Wer hat Angst vorm Blockflötenproletariat? Elitensicherung, Klassismus und die (Un-)Begrenztheit des Sagbaren
Abstract
Der Beitrag widmet sich klassistischen Abwertungsstrategien am Beispiel der 2010 gescheiterten Hamburger Bildungsreform. Per Comic und Text werden Praktiken analysiert, die soziale Herkunft und »Bildungsdefizite« erfolgreich verknüpfen und deutlich machen, wie scheinbar harmlose Verallgemeinerungen den gängigen Klassismus in Bildungssystem und Kultureller Bildung verstärken. In den ausführenden Gedanken werden Formen der Elitensicherung am Beispiel einer Elterninitiative und der medialen Resonanz auf das Thema diskutiert. Daran schließt die Forderung an, bürgerliche Normen zu reflektieren – als selbstkritische Befragung der »feinen Unterschiede« – und bürgerliche Kultur- und Bildungsräume zu öffnen. Ebenso die Mahnung, durch eine Erweiterung des Begriffs der Kulturellen Bildung als anti-klassistische Praxis Marginalisierungen zu vermeiden und demokratische Partizipationsmöglichkeiten konsequent zu stärken. Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers: Klassismus und Kulturelle Bildung.
Bildungsreform als Kulturkampf
Im Zuge des Versuches, die Primarschule in Hamburg von vier auf sechs Jahre zu verlängern und des „Kulturkampfes um die Schule“ (vgl. Wiese 2010) wurden viele Dinge gesagt. Nicht nur, dass die Bildungsreform der 1960er/1970er Jahre, auf dessen Auswirkungen in den 1980er Jahren sich die im Beitrag nicht namentlich genannte Aktivistin hier bezieht, ein „akademisches Proletariat herangezüchtet“ (vgl. ndr 2023) hätte, sondern auch, dass diese Reform „schlechte“ Akademiker*innen hervorgebracht hätte, dass die „Elitenförderung“ wieder vorangetrieben werden müsse, „Schlachtermeister“ und „Frisöre“ nicht über das akademische Interesse und die Fähigkeit verfügten, zu promovieren und prophezeit, dass privaten Schulen und Universitäten die Zukunft gehöre (ebd.).
An dieser Stelle stellt sich schon die Frage, welches Bild von beruflichen Ausbildungen die Aktivistin hat und auch, wie sie Bildungswege bewertet. Ohne groß darauf eingehen zu wollen, ist es zum einen sehr wohl möglich, auch im späteren Leben noch einmal den Beruf zu wechseln. Zum anderen ist eine akademische Karriere ohnehin schon so von einem hochselektiven und klassistischen Bildungssystem vorstrukturiert, dass sie sich eigentlich keine Sorgen machen müsste, dass das Proletariat massenweise in Professuren berufen würde. Im Gegenteil: Die Undurchlässigkeit des bundesdeutschen Bildungssystems ist hinlänglich bekannt (vgl. Schulze et al. 2008, Middendorf et al. 2016, El-Mafaalani 2020). Von wissenschaftlichen Untersuchungen bis hin zu persönlichen Erfahrungsberichten existiert ein breites Spektrum an Erkenntnissen, das darauf hinweist, dass der Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen sowohl zu früh als auch innerhalb eines reformbedürftigen und ungerechten Selektionssystems stattfindet. Stefan Wellgraf bezeichnet dieses System als einen „Ausgrenzungsapparat“ (2021), der eher auf die Aufrechterhaltung von Status zielt als auf Bildungsgerechtigkeit (vgl. Abou 2024:19).
Ein weiterer Mythos, auf den sich die Elterninitiative bezieht, ist die Behauptung, dass sich das Leistungsniveau einer Klasse auf ein „Mittelmaß einpendeln“ (vgl. Edelstein 2023) würde, wenn das Schulsystem darauf angelegt würde, „soziale Bildungsungleichheiten zu vermindern“ (ebd.). Daraufhin hält Benjamin Edelstein mit Blick auf die PISA Studie 2022 entgegen, dass „der internationale Vergleich zeigt, dass zwischen Leistungsniveau und (Un-)Gleichheit kein systematischer Zusammenhang und somit auch kein Zielkonflikt besteht“ (ebd.).
