Wessen (Kulturelle) Bildung zählt? Eine rassismuskritische Analyse ästhetischer Bildungstheorie am Beispiel Hegels
Abstract
Seit der Entstehung des modernen Bildungsprojekts ist kulturell-ästhetische Bildung mit Hoffnungen und Versprechungen auf individuelle Teilhabe und Fortschritt verknüpft. Das Ästhetische hält Versprechungen im Hinblick auf die Bildsamkeit und damit verbundene mögliche Selbstüberschreitungen des Menschen bereit. Die Versprechungen, die heute vielfach angerufen werden, beziehen sich ebenfalls auf die Ermöglichung subjektiver Bildungsprozesse. Ob diese Versprechungen gehalten werden können, ist sicherlich fraglich. Dieser Beitrag geht dieser Frage nach, indem er ausgewählte Perspektiven des Bildungsdenkens und damit verwobene Vorstellungen der Bedeutsamkeit des Ästhetischen oder ‚der Kultur‘ für Bildungsprozesse aus rassismuskritischer Perspektive befragt.
Anhand ausgewählter bildungs- und kulturtheoretisch relevanter Arbeiten Hegels, soll gezeigt werden, wie er (kulturelle) Bildung versteht. Der Bezug auf Hegel begründet sich daraus, dass er einerseits bis heute großen Einfluss auf (bildungs-)philosophische Diskurse nimmt und weil sich anhand seiner Arbeiten rassistische Ideen, die mit dem Bildungsdenken verwoben sind, sehr gut herausarbeiten lassen.
Anhand zweier Fallbeispiele aus einem qualitativ-empirischen Forschungsprojekt wird die Bedeutsamkeit der dem ästhetischen Bildungsdenken inhärenten Rassismen für die Anerkennbarkeit kulturell-ästhetischer Erfahrungen und Praktiken Jugendlicher als bildungsrelevant herausgearbeitet.
Wie hinreichend bekannt ist, sind mit kultureller oder auch ästhetischer Bildung viele Hoffnungen verknüpft. Dies gilt, wie Yvonne Ehrenspeck systematisch herausgearbeitet hat, seit der Entstehung des modernen Bildungsprojekts (Ehrenspeck 1998). Das Ästhetische hält Versprechungen im Hinblick auf die Bildsamkeit und damit verbundene mögliche Selbstüberschreitungen des Menschen bereit. Die Versprechungen, die heute vielfach angerufen werden, beziehen sich ebenfalls auf die Ermöglichung subjektiver Bildungsprozesse, allerdings mit dem Ziel der Teilhabe aller am nationalen Bildungsprojekt (Günther 2017). Ob diese Versprechungen gehalten werden können, ist sicherlich fraglich. Dieser Beitrag geht dieser Frage nach, indem er ausgewählte Perspektiven des Bildungsdenkens und damit verwobene Vorstellungen der Bedeutsamkeit des Ästhetischen oder ‚der Kultur‘ für Bildungsprozesse aus rassismuskritischer Perspektive befragt (Solórzano und Yosso 2002; Melter und Mecheril 2011).
1. Positionierung: Einnahme einer rassismuskritischen Forschungsperspektive
Eine rassismuskritische Perspektive einzunehmen heißt, davon auszugehen, dass gesellschaftliche Verhältnisse rassistisch strukturiert sind, oder anders gesagt, dass ‚Rasse‘ und Rassialisierungen grundsätzlich bedeutsam sind (West 2001) und damit eben auch rassismuskritische Forschung, nicht zuletzt im Kontext von Bildung resp. Education (Ladson-Billings 1998). Dabei geht es nicht nur um jene, die unter Rassismus leiden bzw. als rassialisierte Subjekte gelten, sondern auch um jene, die vom Rassismus profitieren, durch ihn privilegiert werden (Kendall 2013).
