Das Wiesenkonzert: Über ein künstlerisch-pädagogisches Improvisationskonzept im Rahmen der Frühkindlichen Kulturellen Bildung

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von Susanne Köszeghy

Erscheinungsjahr: 2023

Peer Reviewed

Abstract

Wahrnehmung, Resonanzerfahrungen und deren Transfer in künstlerisch-ästhetische Bildungsprozesse sind ein wichtiger Teil von Frühkindlicher Kultureller Bildung. Der Beitrag greift aktuelle Begründungs- und Qualitätsdiskurse dazu auf und übersetzt diese anhand der Vorstellung einer künstlerischen Intervention in die Praxis: Das „Wiesenkonzert“ als temporäres Vermittlungsprojekt im Elementarbereich arbeitet mit der Aktivierung multisensorischer Prozesse im Erfahrungsraum der freien Natur. Damit verbunden sind eine partizipative, prozess- und phänomenorientierte Herangehensweise. Vor dem Hintergrund von Improvisation mit Klängen und Geräuschen als künstlerischem Verfahren wird die praktische Herangehensweise einer künstlerischen Intervention in ihren verschiedenen Abläufen skizziert und reflektiert.

Can und Mirjam, beide fünf Jahre alt, knien nebeneinander auf dem weichen Waldboden, die Köpfe über ihre Hände gebeugt und die Augen geschlossen. Sie lauschen dem knisternden Rascheln der trockenen Blätter, die sie in ihren Händen zerdrücken. Can flüstert: „Ich kann dein Rascheln gar nicht hören. Ich höre nur meins.“ Mirjam öffnet kurz die Augen, hebt ihre Hände auf die Höhe von Cans Ohr und raschelt dort. „Du musst aufhören, dann kannst du meins besser hören“, sagt sie.

Als Künstlerin mit den Schwerpunkten zeitgenössische Musik und Improvisation liegt mir seit langer Zeit die pädagogische Vermittlung an Kinder und Jugendliche am Herzen: nicht im Sinne eines instrumentalen Virtuosentums, sondern als bewusstes Erlebnis von ästhetischer Wahrnehmung und kreativem Tun, welches die wesentlichen Qualitäten einer künstlerischen Erfahrung und Motor eines nachfolgenden künstlerischen Prozesses sind. Diese Aufmerksamkeit im Moment ist bereits im sehr jungen Alter möglich. In den Jahren meiner Arbeit mit Kindern habe ich die notwendigen Schritte zur Sensibilisierung und Begleitung in einem Konzept zusammengeführt, welches ich nachfolgend beschreiben werde. Dieses Konzept ist als temporäres Vermittlungsprojekt im Rahmen von Kitas angelegt und somit als künstlerische Intervention im Rahmen der frühkindlichen Kulturellen Bildung anzusehen (vgl. Mandel 2022).

Um das Konzept darin einzuordnen, gebe ich einen kurzen Überblick über die Begriffe der (frühkindlichen) Kulturellen Bildung und ihnen innewohnender Qualitätskriterien und Handlungsempfehlungen. Die entsprechende Fachliteratur wurde von mir nach Gesichtspunkten der praktischen Übertragbarkeit in diesen Kontext ausgewählt (vgl. Reinwand-Weiss 2022:191). Die Beschreibung von musikalischen Improvisationsprozessen von Kindern in der KiTa leitet danach über zur Darstellung der Herangehensweise im eigentlichen Wiesenkonzert-Projekt.