Es ist wichtig zu betonen, dass die Worte und Handlungen von Einzelpersonen wie von Dr. Walter Scheuerl, dem Mitbegründer des Elternnetzwerks „Wir wollen lernen“, und der interviewten Aktivistin nicht isoliert betrachtet werden können. Sie spiegeln vielmehr tief verwurzelte Vorurteile und kulturelle Annahmen über soziale Klassen wider. Die Geige als symbolisches Kapital der bürgerlichen Klasse wird hier gegen die Blockflöte als das Musikinstrument des Proletariats gestellt (vgl. hierzu auch den Dossierbeitrag von Stefan Bast). Diese künstlich forcierte Einteilung in Hoch- und Populärkultur ist ein Verstärker für klassistische Vorurteile. Solche Vorurteile, die Interessen und Fähigkeiten mit der Klassenherkunft verbinden, prägen nicht nur den öffentlichen Diskurs, sondern beeinflussen auch politische Entscheidungen und Reformbemühungen im Bildungsbereich. Die Verwendung von Metaphern wie der Blockflöte für Kinder aus benachteiligten Familien ist keine harmlose Sprachwahl, sondern eine reflexive Projektion von Annahmen über Interessen und Fähigkeiten, die herabwürdigend und beleidigend ist (vgl. Abou 2024:32).
„Klassismus [...] beschreibt ein System der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, die aus dem ökonomischen Status abgeleitet oder besser: erfunden und konstruiert werden“, schreiben Betina Aumair und Brigitte Theißl (2020:21) und treffen damit diese Praxis der Abwertung auf den Punkt. Besonders zum Tragen kommen diese Zuschreibungen im Bereich Schule beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen: Bei gleichen Noten erhalten Schüler*innen akademischer Herkunft mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung als Schüler*innen nicht akademischer Herkunft (vgl. Hradil 2008). Die Forschenden vermuten hier – unbewusste – Vorurteile der Lehrenden (ebd.), dass zum Beispiel Eltern aus der Arbeiter*innenklasse ihre Kinder auf dem Gymnasium nicht unterstützen könnten.
Ob diese Vorurteile unbewusst sind, ist fraglich – vielmehr sind es normalisierte Annahmen über ganze Personengruppen – anhand der (vermuteten) sozialen Herkunft (vgl. hierzu Terhart 2022). Die Äußerungen, die im Zuge der Bildungsreform in Hamburg gefallen sind, lassen sich als Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundstimmung verstehen. Die Aussagen über Präferenzen in Bezug auf musische Bildung und ein in elitäre Bildungsinstitutionen einfallendes Proletariat, zeichnen eine Karikatur, die mangels Möglichkeiten einer rechtlichen Verfolgung – Soziale Herkunft ist bislang nur im Berliner Landesdiskriminierungsgesetz (LADG) als Diskriminierungsmerkmal aufgeführt – immer wieder als Abgrenzungsfolie herhalten muss. Dass diese Normalisierung von Abwertung und das Fehlen einer Lobby zu massiven Konsequenzen führen können, zeigt die aktuelle Diskussion um die Bezahlkarte für Asylbewerber*innen.
Maximilian Mörseburg, CDU, schlug im Februar 2024 im Bundestag vor, dass auch Bezieher*innen von Sozialleistungen nur noch eine Bezahlkarte zur Verfügung gestellt bekommen sollten: „Ich bin sehr optimistisch, dass die Bezahlkarte ein großer Erfolg sein wird. Vielleicht wird sie sogar so erfolgreich sein, dass wir bald diskutieren, das Konzept Sachleistungen durch Bezahlkarte auf weitere Bereiche im Sozialsystem auszuweiten“ (Deutscher Bundestag 2024). An dieser Aussage ist nicht nur deprimierend, dass Menschen, die strukturell schon benachteiligt sind, nun auch noch gegeneinander ausgespielt werden sollen, sondern auch, dass im sonst recht widerspruchsfreudigen Plenum zu dieser Aussage keine Reaktion kam – außer Beifall der CDU/CSU Fraktion (ebd.).
Dass das Ende der 1990er Jahre eingeführte Gutscheinsystem für Asylbewerber*innen schon einmal gescheitert war, dass alle Argumente dazu – Beschneidung der persönlichen Freiheit, Outing und Stigmatisierung, Teilhabebeschränkungen – schon einmal durchdiskutiert wurden, scheint im politischen Gedächtnis nicht mehr vorhanden zu sein (vgl. Mai 1997). Im Gegenteil wird zeitgleich eine Arbeitspflicht für Asylbewerber*innen diskutiert. Für 0,80 Euro in der Stunde soll vier Stunden am Tag gearbeitet werden, bei Verweigerung drohen Leistungskürzungen (vgl. Sieben 2024).