Die rassismuskritische Theorie und Forschung (Critical Race Theory) beinhaltet kein geschlossenes Theoriekonzept, sondern vielmehr das reflexive Werkzeug, das es ermöglicht, rassialisierende Strukturen und entsprechende Erfahrungen sichtbar zu machen (Delgado et al. 2017). In diesem Zusammenhang wird ‚Rasse‘ nicht als biologistische und phänotypisch bestimmbare Kategorie verstanden, sondern als soziale Konstruktion, die eine bestimmte gesellschaftliche Funktion hat: So ist bspw. nicht selbstevident wer als ‚weiß‘ gilt. Historische Studien konnten rekonstruieren, wie sich bspw. in den USA der Status von irischen Immigranten (Ignatiev 2012) und auch von Juden im Hinblick auf ihr „Weißsein“ verändert hat (Brodkin 2010) – immer in Bezug auf konkrete politische und ökonomische Interessenslagen. Hund (2017) rekonstruiert dies in Bezug auf „die Deutschen“ bzw. das Verhältnis von Deutschsein und Weißsein seit dem 18. Jahrhundert vor allem auch anhand kultureller Artefakte. Es ist also weder selbstevident, wer weiß ist, noch wer es nicht ist. Trotzdem, oder gerade wegen dieser Konstruiertheit, die einer permanenten Restabilisierung bedarf, wird Weißsein oft nicht thematisiert, ganz im Gegensatz zu Nicht-Weißsein und dies führt zu einer Rassialisierung bestimmter Subjekte und anderer nicht (Leonardo 2010). Damit können nicht rassialisierte Forscher*innen eine vermeintlich neutrale Position einnehmen, gerade auch, wenn sie sich mit rassialisierten Subjekten, oder wie im vorliegenden Beitrag, mit deren kulturell-ästhetischen Bildungsprozessen beschäftigen. Um diese Problematik aufzugreifen, muss die Forscher*innenperspektive Teil der Auseinandersetzung sein, ebenso wie theorieimmanente, oft implizite Vorannahmen und Zuschreibungen, die bestimmte Differenzierungen nahelegen. Eine rassismuskritische Analyse kulturell-ästhetischer Bildungsprozesse setzt deshalb eine entsprechende Reflexion der verwendeten Begriffe sowie der Konstruktion des Gegenstands voraus (Wischmann 2016). Der Gegenstand bzw. die Gegenstände sind in diesem Fall potenzielle kulturell-ästhetische Bildungsprozesse Jugendlicher mit so genanntem Migrationshintergrund. Deshalb folgt nun eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff allgemein und im nächsten Schritt wird eine Engführung auf ästhetisch-kultureller Bildung vorgenommen und zwar anhand Hegels Konzept ästhetischer Bildung (Zirfas 2016).
2. Rassismuskritische Perspektiven auf Bildung
Der Bildungsbegriff ist im deutschsprachigen Raum nicht nur omnipräsent, sondern auch ein machtvolles Konzept, auf das öffentlich fortwährend Bezug genommen wird. Einerseits wird Bildung als Ressource andererseits als Schlüssel zur Teilhabe aller dargestellt:
„Bildung gibt Perspektiven. Sie ermöglicht es jeder und jedem Einzelnen, die eigenen Talente zu entfalten, in ein erfolgreiches Berufsleben einzutreten und sich in der Gesellschaft zu engagieren. Gute Bildung – vom Kindergarten über Schule, Ausbildung und Studium bis hin zur Weiterbildung – ist der Schlüssel für Teilhabe und sozialen Aufstieg. Zugleich bildet sie die Grundvoraussetzung für den Erfolg unseres Landes im internationalen Wettbewerb.“ (Johanna Wanka, BMBF 2013, o. S.)
Bildung wird hier dargestellt als etwas, das jedem und jeder gleichermaßen Chancen bietet. Doch was unter Bildung genau verstanden wird bleibt diffus. Und gerade hierin liegt das Problem: es wird nämlich implizit Bezug genommen auf eine Bildungsidee, die Bildung als einen selbstreflexiven Prozess versteht, in dem ein Subjekt (oder: ein Ich) seine Beziehung zur Welt verändert - transformiert. Aber dies darf tatsächlich nicht in beliebiger Weise und in eine beliebige Richtung geschehen, da Bildung immer normativ aufgeladen ist (Wischmann 2010, 2014). Bildung (bzw. ihre Qualität) könne gut oder weniger gut sein (Terhart und Reisch 2002), man könne ihr näher oder ferner sein (Liesner 2012) und sie kann umschlagen in Halbbildung (Adorno 2006) oder gar Unbildung (Liessmann 2016).
