten: Es gibt keine Theorie ohne Praxiswissen. Die Bedeutung des Praxiswissens ist ganz zentral für die Forschung! Das ist der Praxis selbst aber häufig nicht so ganz klar, dass sie eine eminent wichtige Rolle spielt, damit überhaupt Forschung stattfinden kann und daraus abgeleitet Theorien entwickelt werden können. Inzwischen bin ich auf verschiedenen Pfaden für die LKJ unterwegs und nehme immer noch einen großen Gap zwischen Wissenschaft und Praxis wahr. Weiterführend lässt sich daraus ableiten: Welches Wissen ist besonders wichtig, relevant und wirksam? Denn da geht es schon um was, also darum, wessen Wissen gehört wird und welches gar keine oder welches nur am Rande eine Rolle spielt. Meine Herangehensweise ist ganz praktisch: Ich versuche, verschiedenes Wissen zu bündeln und daraus fachlich grundierte Argumente in den Transfer einzubringen. Beispiel: Wessen Wissen ist notwendig zum Thema faire Vergütung und wohin muss es transferiert werden, damit es wirksam werden kann?
Sarah Kuschel: Für mich ist es zentral, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Die Bundesakademie ist ein wunderbarer Ort für Vernetzung, das erlebe ich als sehr bereichernd und schätze es, vermittelnd tätig sein zu können, weil ich die verschiedenen Felder mit ihren eigenen Logiken kenne und sie mitdenken kann. Was ich immer wieder erlebe, ist, dass Teilnehmende, die zum Beispiel langjährig in der Praxis sind, weniger Bezug zu – gerade auch aktuelleren – Theorien haben und es dann manchmal Vermittlungsarbeit braucht, die eine Brücke baut, warum Theorien interessant und bereichernd für die Arbeit in der Praxis sein könnten. Ein anderer Punkt ist die Auswahl von Dozierenden. Da ist es natürlich auf der einen Seite schön, wenn wir mit Menschen arbeiten können, die Schnittstellen gut kennen, weil ich dann weiß, dass sie selbst solche Transferprozesse mitdenken und -gestalten. Das ist in der Kulturellen Bildung auch gar nicht selten. Mit anderen Dozierenden braucht es mehr Vermittlungsarbeit, um zum Beispiel in der gemeinsamen Konzeption einer Veranstaltung aus der Erfahrung mit den oft heterogenen Gruppen heraus transparent zu machen, was gut funktioniert oder was es braucht, weil ich natürlich zunehmend auch die Bedarfe und Perspektiven unserer Teilnehmenden kenne. Es geht also viel darum mitzudenken, an welchen Stellen es Vermittlung braucht, weil es bestimmte Vorbehalte und eben auch so einen Gap gibt. Damit verbunden stellen sich für mich auch nochmal die Fragen: Wie gestaltet sich dieser Gap und wer gestaltet den Gap eigentlich und an welchen Stellen wird er von welcher Seite gepflegt oder vertieft? Das hat, glaube ich, manchmal auch mit bestimmten Logiken des jeweiligen Feldes zu tun. Sprache ist in diesen Logiken ein zentraler Punkt: Gerade im Wissenschaftlichen gibt es oftmals die Tendenz eine Sprache zu wählen, mit der deutlich wird, dass man bestimmte Spielregeln verstanden hat und in einem Spiel mitspielen kann. Und diese Sprache ist eben auch ausschließend.
kubi-online: Wie lässt sich zwischen diesen unterschiedlichen Logiken und Sprachen vermitteln?
Nina Stoffers: Im Prinzip bin ich in verschiedenen Feldern immer auch in unterschiedlichen Rollen unterwegs und irgendwo bin ich eine Art Diplomatin. Da ich die Sprache des einen und des anderen Feldes kenne, versuche ich jeweils für das andere Feld zu werben oder auch Kämpferin für beide zu sein, weil ich in der Verbindung einen Vorteil sehe und auch ganz persönlich diesen Weg als gewinnbringend erlebe, in diesem Sowohl-als-auch zu stecken und zu switchen. Ich nehme auch wahr, dass es diese unterschiedlichen Codes gibt und finde es immer ganz hilfreich, diese Codes offenzulegen und transparent zu machen und zu sagen: Ja, hey, es ist auch irgendwo ein Spiel. Wobei die Frage ist, in welchem Machtgefüge das Spiel stattfindet und ob ich dabei Handlungsmacht habe oder nicht. Deshalb ist es meiner Erfahrung nach so wichtig, sich damit zu beschäftigen, in welchen Rahmungen wir jeweils arbeiten. So können wir besser verstehen, wieso wir teils auch darin gefangen sind – und wie wir damit umgehen können.
kubi-online: Welches Verhältnis zwischen Praxis und Forschung nehmt Ihr wahr?