(Frühkindliche) Kulturelle Bildung

Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss beschreibt Kulturelle Bildung als „produktive und rezeptive Allgemeinbildung in den Künsten, die – ausgehend von einem Selbstbildungsprozess – auf kritische Reflexionsfähigkeit, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und damit Teilhabeprozesse zielt“ (ebd.:193). Dabei erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Welt durch „ästhetische Praktiken“ (ebd.), die nicht unbedingt einem formal künstlerischen Anspruch unterliegen müssen, da sie sowohl die Künste als auch alltägliches Handeln umfassen können. Die dabei gemachten ästhetischen Erfahrungen können wiederum ebenso als Ausgangspunkt und Grundlage Kultureller Bildung (BKJ 2016:5) gesehen werden. Darüber hinaus macht Reinwand-Weiss schon früher die übergreifende Bedeutung des Konzeptes Kulturelle Bildung als „Bildungskonzept und pädagogische Haltung“ (siehe Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (2013/2012):  „Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung“) deutlich und unterstreicht, dass der Begriff „in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder präzisiert werden muss“ (2018:6). Sidonie Engels (siehe Engels: „Kulturelle Bildung – ein Kernbereich der Kindheitspädagogik“) schärft den Begriff noch zusätzlich, indem sie explizit den Vermittlungsprozess miteinschließt. Die hierbei immer wieder erwähnten Resonanzerfahrungen lassen sich bereits im sehr frühen Alter machen: Kinder erschließen sich ihre Welt mit allen Sinnen. Diese elementaren Bildungsprozesse sind durch ihren Transfer in künstlerisch-ästhetische Erfahrungen ebenso Teil der Kulturellen Bildung, werden in dieser Altersgruppe aber erst seit vergleichsweise kurzer Zeit als solcher erkannt (vgl. Engels „Kulturelle Bildung – ein Kernbereich der Kindheitspädagogik“, Hofmann „Begründungen frühkindlicher ästhetischer und Kultureller Bildung“) und führen zur Ausbildung der Frühkindlichen Kulturellen Bildung. Vier in der aktuellen Literatur zu findende Begründungsdimensionen für diesen Bereich zeichnet Fabian Hofmann (2021) nach, aus denen ich zwei herausgreifen möchte:

  • „Frühkindliche Kulturelle Bildung fördert die natürliche Kreativität von Kindern und stärkt diese Schlüsselkompetenz: Die Schlüsselkompetenz-Dimension der Begründungen“
  • „Frühkindliche Kulturelle Bildung qualifiziert zu Kunst und Lebenskunst: Die kunstspezifische Dimension der Begründungen“

Das Verständnis, Kulturelle Bildung als Kreativitätsförderung und diese dann vor allem als Movens sozialer oder kognitiver Ziele zu instrumentalisieren, wird nachvollziehbar kritisiert (ebd.), findet sich aber im Kontext von frühkindlichen Bildungsplänen (z.B. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft:120f.) eindeutig wieder. Musik beispielsweise soll den Tagesablauf in der Kita strukturieren oder dazu benutzt werden, um musikalische Parameter erlernen und zuordnen zu können. Kontemplation bei der Wahrnehmung von Klängen und Melodien steht im Vordergrund, beim aktiven Tun dominiert eher das Mitspielen oder ungerichtetes Explorieren und wenig tatsächlich eigenes Gestalten, wie es z.B. beim Malen als Ausdrucksform manchmal der Fall ist. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass betreuende Fachkräfte über wenig ästhetische Vermittlungsexpertise verfügen (vgl. Obermaier 2018:9, Reinwand-Weiss „Kulturelle Bildung für U6“) und diese die Entwicklung musikalischer Prozesse unter Umständen daher auch nur eingeschränkt wahrnehmen und begleiten können. Im Berliner Bildungsprogramm wird nur in Verbindung mit dem Theaterspiel das gestalterische Moment ausführlicher formuliert (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft:122), welches ein Teil der weiter oben erwähnten kunstspezifischen Begründungsdimension der Frühkindlichen Kulturellen Bildung ist. Hofmann weist darauf hin, dass eine Begründung Frühkindlicher Kultureller Bildung „aus den Künsten“ heraus (siehe Hofmann „Begründungen frühkindlicher ästhetischer und Kultureller Bildung“) fast nicht zu finden ist und begründet dies mit einer fehlenden frühpädagogisch-fachdidaktischen Perspektive, aber auch mit der Betonung von außerkünstlerischen ästhetischen Erfahrungen in frühpädagogischen Kontexten. Die Relevanz des Eintauchens in künstlerische Prozesse wird von der BKJ aber explizit herausgehoben: „Die Kinder sollten künstlerische Prozesse mit all ihrer schöpferischen Offenheit, ihren Überraschungsmomenten und auch ihrer Zerbrechlichkeit erleben können. Denn Zufälle, Unwägbarkeiten und auch Risiken sind wichtige Momente in einem künstlerischen Prozess. Aus ihnen kann eine eigentümliche Kraft entstehen, die die Kinder auch leiblich spüren und erleben können. Ihr wohnt eine große Ernsthaftigkeit inne und zugleich eine spielerische Leichtigkeit, die Kinder fasziniert“ (BKJ 2016:13).