Bildung – da sind sich die meisten einig, die sich damit beschäftigen – umfasst mehr als die Aneignung von Wissen und Qualifikationen; es geht immer um das Subjekt selbst und dessen Welt-Selbstverhältnis und damit die Art, wie es sich selbst und seine Welt erlebt und wahrnimmt (Ehrenspeck 2010; Horlacher 2011; Koller 2012). Wie diese Reflexion stattfindet, ist dabei nicht beliebig; vielmehr sollte sie dem Subjekt ermöglichen, sich kritisch mit sich ihm stellenden Anforderungen auseinanderzusetzen und geeignete Formen des Umgangs mit neuen Problemen zu erarbeiten. Wenn Bildung nur zu Anpassung an Gegebenes führen würde, dann würde sie hinter ihr kritisches Potential zurückfallen. Daher umfasst Bildung ein Moment der kritischen (Selbst-)Reflexion (Boenicke 2006). Als Transformation der Welt-Selbstbeziehung, so die Annahme, ermöglicht es Bildung dem Subjekt, mit sich schnell verändernden Anforderungen und sich veränderndem Wissen sowie mit sich rasant wandelnden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lebensbedingungen fertig zu werden (Peukert 1998; Koller 2012). Deshalb berücksichtigen aktuelle Theorien der Bildung immer mehr, dass Bildung als ein wechselseitiger Prozess zwischen dem Subjekt und der Welt – nicht nur der ideellen, sondern der sozialen und materiellen – zu verstehen ist (Wischmann 2010; Rose 2012).
In diesem Zusammenhang war der Bildungstheorie ihre eigene Weltvergessenheit vorgeworfen worden, weil sie sich zu sehr auf das sich bildende Subjekt fokussiert habe (Wigger 2008; Rosenberg 2014). Durch die Bezugnahme auf verschiedene aktuelle Theorien sehen sich Bildungstheoretiker*innen immer mehr in der Lage, die sozialen Bedingungen bzw. die Bedingtheit von Bildung zu konzeptualisieren (Koller und Wulftange 2014).
Ein weiterer Versuch, der sicherstellen soll, dass konkrete Lebensbedingungen und die subjektiven Erfahrungen berücksichtigt werden, ist es, Bildungstheorie mit empirischer Forschung zu verknüpfen (z.B. ebd.; Koller 2012). Und hier werden auch die Probleme der Auswirkungen der sozialen Bedingungen auf Bildung offensichtlich, weil diese Forschung zu zeigen vermag, dass Bildung tatsächlich als Privileg verstanden werden kann. Denn je prekärer die soziale Position, desto unwahrscheinlicher sind Bildungsprozesse – jedenfalls im Sinne gängiger, als Heuristik verwendeter Bildungstheorien (Wischmann 2010).
Dies könnte nun als eine Bestätigung verstanden werden, dass einige soziale Gruppen in der Tat als „bildungsfern“ angesehen werden müssen; oder man könnte alternativ argumentieren, dass der Begriff der Bildung in diesen empirischen Zusammenhängen nicht sinnvoll verwendet werden kann. Was empirisch als Bildung rekonstruiert werden kann, orientiert sich nämlich an einem bestimmten Ideal eines privilegierten, weißen, der Mittel- oder Oberschicht angehörigen Europäers sowie inzwischen auch Europäerin. Für jene, die als „bildungsfern“ markiert sind, kann Bildung – erst einmal allgemein - ihre Versprechen nicht halten. Vielmehr führt sie zur Stabilisierung bestehender Distinktions- und Ausschlussmechanismen (Liesner 2012). Diese Debatte ist in Diskursen um kulturell-ästhetische Bildung nicht neu. Die Kritik an der Exklusivität gerade im Hinblick auf das, was als Hochkultur bezeichnet wird und wie hier gesellschaftliche Machtverhältnisse wirken, begleitet die Auseinandersetzung kontinuierlich (vgl. bspw. Billstein und Zirfas 2017). Yosso (2005) hat im Anschluss an Bourdieu herausgearbeitet, wie diese Mechanismen unter Berücksichtigung von „race“ wirken. Sie stellt die Frage, wessen kulturelles Kapital zählt, weil es, wie sie zeigt nicht darum geht, dass bestimmten rassialisierten Subjekten und Gruppen nicht ausreichend kulturelles Kapitel zur Verfügung steht, sondern vielmehr das falsche – jedenfalls aus Sicht des Bildungssystems, welches spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten eben nicht als bildungsrelevant anerkennt.