Nina Stoffers: Eine Sache, die immer wieder passiert: Wenn ich auf Tagungen bin und dort mit Kolleg*innen aus der Praxis spreche, die nicht so stark in wissenschaftlichen Feldern unterwegs waren, sagen diese oft: „Ja, das war mir vorher schon klar, dass dieses Ergebnis rausgekommen ist. Das wissen wir doch schon längst!“ Das Wissen in der Praxis ist also häufig da – nicht unbedingt systematisch und nach wissenschaftlichen Standards erhoben, aber dieses Wissen wird eben auch nicht als solches gesehen und anerkannt. Es ist also hilfreich, wenn es die Wissenschaft bestätigt. Es fehlt für mich das Selbstbewusstsein der Praxis, dass und wofür ihr Erfahrungswissen wertvoll ist. Interessant ist diese Wahrnehmung deshalb, weil sie etwas mit Vorstellungen, mit Hierarchien und Wertschätzung von Wissen zu tun hat. Es braucht daher den Schulterschluss und einen Dialogprozess: Welche Forschungsfragen oder welche Forschungsprozesse sind interessant, damit sie gewinnbringend sowohl für Forschende als auch für die Praxis sind? Wie soll dieser Dialog gestaltet sein? Wie wird das öffentlichkeitswirksam oder politisch sichtbar? Was gibt es außer Textproduktion für andere mögliche Veröffentlichungsformen?
kubi-online: Was motiviert Euch, an der Schnittstelle von Praxis und Forschung aktiv zu sein?
Nina Stoffers: Bei mir gibt es schon eine intrinsische Motivation, dass ich das, was sich in meiner Forschung als zentrale Punkte herauskristallisiert hat und mir bis heute als wichtig erscheint, weiterverfolge: Nämlich, dass wir uns in der Kulturellen Bildung mit Ausschlüssen und Diskriminierungen beschäftigen müssen und nicht nur auf die (vermeintlich) positiven Seiten der Kulturellen Bildung den Fokus legen. Meine Frage ist nun: Was ist die Konsequenz daraus? Wenn ich das ernst nehme, was mir meine Forschung gezeigt hat, wie muss ich dann handeln im Feld? Wie kann ich gestalten oder wie muss ich sogar gestalten, mit welchen Prämissen und Prinzipien? Dabei stelle ich schon auch fest, dass das extrem schwierig ist. Ich finde es wirklich herausfordernd, aus dieser analytischen in eine praktische Perspektive zu wechseln. Ich merke, dass ich dabei ständig scheitere, aber ich muss eben weitermachen. Diese Übersetzung, dieses Transferieren in die Praxis, das habe ich mir aus meiner Uni-Perspektive leichter vorgestellt. Und zugleich finde ich es wirklich großartig, was alles in den praktischen Feldern passiert, was alles entwickelt, ausprobiert und umgesetzt wird. Und ich wünschte mir mehr, dass diese Perspektive in einem analytischen oder wissenschaftlich-empirischen Blick anerkannt wird, auch dahingehend, was die Zwänge der Praxis sind – eine Erkenntnis, die ich ohne die Praxis zum Beispiel gar nicht gehabt hätte. Das ist für mich persönlich gesprochen und weniger für die Organisation, für die LKJ Sachsen. Meine tägliche Arbeit in der Organisation macht es zugleich natürlich total spannend. Beim Themenkomplex Diversität zum Beispiel fällt doch in der Kulturellen Bildung auf, dass wir uns noch sehr stark weiter entwickeln müssen. Beispiel Kooperationen: Mit wem arbeite ich denn, nur mit „meinen“ Netzwerken, größtenteils weiß, weiblich, akademisch? Wen beschicken wir mit unseren Verteilern, welche Kinder und Jugendlichen erreichen wir? Welche nicht, wer fehlt und warum? Wo muss ich zum Beispiel bei der Frage nach Zugängen überhaupt ansetzen? Und ist das schon in unserer Praxis gut gelöst oder wo gibt es Modelle, von denen wir lernen können? Alles wichtige Fragen. Wenn ich im täglichen Betrieb stecke und zusehen muss, dass der Laden laufen muss mit all den Verwaltungs- und Koordinierungsanteilen, dass die Projekte umgesetzt werden müssen, dann sind solche Fragen gar nicht so leicht zu berücksichtigen und die Antworten gar nicht so einfach und schnell möglich. Wir brauchen hierfür Ressourcen und einen Fokus darauf.