Handlungsempfehlungen und Qualitätsdiskurse innerhalb der Frühkindlichen Kulturellen Bildung

Als Referenzrahmen präsentierte die Bundesvereinigung Kinder- und Jugendbildung Qualitätsmerkmale und Handlungsempfehlungen für die kulturelle Bildungspraxis von Kindern im Alter von null bis sechs Jahren (BKJ 2016). Unter anderem werden hier die Schaffung offener Bildungsgelegenheiten, umfassende Beteiligungsmöglichkeiten der Kinder, subjektive und vielseitige Zugänge und eine spielerische Herangehensweise (ebd.:9ff.) beschrieben. Gleichberechtigungs- und Beteiligungsprozesse spielen eine ebenso große Rolle bei der pädagogischen Begleitung und Vermittlung wie auch das gemeinsame Eintauchen in den oben beschriebenen künstlerischen Prozess. Der Musikpädagoge und -therapeut Johannes Beck-Neckermann erweitert diese Merkmale um Resonanz und die Unterstützung von Selbstwirksamkeit (2014:7f.) und betont die Wichtigkeit der gemeinschaftlichen Interaktion im musikalischen Prozess. Als Hilfestellung zur eigenen Verortung im Vermittlungshandeln innerhalb der Kulturellen Bildung von Künstler*innen stellt Reinwand-Weiss einen Fragenkatalog zur Verfügung (2022:192). Durch die vorgeschlagenen Fragen kann die eigene Haltung zu Kunst, Pädagogik und Vermittlungshandeln reflektiert werden, um ein vertieftes Bewusstsein für den je zugrundeliegenden Theorie-Praxis-Transfer zu erhalten. Die Arbeit mit Selbstreflexivität ist eine wichtige Selbstkompetenz im künstlerischen Vermittlungsprozess und nicht nur für die Künstler*innen selbst, sondern auch für die jeweiligen Teilnehmenden von Bedeutung.

Qualitätsdiskurse beinhalten neben Handlungsempfehlungen und Qualitätsmerkmalen ebenso die Frage nach der Wirksamkeit kultureller Interventionen (siehe Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (2015): „Wirkungsnachweise in der Kulturellen Bildung: Möglich, umstritten, vergeblich, nötig?“), die auf verschiedenen Ebenen stattfinden können: auf wen findet eine Wirkung statt (Kinder, Eltern, soziales und/oder politisches Umfeld) und wie ist diese Wirkung beschaffen? Auf diese zweite Frage gibt es je nach Fokus eine große Zahl von Antwortmöglichkeiten. Diese erschwert die Erforschung der Wirkung, da das Feld der kulturellen Interventionen von Diversität und Komplexität geprägt ist und Wirkungen daher nicht immer vergleichbar sind oder sein können. Reinwand-Weiss weist deutlich daraufhin, dass „Wirkungsaussagen aus dem Zusammenhang zu reißen, ohne die Entstehungszusammenhänge zu berücksichtigen, (…) eindimensionale, nicht allgemeingültige Aussagen“ erzeuge. Diese Wirkungsaussagen bezieht sie auf die Transferleistungen, die der Kulturellen Bildung oftmals als Legitimation dienen. Hier muss ein Brückenschlag zur ästhetischen Bildungsforschung stattfinden, ansonsten wird „das ästhetische Tun selbst untergraben und zum Mittel des Zwecks“ (siehe Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (2020/2018): „Kulturelle Bildung aus der Perspektive der Wissenschaft in Forschung und Lehre“; vgl. auch Obermaier/Köhler 2018:9). Zudem erfordert eine kulturelle Wirkungsforschung eine „jahrzehntelange Grundlagen- und Detailforschung“ (ebd. Reinwand-Weiss 2020/2018), ohne die eine grundlegende wissenschaftliche Legitimation der Kulturellen Bildung nur unzureichend möglich ist.

Im Zuge der Diskussion um die Qualität der Frühkindlichen Kulturellen Bildung gab die BKJ eine Expertise zur Qualität Kultureller Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen mit Kindertagesstätten in Auftrag (Obermaier/Köhler 2018). In dieser wurden erfolgreiche Kooperationsmodelle Kultureller Bildung mit Kindertagesstätten auf verschiedene Qualitätskriterien hin untersucht, um einen Beitrag zur Schaffung bundeseinheitlicher Standards in der frühen Bildung zu schaffen. Diese Kriterien umfassen verschiedene Qualitäten von Organisationsstrukturen, Prozessen, Kontexten und Ergebnissen und sind Künstler*innen in Vermittlungskontexten zur eigenen Projektreflexion sehr zu empfehlen.