3. Zum Verhältnis von Bildung und Kultur und dem Konzept ästhetischer Bildung Hegels
Soweit zum Bildungsdenken im Allgemeinen. Doch wie steht es um kulturell-ästhetische Bildung? Immer wieder wird ihr vorgeworfen, sie sei exklusiv und dass sie als Distinktionsinstrument wirken würde (Billstein und Zirfas 2017). Doch diese Auseinandersetzungen beziehen sich zumeist auf die Differenzkategorie des sozioökonomischen Status bzw. der sozialen Klasse, welche in der Regel einhergeht mit einem entsprechenden formalen Bildungsniveau (Büchner 2003). Explizit rassismuskritische Arbeiten finden sich hierzu kaum, es sei denn „race“/ Ethnizität oder Migrationshintergrund werden mit „Bildungsferne“ gleichgesetzt.
Anhand ausgewählter bildungs- und kulturtheoretisch relevanter Arbeiten Hegels (1970a; 1970b; 1999; 2013) möchte ich zeigen, wie er (kulturelle) Bildung versteht. Ich beziehe mich auf Hegel, weil er einerseits bis heute großen Einfluss auf (bildungs-)philosophische Diskurse hat (Wigger 2016; Zirfas 2016) und weil sich anhand seiner Arbeiten rassistische Ideen, die mit dem Bildungsdenken verwoben sind, sehr gut herausarbeiten lassen (Wischmann 2016).
Hegel versteht Bildung in Bezug auf die Idee des individuellen und kollektiven Fortschritts. Er beschreibt diesen Fortschritt in dialektischer Weise unter Berücksichtigung der sozialen und geographischen Lage der sich Bildendenden, da er annimmt, dass sie Einfluss nehmen auf die jeweilige Nation und deren politische Organisation (Hegel 1996). In einer modernen Gesellschaft wird das Subjekt als zwischen verschiedenen sozialen Bereichen zerrissenes verstanden, nämlich zwischen den Notwendigkeiten des Seins und der Bildung des Geistes. Der Geist ist nicht (nur) die individuelle Rationalität – auch wenn erwartet wird, dass rational und moralisch (sittlich) gehandelt wird – sondern bildet außerdem den ideellen Überbau einer Nation. Hier manifestiert sich der universelle Geist und zur gleichen Zeit beeinflusst er das Dasein des Einzelnen. Daher ist die Richtung des Fortschreitens nicht willkürlich, sondern führt vom Besonderen zum Allgemeinen, oder, konkreter, vom individuellen bzw. subjektiven Sein zum allgemeinen und kollektiven Bewusstsein. Hegel glaubte, dass dies Stagnation und Stillstand in diesem Kontext zur Folge hätte, dass das Subjekt so an einem Zuwachs an Bildung als Voraussetzung für ein sittliches Leben gehindert würde. Die geistige Sphäre und damit die spezifische Idee des rationalen Denkens und des Fortschritts ist die Sphäre der Bildung. Das Bildungsideal ist der objektive Geist, die wirklich gewordene, gelebte Sittlichkeit:
„Nach Hegel ist Bildung ihrer objektiven Seite nach der »sich entfremdete Geist«, also der Geist, der sich in seiner geschichtlichen Genese herausgebildet, objektiviert und zur Erscheinung gebracht hat und nun als Resultat dieser Genese gewissermaßen als ein Fremdes vorhanden ist und dem ungebildeten individuellen Selbstbewußtsein gegenübersteht. Einerseits ist es der in Recht, Moralität sowie in der Sittlichkeit der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates zu seiner aktuellen Gestalt gelangte objektive Geist, andererseits der in Kunst, Religion und Wissenschaft (Philosophie) gegenwärtig erscheinende absolute Geist. Dieser sich entfremdete Geist ist das vorgegebene »Reich der Wirklichkeit«.“ (Anzenbacher 2012, S. 16)
Hegel sieht in der Kunst die Erscheinungsform des göttlichen Absoluten. In ihr, so Hegel in seinen Vorlesungen über Ästhetik „haben die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt, und für das Verständnis der Weisheit und Religion macht die schöne Kunst oftmals, und bei manchen Völkern sie allein, den Schlüssel aus“ (Hegel 1970a, S. 21). Die Ästhetik bezeichnet Hegel als die Wissenschaft der Empfindung, die sich mit dem Schönen, hauptsächlich eben der Kunst beschäftige. Das Interesse der Kunst wiederum sei es, den Geschmack zu bilden und zwar mit dem Ziel der Sittlichkeit. Ästhetische Bildung ist also Hegel zufolge Teil des allgemeinen Bildungsprojekts.