Sarah Kuschel: Daran anknüpfend würde ich gern noch mal aufgreifen, wie begeistert ich einfach immer wieder bin, in der Praxis zu erleben, was passiert und passieren kann, was Kulturelle Bildung kann, wenn Ansätze und Projekte gut umgesetzt werden und wie engagiert viele Kolleg*innen sind. Und das sind auch die Beispiele, die wir wiederum heranziehen, wenn wir in Vorträgen oder in der Lehre etwas konkretisieren und anschaulich machen wollen. Anhand von einem konkreten Beispiel etwas deutlich zu machen, ist eine gute Möglichkeit, weil es dann vorstellbar wird. Ich glaube, konkrete Bilder, Erfahrungen, Situationen machen Themen und Fragen lebendig und sind eine schöne Verknüpfung und Konkretisierung von dem Ausgangspunkt „Keine Theorie ohne Praxiswissen“.
kubi-online: Demnach ist nicht nur die Frage danach entscheidend, welche Art von Wissen relevant ist, sondern auch, in welchen Formen oder in welchen Rahmenbedingungen sich das Wissen eigentlich vermittelt. Sarah, in Eurem Weiterbildungsangebot müsst Ihr Euch auch die Frage stellen, wie Ihr gewisse analytische oder auch praxisorientierte Wissensbestände an Menschen, die das wieder in der Praxis mitnehmen oder umsetzen, gut vermittelt. Kannst Du das noch näher beschreiben?
Sarah Kuschel: Ich glaube, was wir in Weiterbildungen zum Beispiel ermöglichen können sind Räume, in denen außerhalb von Alltag und von dem Druck, direkt agieren zu müssen, eigene und die Erfahrungen anderer betrachtet, geteilt und reflektiert werden können. Hier kommt also eine analytische und reflektierende Perspektive hinein, wenn ich wie im künstlerischen Schaffensprozess ein Stück zurücktrete, Abstand nehme und in Austausch mit anderen Teilnehmenden trete, die sich gegenseitig etwas spiegeln oder vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen Impulse geben und andere Perspektiven anregen können. Dieses Wissen ist ganz oft da, das Problem ist aber, dass man einfach zu nah davorsteht oder der Praxis im Alltag Möglichkeiten zu einem solchen Austausch und Zurücktreten fehlen. Hinzu kommt der inhaltliche Input von Dozierenden, der über das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten hinausgeht und diese weitet. Weiterbildungen ermöglichen es also zurückzutreten und auf einer Metaebene im Austausch mit anderen die Komplexität von Themen und Situationen oder das eigene Handeln zu reflektieren, Impulse zu bekommen und hierdurch die zukünftige Arbeit zu bereichern. Nach solchen Erfahrungen und Reflexionen kann ich in der nächsten Situation vielleicht anders und besser agieren.
kubi-online: Nina, sind die Rahmenbedingungen, in denen Praktiker*innen und Forscher*innen agieren, eigentlich gut und geeignet für einen Transfer?