Improvisieren (mit Kindern)

Das „Wiesenkonzert“ ist ein künstlerisch-pädagogisches Improvisationskonzept für Kinder im Elementarbereich (vier bis sieben Jahre) und funktioniert im Sinne von künstlerischen Interventionen. Diese sind „temporäre künstlerische Eingriffe in nicht-künstlerische Bereiche (…), oft verbunden mit dem Ziel, durch Irritation von Routinen Veränderungen bei Menschen und Organisationen anzuregen“ (Mandel 2022:8). Die Arbeit bewegt sich zwischen den Spannungsfeldern der multisensorischen Sensibilisierung in Verbindung mit einer intendierten Entwicklung von Offenohrigkeit und der Entwicklung kreativ- musikalischer improvisatorischer Prozesse – individuell und in der Gruppe. Diese vielfältigen Erfahrungen finden ausschließlich im ursprünglichsten Raum des Menschen – der Natur – statt. Alles, was Wald und Wiese an Klang und Geräusch hergibt, wird sinnlich erfahren und zur eigenen Klangerkundung und -erzeugung genutzt. Durch das inspirierende Umfeld werden alle Wahrnehmungskanäle auf ganz natürliche Art und Weise angesprochen. Meist ist die Natur bereits ein Teil der kindlichen Lebenswelt, so dass die im Projekt gemachten Erfahrungen für die Kinder „anschlussfähig“ sind (siehe Nana Eger (2015):  „What works? Arbeitsprinzipien zum Gelingen kultureller Bildungsangebote an der Schnittstelle von Kunst und Schule“). Anders als beim Zugang von Helen Hartung (siehe: „Naturverbundenheit und die Künste – Überlegungen zu einem ästhetischen Naturzugang zur Stärkung der Verbundenheit mit der Natur“), die mit dieser Beschäftigung die Verbundenheit mit der Natur als ökologisches Ziel stärken und unterstützen möchte, zielt das Wiesenkonzert auf die Entwicklung künstlerisch-ästhetischer Prozesse an sich.

Das hierfür genutzte künstlerische Verfahren (vgl. Mandel 2022:101) ist die freie Improvisation mit allen Klangmöglichkeiten, die in der Natur und am eigenen Körper zur Verfügung stehen. Matthias Schwabe begründet die Erfahrungen von musikalischer Gestaltung innerhalb der freien Improvisation:

„Die Bezeichnung ,Freie Improvisation‘ bedeutet dabei keineswegs, dass jede und jeder tun kann, was er oder sie will. Der Begriff ,frei‘ heißt lediglich: frei von verbindlichen stilistischen Vorgaben (…). Vielmehr liegt das musikalische Material frei verfügbar (…) offen zugänglich vor: der Klang an sich, jeder Klang, jedes Geräusch, alles was klingt, sofern ich es als Spieler für ,passend‘ erachte. Das schließt natürlich auch das Gegenteil von Klang mit ein – die Stille. Der praktische Umgang mit diesem musikalischen ,Urmaterial‘ führt uns zu Erfahrungen musikalischer Gestaltung. Was klingt wie zusammen? Was folgt sinnvoller Weise aufeinander? Stimmiges und nicht Stimmiges lässt sich voneinander unterscheiden, durch praktisches Erproben entwickelt sich eine Art ,musikalisches Sprachgefühl‘ und ein Gespür für musikalische Dramaturgie. Improvisieren lernen heißt in der freien Improvisation eben gerade nicht ,Alles ist möglich!‘, sondern vielmehr ,Versuche wahrzunehmen, was jetzt sinnvoll wäre!‘ “ (Gagel/Schwabe 2013:7f).

Diese schrittweise Annäherung an die Wahrnehmung und Gestaltung musikalischer Prozesse kennzeichnet in hohem Maße die Arbeit im Wiesenkonzert-Projekt.