Hegel definiert Stufen des Seins, die Bildung eher begünstigen oder verhindern. Je weiter eine Gesellschaft entwickelt ist, desto eher ermöglicht sie es den Menschen sich zu bilden. Diese Entwicklung hängt nicht zuletzt mit den geografischen Gegebenheiten zusammen (vgl. hierzu Livingstone 2013). Während Kant von Wilden spricht, die zunächst diszipliniert werden müssen bevor sie sich bilden können (Kant 1803), wird Hegel noch konkreter in seiner Argumentation, indem er sagt, dass die Europäer (in Mitteleuropa und Nordamerika) am ehesten dazu geschaffen sind, sich zu bilden. „Neger“ hingegen bedürfen zunächst der Erziehung, was in diesem Fall Sklaverei meint:
„Aus allen diesen verschiedentlich angeführten Zügen geht hervor, daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charakter der Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen.“ (Hegel 2013, S. 234)
Daher sind nicht alle Menschen in der gleichen Position in Bezug auf ihr Potential sich zu bilden. Hegel argumentiert, dass aufgrund der geografischen und klimatischen Bedingungen in Afrika auf der einen Seite und in Lappland auf der anderen Seite, die Menschen nicht in der Lage sind, sich so zu entwickeln wie Europäer. Dabei geht es immer um die Erreichung einer höheren moralischen Stufe des Seins. Er will ihnen dabei nicht grundsätzlich ihre Bildsamkeit absprechen, glaubt aber, dass diese nur zum Zuge komme über oder mit Hilfe der Europäer. Dieses Argument erklärt Hegels Haltung gegenüber der Sklaverei: Er lehnt die Sklaverei grundsätzlich ab, denn sie widerspricht dem Recht der persönlichen Freiheit des Einzelnen. Allerdings seien insbesondere „schwarze" Menschen aus Afrika nicht in der Lage, frei zu handeln, weshalb eine Erziehung durch Sklaverei erst den Weg zur Bildung ebnen würde. Hegel argumentiert, dass das Leben als Sklave für den „Neger“ immer noch besser sei als das Leben in Afrika, egal in welcher Position. Die Möglichkeit zur Bildung wird hier gleichsam zum Argument der Rechtfertigung, zumindest temporärer Sklaverei: Das Ziel ist die Ermöglichung der Bildung durch Erziehung, die wiederum im Sinne einer Annäherung an das Ideal des gebildeten „weißen“ Europäers verstanden wird (z.B. ebd., S. 201 oder 268).
4. Wessen kulturell-ästhetische Bildung zählt im Anschluss an Hegel?
Anhand des hegelschen Bildungsbegriffs wird die Verwobenheit der Bildungsidee mit rassialisierten Vorstellungen des gebildeten Menschen deutlich. Zwar wird allen Menschen eine Bildsamkeit grundsätzlich zugesprochen, aber die Wahrscheinlichkeit sich dem höchsten Ideal, der Sittlichkeit – die sich ja in der Kunst wiederspiegele – anzunähern, sind für Nicht-Weiße marginal.