Nina Stoffers: Da können und müssen wir noch sehr viel mehr tun. Und das ist insofern schön, als dass wir das aktiv gestalten können. Wir kommen vielfach mit unterschiedlichen Kompetenzen zusammen, wollen uns über etwas austauschen – aber wie geht es dann weiter? Wie wird das in Formate oder Produkte überführt? Da sind wir bislang sehr unkreativ, weil wir noch immer die klassischen Texte wollen, egal von wem, und dann soll es gut sein. Aber so funktioniert es in der Praxis aus meiner Sicht nicht gut. Ein weiterer zentraler Punkt ist die zeitliche Kapazität. In der Wissenschaft plane ich das Schreiben eines Artikels üblicherweise ein und darf und soll und muss das auch tun. Diese Zeit wird im Praxisfeld nicht eingeplant und von Fördererseite auch nicht gegeben. Artikel schreiben – das ist in der Praxis ein Nice-to-have. Das sehen wir auf kubi-online und in anderen Medien, auch wenn die Kulturelle Bildung, weil sie sich immer aus verschiedensten Feldern und verschiedensten Formen gespeist hat, weiter ist als andere Bereiche. Ein Punkt, wo wir uns selbst fragen können, warum wir da bisher so unkreativ sind, sind etwa Tagungen. Da habe ich die 14. Netzwerktagung als Abschlusstagung des Projektes „Witra KuBi“ zum Beispiel als wegweisend empfunden, weil da verschiedene Perspektiven zusammenkamen und in der Einleitung von einigen sehr klar aufgezeigt wurde, dass es wichtig ist, jenseits von Hierarchien die eigene Involviertheit, die eigene Positionierung zu benennen und zu reflektieren. Wenn wir wirklich herauskommen wollen aus diesem Dualismus von Wissenschaft und Praxis, dann müssen wir an solchen Schrauben drehen und über die Formate reden. Dazu ist es wichtig, dass gerade auch die Fördermittelgeber*innen genau das anerkennen und Ressourcen zur Verfügung stellen, damit zum Beispiel Vertreter*innen aus der Praxis Zeit haben, Tagungen zu besuchen, Vorträge zu halten oder über die Form nachdenken können, wie nicht nur Wissen generiert, sondern auch, wie es vermittelt wird – als Einzelperson wie auch als Organisation. Zu den Rahmenbedingungen zählen auch ganz praktische Dinge: Wenn wir nicht jedes Jahr so viele Anträge schreiben müssten, kämen wir mit der Realisierung der Praxis weiter.
Sarah Kuschel: Ich ergänze das gern: Erst bestimmte Rahmenbedingungen ermöglichen es, dass Anerkennung von Wissen und das Bewusstsein über dieses Wissen überhaupt entstehen. Wenn es einen Rahmen gibt, in dem ich mich darüber verständigen kann, wird Menschen oftmals erst bewusst, mit welchem unglaublich großem Wissensschatz sie eigentlich agieren. Meine zweite Ergänzung: Wir arbeiten in der Akademie im Programmbereich Bildende Kunst daran, andere Dokumentationsformen zu erproben und zu etablieren. Also: Wie können wir viel mehr unsere Gegenstände ernst nehmen und ästhetische Formen von Dokumentationen aufgreifen, die wiederum auch Wissen produzieren bzw. darstellen? Wie müssten zum Beispiel auch Ausschreibungen anders gestaltet sein? Inwieweit können wir Ministerien, Geldgeber*innen, Stiftungen usw. dahin bewegen, dass wir mit ungewöhnlicheren, aber geeigneteren Formen veranschaulichen, welche Prozesse passiert sind. Formen, die fern von Buzzwords und Antragssprech näher an den Prozessen sind, die sich im Rahmen kultureller Bildungsangebote und vielschichtiger sozialer Situationen ereignen.
kubi online: Das führt zu der Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten Ihr als Transferakteur*innen in Eurer leitenden Position habt.
Nina Stoffers: Diese Frage beschäftigt mich in meiner Arbeit sehr, denn wie können wir dahin kommen, dass wir zum Beispiel zwischen Verwaltung, Fördermittelgeber*innen, der Praxis und auch der Wissenschaft die Rahmenbedingungen stärker gemeinsam gestalten? Wie können wir da mehr miteinander arbeiten? Es ist so zentral, was in Förderrichtlinien und Ausschreibungen steht und wie das Wissen, was sich verändert, dafür genutzt wird, von „unten“ nach „oben“ kommt und wie es dann wiederum diffundiert. An der Entwicklung von Förderrichtlinien in Sachsen sind wir beratend beteiligt. In Bezug auf diesen Aspekt, also die Rahmenbedingungen für Förderungen, könnte ich mir vorstellen, dass wir mit unterschiedlichen Akteur*innen fachlich noch zielorientierter zusammenarbeiten, damit die Praxis genau an diesen Stellen bereits ihre Erfahrungen mit einbringen kann.