Materiell arme Menschen und Menschen mit strukturell verwehrtem Zugang zu formeller Bildung sind eine Projektions- und Angriffsfläche, die nicht nur in politischen Diskussionen – wie Bildungsreformen oder die Einführung der Bezahlkarte für Asylbewerber*innen und Sozialleistungbezieher*innen – sondern auch medial Zielscheibe gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Dabei ist nicht nur der offene Klassismus in (gestellten) Reality-TV Formaten gemeint, bei denen gern in die privaten Leben von materiell armen Menschen eingedrungen wird, die von der Einrichtung ihrer meist kleinen Wohnungen über Lebensgewohnheiten bis hin zum Essen bloßgestellt werden, sondern auch gut gemeinte Beiträge können Leerstellen in Bezug auf Sensibilisierung für Klassismus enthalten.
So postete funk – das Content Netzwerk von ARD & ZDF – Tipps zum Umgang mit Freund*innen, die wenig Geld haben. Einer davon: „Akzeptiert, dass eure Freund*innen weniger Geld haben. Das ist normal und niemand kann was dafür“ (vgl. auch Brigitte Theißl in diesem Dossier). Die Redaktion entschuldigte sich nach Protesten zwar für diese Normalisierung von materieller Armut, dennoch zeigt sich hier, dass die Redaktionen erst auf den klassistischen Bias ihres Tipps hingewiesen werden mussten (ebd.). Theißl führt die mangelnde Sensibilisierung von Journalist*innen darauf zurück, dass in der BRD nur 8,6 % der Journalist*innen aus einem Arbeiter*innenhaushalt kommen (ebd.).
Dass es keine aktiven Fauxpas sein müssen, die für Ausschlüsse im Kulturbetrieb sorgen, zeigt Francis Seeck anhand von Theaterprogrammen der freien Theaterszene während der Corona Pandemie: „Organisiert wurden Online Symposien, Theater der Digital Natives, Try Outs. Es ging um Artikulationen und Ambivalenzen. Eine Vielzahl der Begriffe stammt aus akademischen Diskursen. An wenigen Stellen wurden die Bedeutungen erklärt oder eine weniger ausschließende Sprache verwendet“ (vgl. Seeck 2020). Die Sprache, oft auch Englisch, richte sich an Akademiker*innen – bei einer gleichzeitigen Betonung, man wolle „auch die Leute aus dem jeweiligen Bezirk (oft Arbeiter*innenbezirke) erreichen“ (ebd.). Dass die Menschen aus den jeweiligen Kiezen erreicht wurden, bezweifelt Seeck und empfiehlt als ersten Handlungsschritt, „über die eigene soziale Herkunft zu sprechen und zu verhindern, dass die Freie Szene eine geschlossene Sache für Bildungsbürger*innen bleibt“ (ebd.).
Dass weniger der Zugang zu, sondern die Abwertung durch die gesellschaftlichen Gatekeeper das eigentliche Problem ist, zeigt Kiwi Menrath in diesem Dossier. Ein theoretisches Eingeladen-Sein in kulturelle Räume sorgt noch nicht dafür, dass jede*r dieser Einladung auch folgt. Viktoria Kure-Wu und Ilona Stütz beschreiben mit Blick auf das Theater „bürgerliche Rituale“ (2021:53), die einen normierten Raum erzeugen, in dem nicht nur Verhaltens- und Bekleidungsregeln gelten, sondern auch ein Bildungskanon vorausgesetzt wird, der die auf die Bühne gebrachten Stücke für das Publikum lesbar macht. Die für klassenprivilegierte Personen unsichtbaren feinen Unterschiede sind für klassismusbetroffene Personen deutlich spürbar (vgl. auch Jan Niggemann in diesem Dossier).