Es ist davon auszugehen, dass – wenngleich in der Regel nicht mehr explizit – diese Vorstellungen eines gebildeten Menschen fortwirken. Insbesondere dann, wenn es hierzulande um Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund und „bildungsferne Schichten“ (Liesner 2012) geht. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden zwei Fälle aus dem Sample einer qualitativen Studie zum Thema Lernen vorstellen, welche durch die Max-Traeger-Stiftung gefördert (MTS-Projekt: 5162-2014) wurde; zu den weiteren Ergebnissen der Studie vgl. Wischmann 2017; 2018.) Es wurden insgesamt 21 episodisch-narrative Interviews mit Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren geführt, welche mithilfe der fallrekonstruktiven Methode nach Rosenthal (Rosenthal 1995) ausgewertet worden sind. Die beiden Jugendlichen, um die es gehen wird, nenne ich Sara und Olaf. Beide sind 12 Jahre alt und besuchen jeweils eine Gemeinschaftsschule in Norddeutschland. Sie berichten von ihren ästhetischen Lernerfahrungen, wobei zu fragen sein wird, inwiefern diese als bildungsrelevant gelten können. Des Weiteren berichten beide explizit von Rassismuserfahrungen in der Schule und wie diese ihren formalen Bildungsweg und auch biografische Bildungsprozesse beeinflussen (vgl. Wischmann 2018). Die ästhetischen Erfahrungen von Sara und Olaf sind sehr unterschiedlich und gerade dies, so soll gezeigt werden, lässt sie bildungsrelevant werden oder eben nicht.
Sara kam mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester aus Sri Lanka. Im Interviewverlauf sagt sie selbst, dass es sie stört, dass manche Mitschüler*innen sie als „schwarz“ bezeichnen würden. Sara hat Schwierigkeiten in der Schule, d. h. ihre Leistungen sind nicht gut. Ich, die ich das Interview selbst geführt habe, frage sie, was sie besonders gut kann:
„S: Ja. [lacht] (.) ähm [gedehnt] (..), ein bisschen gut lesen [I: Mmh.] (.) ja, (..) mmh. […] Mmh, ich (.) treff, ich treffe mich ger-, sehr gerne mit mei-, einer Freundin [I: Mmh.], mit meine beste Freundin und, (.) ähm, ich lese gerne, [I: Mmh.] ähm, (.) ja, ich versuche immer zu zeichnen, aber ich krieg das nicht im-, immer hin. [I: Mmh.] Äh, versuch ich das immer und dann (.) ja. [I: Mmh.] (…) und (.) ich lerne (.) gerne falls [I: Mmh.] wir Test haben [I: Mmh.] oder (.) ja.
I: Mmh. (.) Und was für Bücher liest du gerne? (.)
S: Zum Beispiel, Krimis [I: Mmh.] oder, ähm, so comicmäßig, zum Beispiel wie Gregs Tagebuch [I: Mmh.] (.) ja, das les ich momentan. (.)“
Neben dem Lesen zeichnet Sara auch sehr gern. Aber das könne sie nicht so gut – würde es aber immer wieder versuchen. In ihrer Freizeit widmet sich Sara Tätigkeiten, die gemeinhin als „bildungsnah“ gelten können. Diese helfen ihr allerdings nicht dabei ihre Schulleistungen, von denen sie sagt, sie seien nicht gut, zu verbessern. Diesbezüglich scheint sie ratlos zu sein. Sie lese für sich, am liebsten zuhause im Bett. Eine Verknüpfung zwischen (formaler) Bildung und dem Lesen wird nicht hergestellt, ebenso wenig wie zum Zeichnen. Saras kulturell-ästhetische Bildung vollzieht sich gleichsam informell und unbemerkt.