Durch Improvisation kann praktisch erfahrbar ein partizipativer Musikbegriff vermittelt werden. Gleichberechtigte Teilnahme für alle Mitspieler*innen (vgl. Schwabe 1992, BKJ 2016) und gemeinsame Spielregeln bieten den Rahmen, um Wertschätzung, Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit zu erleben. Die künstlerischen Aspekte umfassen – vergleichbar mit denen der elementaren Musikpädagogik (siehe Michael Dartsch (2021): „Elementare Musikpädagogik. Zur Theorie und Praxis einer Disziplin Kultureller Bildung“) – das multisensorische Wahrnehmen, das Ausdifferenzieren von musikalischen Erfahrungen, die Entwicklung von gemeinsamen Improvisationen und das anschließende Reflektieren über die erfahrenen Prozesse. Als Gesamtkunstwerk wird hierbei die gemeinsame Improvisation ein „(ernstzunehmendes) Spiel“ (Schwabe 1992:8).

Das Verständnis des künstlerischen Arbeitens im Wiesenkonzert-Projekt beruht auf dem Transfer von Alltagswahrnehmungen in die ästhetische Erfahrung (siehe Ursula Brandstätter (2013/2012): „Ästhetische Erfahrung“) und somit auf einem breiten und umfassenden Kunstbegriff (siehe Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (2013/2012): „Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung“). Die ästhetischen Erfahrungen, die die Kinder in der Natur machen, lässt sie in deren Selbstbezüglichkeit eintauchen: das Knistern trockener Blätter wird nicht mehr nur als gewöhnliche Alltagserfahrung, sondern als ein musikalisches Ereignis wahrgenommen, das der eigenen Gestaltung unterliegen kann. Die soziale Dimension dieser kulturellen Bildungserfahrung liegt in der projektimmanenten kulturellen Offenheit: Klänge und Geräusche, die in und mit der Natur erfahren und erzeugt werden, unterliegen keinem definierten Klang- und Tonraum und bieten daher Kindern unterschiedlicher soziokultureller Herkünfte gemeinsame Möglichkeiten Neues zu entdecken und damit zu experimentieren. Kreative Prozesse entstehen im gemeinschaftlichen Phänomen-orientierten improvisatorischen Miteinander und sind in jeder Gruppe individuell und einzigartig. Die Kinder beschäftigen sich alleine oder in der Gruppe mit Klängen und Geräuschen, die im weiteren Verlauf während des Workshops direkt aufgegriffen werden, was zu einer „positiven Resonanzerfahrung“ (BKJ 2016:13) führt und große Aufmerksamkeit von der Workshopleitung erfordert.

Wichtig ist es im Übrigen, sich nach den jeweils geltenden Landeswaldgesetzen zu richten und gegebenenfalls im Vorfeld beim Forstamt eine Genehmigung für die künstlerische Nutzung von Totholz und Blättern einzuholen.

Offenohrigkeit

Die intendierte Offenohrigkeit ist eine willkommene Begleiterscheinung der frühkindlichen Improvisation mit Klängen und Geräuschen, deren Mechanismus dem von Obermaier und Köhler in anderem Zusammenhang beschriebenen ähnelt:

„Bildsame Erfahrungen von Kultur dieser Art sind vornehmlich über sinnlich-ästhetische Irritationen vermittelt, die im kindlichen Lernprozess der ersten Jahre bearbeitet und danach wahrscheinlich vergessen werden, im Rückblick auf Gelerntes aber wiedererinnert werden können und so ganz beiläufig zu Handlungsfähigkeit, Partizipationsfähigkeit und idealiter auch zu Verantwortung für sich und andere führen“ (Obermaier/Köhler 2018:7).

Das Phänomen der „Offenohrigkeit/ open-eared (-ness)“ (Hargreaves 1982:51f zit. nach Gembris 2009:346) bezeichnete „ursprünglich eine grundsätzliche Offenheit im Kindesalter gegenüber unterschiedlichen Musikstilen (…), die mit den Lebensjahren abnähme. In der Forschung verselbständigte sich diese Vermutung zur Forschungsthese, was in den letzten Jahren wegen der Vermischung der Konzepte von Präferenz und Offenheit zunehmend kritisiert wurde“ (Köszeghy 2022:117). Aktuell definieren Christoph Louven und Aileen Ritter Offenohrigkeit als „Bereitschaft sich mit einer Musik auch dann zu beschäftigen, wenn diese nicht unmittelbar gefällt“ (Louven/Ritter 2012:279). Dies kann durch die Transferleistung der Betrachtung von Klangereignissen aus der Alltagswelt in die künstlerische Erfahrung unterstützt werden und analog zu Obermaier die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit kulturell-ästhetischen Phänomenen in späteren Jahren befördern. Hierzu fehlt bislang noch eine begleitende Langzeitstudie.