Die feinen Unterschiede, Entitlement und Kollektivdiagnosen
Die „feinen Unterschiede“, die sich laut des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1982) in unbewussten, aber nicht zufälligen Neigungen, Einstellungen und Verhaltensweisen zeigen, die Individuen im Laufe ihrer Sozialisation und durch ihre Erfahrungen innerhalb eines spezifischen sozialen Umfelds entwickelt haben, prägen grundlegend die Sichtweise auf die Welt. Dieser „Habitus“ (ebd.) ist das Ergebnis eines lebenslangen Prozesses der Internalisierung sozialer Strukturen und Normen. Er beeinflusst das individuelle Verhalten, die Vorlieben, die Wahrnehmung von Situationen und die Interaktionen mit anderen Menschen. Bourdieu betont, dass der Habitus zwar individuell geprägt ist, aber auch eng mit den sozialen Positionen und Gruppenzugehörigkeiten verbunden ist, denen eine Person angehört. Somit ist der Habitus nicht nur ein persönliches Merkmal, sondern auch ein Produkt der sozialen Strukturen, in die ein Individuum eingebettet ist (ebd.).
Die feinen Unterschiede sind mit Wertigkeiten belegt. Verhaltensweisen, Lebensstile und Vorlieben dienen oft als Grundlage für Abgrenzung und Rechtfertigung von sozialen Hierarchien. Indem bestimmte Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und kulturelle Praktiken als überlegen oder erstrebenswert dargestellt werden, wird eine natürliche Hierarchie etabliert, die von den Mitgliedern der dominanten Gruppe oft nicht hinterfragt wird. Diese Hierarchien werden durch soziale und ökonomische Machtverhältnisse geprägt und aufrechterhalten.
In „A question of class“ (Eine Frage der Klasse) beobachtet Dorothy Allison (2003) diese Hierarchien ausgedrückt im Phänomen des Entitlements – dem Gefühl oder der Überzeugung einer Person, dass sie aufgrund ihrer Identität, sozialen Position oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ein Recht auf Dinge oder Privilegien hat: „Du denkst, du hast ein Recht auf Dinge, einen Platz in der Welt, und es ist so intrinsisch ein Teil von dir, dass du dir nicht vorstellen kannst, dass Menschen wie ich, Menschen, die anscheinend in deiner Welt leben, es nicht haben.“ (Allison 2003:141, Übersetzung T. A.).
Menschen, die dem dominanten Habitus nicht entsprechen wird – gut gemeint oder nicht, medial oder im privaten Gespräch – gern dazu geraten, die dominanten Umgangsformen zu lernen. Sich anzupassen, um nicht aufzufallen. Das gilt für Anpassungsanforderungen an Studierende aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse genauso wie für den Theater- oder den Museumsbesuch. Imposter Syndrom, Hochstapler Syndrom, heißt die Kollektivdiagnose – das Gefühl, jederzeit damit auffliegen zu können, an einem falschen Platz zu sein (vgl. Clance/Imes 1978). Wenn man es so beschreiben will: Das Gegenteil von Entitlement.
Das Gegenteil von Entitlement – oder – die theoretischen Staatsbürger
Hier soll nicht der Eindruck entstehen, dass es um eine Gegenüberstellung von Persönlichkeitsmerkmalen geht – es geht um Machtverhältnisse und die Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse. Es geht darum, dass die oben genannte Aktivistin weitestgehend unbehelligt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vertreten kann, dass sie ein Recht darauf hat, ihren Anspruch auf Elitensicherung als vorrangig zu begreifen, zu definieren, wer gute und schlechte Wissenschaftler*innen sind und zu bestimmen, für wen ein Abitur erstrebenswert ist. Die Aussagen sind im Grunde skandalös – aber sie sind sagbar. Sagbar im Zuge der Kampagne einer Elterninitiative, die unter Einsatz von allem denkbaren Kapital eine scheinbar demokratische Entscheidung gegen die geplante Bildungsreform erwirkte.
Aber: Ist es demokratisch, wenn bildungsbürgerliche Eliten mit massiven Netzwerken eine solche Entscheidung durchsetzen? Der Soziologe Ralf Dahrendorf überlegte schon 1965, mit Blick auf die Vererbung von Bildungsaspirationen, dass es im Zugang zu formeller Bildung auch strukturell bedingte Wissenshierarchien gibt: „Wer seine Kinder zwar auf eine höhere Schule schicken darf, aber durch den Kenntnis- und Wunschhorizont seiner sozialen Lage – als Katholik etwa oder als Arbeiter, als Dorfbewohner – gar nicht auf den Gedanken kommt, dies auch zu tun, ist ein sehr abstrakter Staatsbürger, ein Staatsbürger der Theorie aber nicht der Realität“ (vgl. Dahrendorf 1965:23).