Sarah Kuschel: Ein weiterer Punkt ist, Jurytätigkeiten anders zu gestalten. Also nicht nur die Frage, wer eigentlich in welchen Jurys vertreten ist, sondern auch, wie wir in den Jurys miteinander und mit den Anträgen umgehen, also diese machtvolle Position von Jurys bewusst wahrzunehmen und kritisch zu bedenken. Und da gibt es bereits tolle Beispiele: In einer Jury haben wir im Vorfeld beispielsweise einen Sensibilisierungsworkshop zum Thema Diskriminierung gemacht, der dazu geführt hat, dass wir uns über die eigenen Perspektiven und Dynamiken austauschten.
Nina Stoffers: Wir müssen da weiter dran arbeiten, weil unser Fördersystem mir an vielen Stellen willkürlich vorkommt. Die Ideen und die Argumente müssen fachlich gut sein und überzeugen. Aber es kommt eben auch stark auf die Zusammensetzung der Jurys an und darauf, was in einer Jury die zentralen Kriterien sind. Zusätzlich bestimmen auch Gruppendynamiken und Hierarchien, die sich in einer Jury entwickeln, die Entscheidungsfindung. Das alles führt manchmal weg von fachlichen Kriterien hin zu Entscheidungen, die nicht systematisch nachvollziehbar sind.
kubi-online: Verbände wie die LKJ Sachsen vertreten ein bestimmtes Fachwissen Ihrer Mitglieder und setzen sich für deren Interessen ein. Das heißt, Praxiswissen wird rasch mit Lobbyarbeit assoziiert, sodass es Teil von politisch strategischen Debatten wird. Wie wirksam kannst Du als Wissensakteurin mit Deinen fachlichen Argumenten sein?
Nina Stoffers: Das ist genau der Punkt, der für mich in der Praxis sehr interessant und zugleich sehr schwierig ist. Manchmal ist diese Vermischung von fachlichen und von politisch-strategischen Argumenten unvermeidbar. Es sind diese verschiedenen Bausteine, die zu meinem Handeln führen, zu Aktion und Reaktion. Fachliche Expertisen werden nicht immer gehört und anerkannt. Dann muss ich in meiner Rolle in dem Moment switchen und fragen: Okay, worum geht es denn jetzt hier? Jetzt geht es nicht um das fachliche Wissen, sondern jetzt geht es darum, strategisch vorzugehen: Wie können wir trotzdem in die aus Verbandssicht notwendige fachliche Richtung wirken? Wirksam sein, heißt für mich auch in diesen Situationen weiterhin fachliches Wissen einzubringen, nicht locker zu lassen und Einfluss zu nehmen. Letztlich ist das etwas, was wir transparenter machen und lauter fragen könnten, weil da Politik, Verwaltung und Fachverbände miteinander spielen – auch nach unterschiedlichen Spielregeln und in unterschiedlichen Rollen.
kubi-online: Ist das Strategische nicht auch eine Wissensform, die Du für Dein konkretes Handeln brauchst?
Nina Stoffers: Unbedingt, strategisches Wissen ist auch eine Wissensform. Im Feld des Politischen kann Lobbyarbeit ganz viel bewirken. Hier können wir uns stark einbringen, da ist viel wichtige Arbeit in den letzten Jahren passiert und das ist eine wichtige Stellschraube. Und gerade hier gibt es total viel Wissen, das informell ist, das nicht nachzulesen ist: Wer muss wann mit wem sprechen, um auf die politische Agenda zu kommen? Wen muss ich als Fürsprecher*in für meinen Bereich gewinnen? Umso größer ist meine Verantwortung in diesem Bereich, die ich engagiert nutzen will: Wo kann ich denn beispielsweise marginalisierte Perspektiven nicht nur mitdenken, sondern im Sinne von Powersharing direkt reinholen und meine Spielwiese teilen bzw. ein Stück weit abgeben? Wo kann ich dem Ehrenamt, das eine ganz große Rolle spielt in unserem Feld, Rückendeckung sein? Das heißt also: Fürsprecherin zu sein für das Wissen, was vielleicht bislang nicht anerkannt ist, Leute einzubeziehen, die nicht auf dem Spielfeld sind und Formate zu öffnen oder anders zu denken, um Partizipation zu ermöglichen.
kubi-online: Sarah, kannst Du auch als Programmleitende in Deinem Bereich im Kontext von Powersharing wirksam sein, das heißt, Macht und Einfluss mit jenen zu teilen, die sonst nicht gehört werden?