Künstlerische Intervention am Beispiel „Wiesenkonzert“

Katrin Gödeke und Michael Heber stellen für Projekte Kultureller Bildung ein Phasenmodell für Methodik und Didaktik dar (BKJ 2016a:28ff.), anhand dessen ich den Aufbau genauer erläutere. Auch die Arbeitsprinzipien von Nana Eger (vgl. Eger 2015) sind in der Beschreibung wiederzufinden. Die nachfolgenden Phasen finden sich sowohl an jedem einzelnen Workshoptag als auch in der Gliederung des Gesamtablaufs.

Phase 1 – Eröffnung - Kennenlernen

Der Workshop findet normalerweise in bereits bestehenden KiTa-Gruppen statt. Die Kinder kennen sich untereinander, mich jedoch noch nicht. Diese Phase ist am Morgenkreis-Ritual der Kindertagesstätten angelehnt und findet täglich zur Eröffnung statt. Als vertrauensbildende Kennenlernmaßnahme wird z.B. der eigene Name in verschiedenen Lautstärken geflüstert und gebrüllt, später können experimentellere Geräusche dazu genommen werden. Da ein „erlebnisorientierter Beziehungskontext“ (siehe Karin Bergdolt (2020): „Mit der Kunst im Leben wachsen – Von der ästhetischen Arbeit im Draußen-Sein“) die Vermittlung in diesem Projekt prägt, ist der individuelle Beziehungsaufbau durchaus wichtig. Er findet jeweils nach dem Eröffnungskreis in den Kleingruppen statt, die sich aufgabenbezogen oder im Freispiel bilden. Wichtig ist, dass die anwesenden Erzieher*innen als gleichberechtigte Entdecker*innen teilnehmen und die Kinder begleiten können, aber nicht in die entstehenden Prozesse eingreifen oder diese zu lenken versuchen. Dies wird bereits in den Vorbesprechungen kommuniziert und schließt ebenso die Workshopleitung mit ein. Weiterhin werden in der Eröffnungsphase gemeinsam die Regeln für den Umgang untereinander und mit der Umgebung in der Natur festgelegt, wofür oft auf bereits bestehende Regeln in der Kita zurückgegriffen werden kann. Je nach Alter und Bekanntheitsgrad der Regeln können diese auch visualisiert werden.

Phase 2 – Einstieg ins Genre

An jedem Workshoptag werden unterschiedliche Wahrnehmungsspiele angeboten, die aufeinander aufbauen. Diese beziehen sich auf die leiblich-sinnliche Wahrnehmung (vgl. Eger 2015) und verbinden mehrere Sinneskanäle miteinander. Wenn das Thema der Woche z.B. die Wahrnehmung von Klangqualitäten ist, widmet sich jeder Tag einer bis maximal zwei davon. Diese Klangqualitäten werden aus Entdeckungen der Kinder entwickelt und von diesen mit beschreibenden Adjektiven versehen (das Schaben mit einem Stock an einem Stück Rinde erzeugt beispielsweise „kratzige“, „raue“, „chr-chr“-Klänge). Daraufhin wird sich in unterschiedlichen Kontexten mit der Textur der Rauheit beschäftigt: visuell, haptisch, auditiv. Auch Stimm- und Körperklänge können bei Bedarf mit einbezogen werden. Es wird viel gelauscht, experimentiert, aber auch miteinander über Klänge gesprochen. An dieser Stelle können auch die ersten „sparkling moments“ (ebd.) auftreten, bei denen die Kinder eine emotionale Verbindung mit ihren Entdeckungen eingehen. Neben der künstlerischen Selbstwirksamkeitserfahrung gibt es darüber hinaus noch eine weitere Kompetenz, die hier vermittelt wird: Sprachförderung ist nicht nur durch das Schaffen von Sprachanlässen einer der guten Gründe für die Förderung von Frühkindlicher Kultureller Bildung (NFKB o.J.), sondern findet auch in der künstlerischen Arbeit als weiterer Klangraum ihren Niederschlag (vgl. Köszeghy 2022).