Ich habe zu Beginn dieses Textes aufgezeigt, dass das Bildungssystem undurchlässig und klassistisch strukturiert ist. Die soziale Herkunft ist der ausschlaggebende Faktor für den Zugang zu formeller akademischer Bildung, auch wenn hier „sehr genau geschaut werden sollte, dass rassistische Ausschlüsse nicht untergeordnet oder unsichtbar gemacht werden“ (Abou 2024:15). Mit Blick auf die Hinweise von Brigitte Theißl (vgl. Dossier Klassismus und Kulturelle Bildung) lässt sich festhalten, dass auch die Berichterstattung zu der Bildungsreform wie ein Tauziehen zwischen konservativen und progressiven Bildungsbürger*innen wirkte. So scheint die Interviewerin, die mit der zitierten Aktivistin im Gespräch ist, keineswegs angetan von den Inhalten, die dort vertreten werden. Im Medienecho auf das Ergebnis des Volksentscheids titelt zum Beispiel die taz: „Debatte Bildung: Das Trauma von Hamburg“ (Lehmann 2011) und spricht vom Zittern der Parteien vor dem Bildungsbürger (ebd.). Der Tagesspiegel stellte die Frage, inwiefern diejenigen, die die Reform am meisten trifft, sich an der Abstimmung überhaupt beteiligt hätten (vgl. Hanisch 2010).
Ein Nachdenken über fehlende Einbindungen
An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wo waren die Menschen, die die fehlende Chancengleichheit im Bildungssystem betrifft? Nicht nur bei der Abstimmung, sondern auch in den Medien? Ich habe kein einziges Interview finden können, bei dem eine Familie zu Wort gekommen wäre, die von Klassismus negativ betroffen war. Waren sie „Staatsbürger der Theorie“, wie Dahrendorf (1965) es formulierte? Wie hätte eine Kampagne aussehen können, die diese Stimmen abbildet und auch mitnimmt? Wurde nur über diese Leute – oder auch mit ihnen gesprochen? Wurde ihnen Raum und eine Bühne gegeben? Wie hätte eine solidarische Kampagne, die eine Vielfalt von Stimmen abbildet, aussehen können?
Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Aber ich bin in einer Linken sozialisiert, die viele Tools entwickelt hat, um Brücken zu bauen und Dialog herzustellen. Damit meine ich nicht unbedingt stundenlange Plena, bei denen sich am Ende die mit der meisten Ausdauer durchsetzen, sondern Methoden, die darauf zielen, möglichst viele Stimmen in eine Entscheidung einzubinden. Im Nachgang lässt sich nicht sagen, ob die Einführung eines Delegiertenplenums, wie z.B. im Charette-Verfahren, bei dem alle Stadtteile und alle Statusgruppen vertreten sein müssen, in dem alle auf einen Wissensstand gebracht werden und auf Grundlage dieser Basis gemeinsam diskutieren, eine Veränderung des Ergebnisses mit sich gebracht hätte – es wurde aber erst gar nicht versucht, eine breitere Aufklärungskampagne zu starten.
Was wäre passiert, wenn Kulturschaffende aus ihren Institutionen auf die Straße und an öffentliche Plätze gegangen wären, statt darauf zu warten, dass die Leute aus dem Bezirk in ihre Institutionen kommen? Theatermethoden wie das Theater der Unterdrückten eingesetzt hätten – oder ein offenes Mikrofon zur Verfügung gestellt hätten? Letzteres ist tricky – denn es darf nicht dazu kommen, dass Menschen hier wieder bloßgestellt werden, ich habe sie in Protesten in Großbritannien aber als sehr empowernd und wertschätzend erlebt. Dort erzählten Menschen, was politische Verhältnisse in ihren Leben anrichten. Sie bekamen genau so viel Applaus wie eingeladene Theoretiker*innen.
Das mag banal wirken, ist aber grundlegend wichtig. So schreiben zwei Aktivist*innen der Solidarischen Aktion Neukölln: „Solidarität heißt für uns: Wir fangen im Kleinen an, und zwar in unserem eigenen Alltag. Wir erlauben uns, andere Erfahrungen zu machen: uns wehren zu können, nicht alles hinnehmen zu müssen, tatsächlich nicht allein zu sein. Wir machen zusammen die Erfahrung, dass nicht wir uns schämen müssen. Wenn möglich, tragen wir die negativen Gefühle zurück zu denen, die dafür verantwortlich sind. Solidarität und Handlungsfähigkeiten kann man üben und erlernen“ (Zwei Aktivist*innen der Solidarischen Aktion Neukölln 2020:78).