Olaf kam mit seiner Familie aus Serbien. Das Interview, insbesondere die Eingangssequenz, verweist auf Gewalterfahrungen, erlittene und beigefügte Verletzungen. Er erzählt immer wieder von Schwierigkeiten mit anderen Kindern, aber auch Erzieherinnen und Lehrerinnen. Nur eine habe er gemocht und die hätte ihn dann sehr enttäuscht:
„(.) als ich in die Schule kam, (.) also ich konnte halt nich richtig sprechen im Kindergarten, (.) da dachte meine Erzieherin, das was ich nich wusste, (.) und ich hatte Läuse im Kindergarten, ich hatte einmal Läuse im Kindergarten, (.) und [gedehnt] denn hat-, musste mir ne Glatze geschnitten werden. (.) [Mmh] Oh ja, (.) und denn musst-, (.) bin ich halt [undeutlich] nach zwei oder drei Jahren in die Sch-, Schule gekommen. (.) Und dann hat meine Mutter meiner Erz-, alten Horterzieherin ges-, (.) also (.) Kindergartenerzieherin gesagt, ich bin richtig gut in der Schule geworden (.) und da meinte die so, ähm, das kann ich nich glauben, (.) weil s-, s-, sie dachte ich wär (.) irgendwie dumm, (.) irgendwie“
Hier zeigt sich etwas, das aus vielen Studien zur Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund bekannt ist: von der Kenntnis der (deutschen) Sprache wird auf die Intelligenz (oder auch Leistungsfähigkeit) geschlossen (Koch 2011) und dies wird von Olaf wahrgenommen und gleichzeitig als unzutreffende Zuschreibung entlarvt, denn, was ihm besonders gefällt in der Schule, ist Theaterspielen, eine Praxis, in der es nicht zuletzt um Sprachlichkeit geht:
„(.) und denn(.) in der vierten Klasse hab ich mein erstes Theaterstück gehabt, ähm, (.) hundert Jahre Schule, (.) Schule ist schön (.) und denn (.) war ich der Direktor, eine der Hauptrollen,[Mmh.] (.) äh, aber dafür der Kleinste. (..) Äh, und (.) da hab ich halt-, da wurde das halt aufgenommen alles und auf-, denn wurde es auf eine CD gebrannt. (.) Denn hatt ich mit der (.)fünften Klasse mein zweites Stück (.) und zwar, ähm, die Götter-Olympiade, da war ich [gedehnt] der Weingott Dionysos (.) und (..) mit-, hatte der mit den ganzen andern Göttern, h-, ähm, (.) Apoll, (..) ähm, (..) Aphrodite, denn noch (.) Ares, (.) hatte ich ja mit den allen Streit und dann wurde eine Götter-Olympiade gegründet, [Mmh.] wer der Beste ist und am Ende stellte sich halt raus, dass, (..) also, die Götter-Olympiade ging darum, was die Menschen am besten können, also (.) die Menschen sollten von den Göttern lernen und Dionysos hat den Menschen beigebracht zu feiern und Spaß zu haben (.) und [gedehnt] Apollon zu singen, wie das ist so Kunst (.) und, ähm, Aphrodite die Schönheit (.) und (..) wie heißt (.) Athene, das-, das-, die Kluge (.) und hat se denn allen beigebracht, am Ende hat keiner gewonnen, dafür ham alle gesamt gewonnen.“
Zum Interviewzeitpunkt befindet sich Olaf am Übergang der sechsjährigen Grundschule zum Gymnasium. Er beschreibt seinen Weg durch die Bildungsinstitutionen bis dato als Kampf – teilweise im wahrsten Sinne des Wortes. Die Kunst, konkret das Theater, präsentiert er jedoch als Verarbeitungsmöglichkeit. Neben dem Theaterspielen habe seine Mutter ihm Malen beigebracht. Im Gegensatz zu Sara wird hier kulturelle Praxis öffentlich dargestellt und wird so bemerkt und auch anerkannt, vor allem auch weil sie im Kontext formaler Bildung verortet ist.
Was sich in beiden Fällen zeigt ist, dass ästhetische Erfahrung, ästhetisches Lernen, ästhetische Bildung nur dann zu einem erfolgreichen Bildungsprojekt von rassialisierten Subjekten beitragen können, wenn sie zuallererst sichtbar werden und dann Anerkennung finden. Es kann davon ausgegangen werden, dass dies nicht in gleichem Maße für nicht rassialisierte Subjekte zutrifft, die als „bildungsnah“ gelten, weil ihnen eine angemessene kulturelle-ästhetische Praxis grundsätzlich zugetraut oder gar unterstellt wird. Bei Sara ist dies definitiv nicht der Fall. Sie kann ihre ästhetisch-kulturelle Bildungserfahrung nicht für formale Bildung anschlussfähig werden lassen, nicht zuletzt aufgrund einer von ihr dargelegten Unkenntnis der Funktionsweisen und impliziten Erwartungen des formalen deutschen Bildungssystems. Olaf inszeniert sich – vor allem mit Hilfe seiner Mutter, aber auch mithilfe der ihm gewährten Möglichkeiten zur Inszenierung in der Schule.