Der Wald ist für Kinder ein offener Raum, den sie unter Umständen nicht gewohnt sind. Dies ist in den Aufbau eines Workshoptages miteinzubeziehen: Es muss also immer wieder genügend Raum für freies Spiel eingeplant werden, vor allem da die Phasen der Konzentration, die gut beobachtet und genutzt werden wollen, immer wieder von Erholungspausen unterbrochen werden müssen. In diesen Spielphasen werden oft vorangegangene ästhetische Erfahrungen wiederholt und vertieft. Diese sind geprägt durch Leiblichkeit und Selbstbezüglichkeit, aber auch durch „Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit“ (vgl. Brandstätter 2013/2012). Da diese Merkmale auch generell auf das Spiel als „zentraler Bestandteil der Kindheit“ zutreffen (Weltzien 2016:o.S.), ist es kein Wunder, dass diesem „als Hauptmotor Kultureller Bildung“ (Obermaier/Köhler 2018:11) eine große Wichtigkeit beigemessen wird und auch hier ausreichend Raum erhält.

Phase 3 – Verdichtungsphase

In dieser Phase werden die einzelnen Parameter zu kleinen Improvisationen zusammengefügt. Der Übergang vom Einstieg ist fließend und kann sowohl in der täglichen Arbeit als auch während eines längeren Zeitraumes geplant werden. Was die Verdichtung kennzeichnet, ist vielleicht die deutlichere Erfahrung von „Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Erfahrung“ (vgl. Brandstätter 2013/2012). Die einzeln wahrgenommenen und produzierten Klänge und Geräusche bekommen musikalischen Charakter, indem sie zu flüchtigen Klangbildern zusammengesetzt werden können.

Um mit den Kindern musikalisch zu arbeiten, bieten sich Improvisationsspiele an (vgl. z.B. Gagel/Schwabe 2013, Schwabe 1992, Reitinger 2018), die in unterschiedlichen Settings stattfinden können. Da sich diese meist an Kinder ab dem Schulalter richten, müssen sie altersangemessen modifiziert werden. Zu beachten sind beispielsweise die kürzere Aufmerksamkeitsspanne von Kindern zwischen vier und sieben Jahren, die möglicherweise noch eingeschränkte Kompetenz, die eigenen Erfahrungen verbal zu reflektieren und auch die Tatsache, dass sich Kinder erst ab dem Grundschulalter auf mehr als einen Parameter gleichzeitig wirklich konzentrieren können (vgl. Gembris 2009). Genau wie in der Einstiegsphase haben die Kinder die Möglichkeit der freien Exploration auf dem Gelände. Die Arbeit findet in Impulsen meist spontan als Reaktion auf Entdeckungen in kleineren Gruppen statt und kann auf Wunsch im Plenum vorgestellt werden. Die Aufgabe der Workshopleitung ist hierbei die aufmerksame Wahrnehmung und Begleitung der individuellen Prozesse, um im richtigen Moment Angebote machen zu können und Anregungen zu geben. Auch die Widerspenstigkeit von möglichen Klangerzeugern (nasses Holz und Laub) zu thematisieren und diese als Herausforderung zu erleben (vgl. Eger 2015) ist ein Teil der Vermittlungsarbeit. Hierbei fungiert die Workshopleitung ebenso als Mitlernende.

Phase 4 – Präsentation

Da die Arbeit im Wiesenkonzert meist phänomenorientiert stattfindet, bildet eine Präsentation im Sinne einer Aufführung nicht die ästhetisch-künstlerischen Erlebnisse der Kinder ab. Es hat sich aber bewährt, die Eltern zu einer Art Laborpräsentation mit verschiedenen Stationen einzuladen, damit die Kinder als Expert*innen in eigener Sache (vgl. BKJ 2016:14) das Erlebte vorstellen und die Eltern bei Spielen anleiten können. Auch ein Klangmuseum, eine Fotoausstellung mit zusätzlich aufgenommenen Hörmomenten, die über Kopfhörer geteilt werden, Führungen im Wald – viele Formate können zusammen mit den Kindern entwickelt werden. Wenn die Eltern über das Projekt bereits im Vorfeld und auch währenddessen informiert werden, befördert dies die Erziehungspartnerschaft sehr: das ein oder andere Mal werden in der Familie im Nachgang beispielsweise Wochenendausflüge zum Ort des Workshops gemacht, um die Erfahrungen der Kinder nachzuvollziehen.