Sarah Kuschel: Den Fokus auf die gesellschaftspolitische Dimension von Kultureller Bildung zu richten, ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel. Das heißt nicht, dass jedes Seminar ein politisches Thema haben muss, aber die politischen Dimensionen immer mitzudenken, erscheint mir gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen notwendig. Wir haben zum Beispiel vor kurzem ein Seminar gemacht mit der Frage „Sind alle im Bild?“, in dem es darum ging, eine diversitätssensible Fotografie in den Blick zu nehmen und zu reflektieren, wie eigentlich das Verhältnis von Bildern zu Wissen und Macht ist. Dieses Thema wird nach wie vor unterschätzt. Oder 2022 ein Seminar, das antisemitismus- und rassismussensible Vermittlungsarbeit aufgegriffen hat. Über die Inhalte hinaus betrifft dies die Frage, wer Seminare leitet und gestaltet. Wir haben mit mehr als 300 externen Dozierenden an der Bundesakademie die große Chance, mit unglaublich tollen Kolleg*innen zusammenarbeiten zu können, die ihr Wissen und ihre Erfahrung mitbringen. Darunter sind auch Kolleg*innen, die Diskriminierungserfahrungen haben und bereit sind, diese Themen in unseren Seminaren aufzugreifen.
kubi-online: Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Wissensformen Kultureller Bildung und Wissenskooperationen für diese Prozesse?
Sarah Kuschel: Unser Ausgangspunkt sind die Künste und ihre ästhetischen und sinnlichen Zugänge. Demokratiebildung ist beispielsweise bei uns gerade ein großes Thema: Welche Chancen haben die Künste und künstlerische Ansätze usw. in diesem Kontext? Kulturelle Bildung bietet die Möglichkeit von Wissensformen, die eben nicht nur auf kognitives Wissen fokussiert sind, sondern auf sinnlicher Wahrnehmung basieren und verkörpert sind. Und nicht selten wird erst in diesen Formen etwas sicht- und greifbar, was ich vorher noch nicht wahrgenommen und reflektiert habe.
Nina Stoffers: Ich finde auch wichtig, die Kunst und die ästhetische Erfahrung als Spezifikum herauszustellen und sich von da aus an einem Schnittpunkt zu treffen: Mit wem verbinde ich mich und wer hat schon welche Expertise? Ich muss nicht alles neu machen und mich in Dinge einarbeiten, von denen ich vielleicht gar keine Ahnung habe. Stichwort Demokratiebildung, in dem die Akteur*innen der Politischen Bildung ein ganz großes Wissen haben. Für uns geht es darum, gezielt danach zu schauen, wo und mit wem wollen wir oder müssen wir sogar zusammenarbeiten, weil wir ein bestimmtes Wissen gar nicht haben. Mein Anspruch ist nicht, dass ich alles selber wissen muss, sondern dass ich bewusst mache, wo ich etwas nicht weiß. Das ist das viel zitierte Ver- und Umlernen als die Möglichkeit, vermeintliches Wissen überschreiben, verändern oder anschlussfähig machen zu können. Wir sollten Möglichkeiten nutzen, neue Facetten dadurch zu bekommen, dass wir an andere Kontexte andocken, bei denen es erst einmal eine Herausforderung ist, sich überhaupt darüber zu verständigen, ob wir über das Gleiche reden und vor welchem Hintergrund. Es geht viel um Haltungen, um Perspektiven, darum, dass Gegenstände oder Themen multiperspektivisch betrachtet komplexer sind – wie eben die Realität es auch ist. Und wir müssen damit umgehen, dass verschiedene Erfahrungen gleichberechtigt nebeneinanderstehen können und nicht alle miteinander zu verbinden sind. Dabei geht es nicht immer nur darum, harmonisierend auf eine gemeinsame Perspektive zu kommen, sondern gute Wege und Räume zu finden, diese Gleichzeitigkeit auszuhalten. Es braucht Räume und Wege für das Gemeinsame und dazu die Verbindlichkeit, dass wir uns alle an die gleichen Spielregeln halten.