5. Schluss
Beide, Sara und Olaf, berichten von kulturell-ästhetischen Bildungserfahrungen, welche sich jedoch ganz unterschiedlich darstellen und auch ganz unterschiedlich genutzt werden (können). Dies liegt sicherlich an den sich unterscheidenden familialen Kontexten und möglicherweise spielen auch geschlechtsspezifische Inszenierungen eine Rolle. Hier soll es jedoch um die Art der kulturell-ästhetischen Bildungspraxis gehen und in welcher Weise diese dann als bildungsrelevant anerkannt und auch wirksam wird, also ihr Versprechen (Ehrenspeck 1998) zumindest teilweise einlöst. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass kulturell-ästhetische Bildungspraxis nicht an sich hilfreich ist, sondern in ihrer spezifischen Anschlussfähigkeit für das sich bildende Subjekt.
Hegel unterscheidet die Bedeutsamkeiten und Funktionsweise unterschiedlicher Kunstformen ausführlich (Hegel 1970b). Ich möchte an dieser Stelle insbesondere darauf eingehen, wie er Lesen – Hegel unterscheidet das „für sich Lesen“ als kulturelle Praxis vom Rezitieren (Hegel 1970b) – und die Schauspielkunst unterscheidet (ebd.) und in welchem Verhältnis sie jeweils zu Bildung stehen (Hegel 1970a), weil dies genau die Praktiken sind, die sich bei Sara und Olaf finden.
Texte – ob poetische, prosaische oder dramatische – für sich zu lesen muss keinen bildenden Effekt haben, weil erst die Anerkennung der Bildungsrelevanz für das je spezifische Subjekt diesen Effekt ermöglicht. Gerade dann, wenn keine anerkannte (kulturell-ästhetische) Vorbildung vorliegt – oder, so lässt sich im Anschluss an die bisher dargestellten Überlegungen konstatieren, die falschen, also als „bildungsfern" markierte Subjekte lesen, denen unterstellt wird, nicht den „richtigen", den „wahren" Zugang finden zu können.
Lesen will also gelernt sein und ist damit selbst voraussetzungsvoll und an die dem Subjekt zugeschriebenen Fähigkeiten gebunden. Die Schauspielkunst hingegen ist immer exponiert. Der Schauspieler muss als ganze Person in seiner Rolle aufgehen und sich gleichzeitig dem Publikum zeigen, das wiederum seine Darstellung auch in Bezug auf das dargestellte Stück beurteilt. Die Virtuosität zeigt sich dann darin, dass es gelingt, das Stück angemessen darzustellen.
Es wird also erneut deutlich, wie wichtig die Anerkennung und mit ihr die explizite Beurteilbarkeit des ästhetischen Handelns im Hinblick auf Bildung ist. Das Lesen an und für sich hat zwar den Vorteil, dass es das Subjekt gerade nicht zwingt sich zu exponieren, wodurch es ja auch Zurückweisung und Missachtung erfahren könnte, aber es bleibt als sich bildendes Subjekt – gerade wenn es als „bildungsfern“ markiert ist – unbeachtet. Anders die Schauspielkunst. Olaf konnte sie genau deshalb für sich nutzen, weil sie ihn exponiert und ihm neue Handlungsräume eröffnet. Diese ermöglichen ihm dann den Zugang zur formalen Bildung. Damit soll nicht über die Ambivalenzen der Sichtbarkeit (Schaffer 2008) hinweggesehen werden. Für Olaf ist seine ästhetische Praxis hoch riskant. Vielleicht könnte man es so sagen: in Olafs Fall wird mehr aufs Spiel gesetzt, aber es gibt auch mehr zu gewinnen. In Saras Fall bleibt die Bildungspraxis unbemerkt, in Olafs wird das Risiko, welches aus einer sozialen Positionalität resultiert, individualisiert. D.h. kulturell-ästhetische Bildung bietet tatsächlich Möglichkeiten der Reduktion von „Bildungsferne“, aber diese zu nutzen ist riskant und das Risiko liegt auf Seiten des Subjekts, wohingegen privilegierte Subjekte sich gar nicht exponieren müssen. Es reicht, dass sie genügend Bücher zu Hause haben (Baumert et al. 2003).