Phase 5 – Auswertung – Reflexion - Dokumentation

Die Auswertung erfolgt am letzten Workshoptag zuerst mit den Kindern: Welche neuen Erfahrungen haben sie machen können (vgl. Eger 2015). Praktisch ausagieren können die Kinder dies bereits bei der Präsentation des Erlebten für ihre Eltern, da sie dafür häufig das auswählen, was sie besonders fasziniert oder beschäftigt hat. Anschließend erfolgt die Auswertung mit den Erzieher*innen, die danach Handreichungen für die weitere Arbeit mit den Kindern erhalten können. Parallel zu den Workshoptagen dokumentiere ich die Arbeit des jeweiligen Tages und die beobachteten Entwicklungen bei den Kindern, um die Ergebnisse und Erfahrungen festzuhalten. Diese Dokumentationen dienen als Grundlage für den Nachweis gegenüber fördernden Organisationen, aber auch zur Weiterentwicklung meiner eigenen pädagogischen Herangehensweise. Als Inspiration für meine eigene Reflexion hat sich darüber hinaus u.a. die Expertise von Obermaier und Köhler (2018) erwiesen. Gerade was deren Hinweise zu möglichem strukturellen Entwicklungspotential, zur Verstetigung der Angebote und der Notwendigkeit der Evidenzbasierung betrifft, gibt es hier für künstlerische Interventionen eine Menge zu erfahren und umzusetzen. Zur Evaluation von Praxisprojekten der Kulturellen Bildung gibt im Übrigen auch Mandel (2022:174ff.) wertvolle Impulse.

Die generelle Evidenzbasierung im Bereich der (Frühkindlichen) Kulturellen Bildung ist aus bereits erwähnten Gründen noch nicht sehr etabliert. Obermaier und Köhler (2018:24f) empfehlen diese durch verstärkte Forschung im Bereich der Kindertagesstätten und möglicher Kooperationen zu unterstützen. Gerade was Relevanz und langfristige Wirkung betrifft, wäre die Aufnahme von projektbegleitenden Studien sehr sinnvoll, konkret auch, was z.B. den Bereich der möglichen Auswirkungen der Unterstützung von Offenohrigkeit betrifft. Hierzu muss aber auch bedacht werden, was der Gegenstand dieser Evidenzbasierung sein soll und kann. Gerade wenn ein Projekt auch einer kunstspezifischen Begründung folgt, wie dies im Wiesenkonzert der Fall ist, müssen Parameter gefunden werden, mit denen die Entwicklung künstlerischer Prozesse dokumentiert und ausgewertet werden können. Diese Auswertung geht über eine Transferforschung hinaus und ist beispielsweise über prozessorientierte oder biographische Forschung möglich (vgl. Fink et al. 2010). Anders als die Autor*innen hier feststellen (ebd.:11), ist eine Verallgemeinerung biographisch erhobener Erkenntnisse durchaus durchführbar (vgl. Rosenthal 2015, Rätz/Völter 2015). Ob diese Methode der rekonstruktiven Sozialforschung allerdings bei jungen Kindern schon gewinnbringend angewandt werden kann, ist zu bezweifeln. Als Workshopleitung ist es mir kurzfristig aber auf alle Fälle möglich, qualitative Befragungen der Kinder und auch der anwesenden Erzieher*innen in kleinerem Umfang durchzuführen, um individuelle Wirkungsprozesse nachzuvollziehen und damit das Konzept immer wieder weiterzuentwickeln.

Lala (5) und Maria (6) präsentieren ihren Eltern an einem gefällten Baumstamm, welche Klangmöglichkeiten sich diesem entlocken lassen. Lalas Vater reibt abwechselnd mit einem Stück Stoff und seinem Fingernagel über die Rinde. Maria hört zu, nimmt dann einen kleinen Zweig zwischen Daumen und Zeigefinger und klopft damit in unregelmäßigen Abständen parallel auf ihre Regenjacke, dann auf den Stamm. Als der Vater aufhört, sagt Lala: „Du darfst nicht aufhören, Papa. Maria macht Musik mit dir. Hör doch mal zu!“