Auch eine sensible Darstellung in den Medien kann nicht nur Repräsentation fördern, sondern zu Beteiligung einladen. Wenn eine Journalistin im Fernsehen einer Aktivistin Sendezeit gibt und ihr die unverschämtesten Kommentare über die Schlachtermeister und die Frisöre entlockt (s.o.), kann sich ein linkes bildungsbürgerliches Publikum darüber vielleicht amüsieren, sich abgrenzen und sich gegenseitig versichern, dass man selber nicht so ist – wenn ich aber der Frisör bin, dann sind diese herabsetzenden Aussagen keine Einladung zum Dialog, sondern zum Ausschalten. Es gibt wenig gute Beispiele für Medien, die klassismussensibel gestaltet sind. Zu oft schwanken die Formate zwischen Paternalismus, Leerstellen – wie denen von funk – oder offenen Vorurteilen und Machtausübung – wie das Einbringen einer Bezahlkarte in eine eh schon scharf geführte Debatte um Aktivierung, gute vs. schlechte Erwerbslose und das gegeneinander Ausspielen von Rassismus und Klassismus.
Hamburg ist ein verhältnismäßig kleines, wenn auch plakatives Beispiel dafür, wie Klassismus für Meinungsmache eingesetzt werden kann, ohne dass es sanktioniert oder wenigstens tabuisiert würde. Es gibt offenbar keine Grenzen dessen, was armutsbetroffenen Menschen zugeschrieben werden kann. Widerspruch ist leise, nicht vorhanden oder wird mangels Lobby nicht gehört. Seit 2010 haben sich die Verhältnisse nicht verbessert. Im Gegenteil.
Raus aus der Dystopie – engagiert Euch!
Mit der 2023/24 auf allen medialen Kanälen aufgegriffenen Debatte, ob sich Arbeit mit der Einführung des Bürgergeldes noch lohne; der von den Parteien AfD und Der Dritte Weg lancierten Debatte um Re-Migration; den regelmäßigen verbalen und physischen Angriffen auf queere Menschen – Marginalisierte leben bereits in einer schwer auszuhaltenden Dystopie, die nur ein kleines Schlaglicht auf das wirft, was uns als Gesellschaft bevorsteht, wenn nicht jetzt etwas getan wird.
Wer bei der aktuellen Fülle an Themen nicht weiß, wo anzufangen ist: Egal! Macht irgendwas. Geht auf die Straße, diskutiert mit Euren Nachbar*innen, informiert Euch, was gebraucht wird, streitet Euch, geht in Widerspruch. Denkt nicht, dass die nächste Allmachtsfantasie nicht auch Euch treffen wird. Kulturelle Bildung findet nicht nur in bürgerlichen Institutionen statt. Wir können sie auch als alltägliche oder soziale Praxis verstehen. Als einen Versuch, eine Bildung zu kultivieren, die auf das Erlernen von solidarischen Praktiken und Handlungsfähigkeit ausgerichtet ist und gegen Abwertungs- und Ausschlusspraktiken wirkt, die die feinen Unterschiede dekonstruiert und Räume öffnet, in dem Anpassungsbewegungen nicht einseitig geleistet werden müssen.
Wir brauchen eine Gesellschaft, in der dem Schüren von Ängsten gegen marginalisierte Personen Widerspruch entgegengesetzt wird. Und in der vor allem aktiv und basisdemokratisch daran gearbeitet wird, dass Marginalisierungen einen Handlungsbedarf für strukturelle Veränderungen aufzeigen.
Comics können in der Wissenschaftskommunikation genutzt werden, um „Text und Bild als Geschichte“ (Schrögel 2016:55) zu verbinden. Zudem können künstlerische Arbeiten in der Wissenschaft als Verlangsamung eines Schreib- und Auseinandersetzungsprozesses gesehen werden, der sich normativer, kapitalistischer Produktivitätsanforderungen entgegen stellt (vgl. Mitchell 2018:147) und sich einer bürgerlichen Lesart von Comics als unseriöser Literatur (vgl. Grünewald 2024) verweigert. Aus antiklassistischer Perspektive wird durch die Übersetzung von Gedanken und Lesarten in Comics nicht nur bürgerlichen Normvorstellungen widersprochen, sondern eine Möglichkeit geschaffen, ein breiteres Publikum zu erreichen und Wissenschaft zugänglich zu machen.