Vertrauen, Erfolg und Partizipation – Die Bedeutung von inklusiven Musikgruppen für Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen
Einleitung
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2006) fordert von den Unterzeichnerstaaten im Artikel 3 „Respekt vor der Unterschiedlichkeit und Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen als Teil der menschlichen Vielfalt und des Menschseins“. Durch die Einführung der Inklusion in der Schule, also der gemeinsamen Beschulung aller Schülerinnen und Schüler in der Primar- und Sekundarstufe, müssen sich die Schulen auf eine Vielfalt an Wünschen und Ideen einrichten. In diesem Prozess öffnen sich auch Schulband, Orchester oder Chor einer Schule einer neuen Schülerschaft, die wie viele Jugendliche ein großes Interesse an Musik und teilweise auch am aktiven Musizieren zeigt. Die Ensembleleitung steht daher vor einer gewaltigen Herausforderung, wenn sie mit der inklusiven Arbeit beginnt und ihr die Einschätzung der neuen Teilnehmenden möglicherweise schwerfällt. Die neuen MusikerInnen sind Jugendliche mit individuellen Biografien, aber mit einer Gemeinsamkeit: Sie gelten in ihrem Schulalltag als `lernbeeinträchtigt´, d.h. sie erscheinen in der Schule „in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt (…), dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können“ (Senator für Bildung und Wissenschaft Bremen 2002:5).
Die Studie Gemeinsam zur Musik (Köllmann 2017) ist aus der Idee heraus entstanden, die Erfahrungen von Jugendlichen, die bereits an inklusiven Musikgruppen teilnehmen, zu nutzen und für musikalische Angebote an Inklusionsschulen nutzbar zu machen. Damit bezieht sich die Studie auf die Inklusion von SchülerInnen mit Lernbeeinträchtigungen, um ihnen „ihre potenziell gleichberechtigten Zugänge zu künstlerischen Bildungsprozessen bzw. ihre Teilhabe an kulturellen, künstlerischen Projekten“ zu öffnen (Krebber-Steinberger "Inklusion braucht einen Perspektivwechsel").
Die musikalische Ensemblearbeit in heterogenen Gruppen wird bereits in Projekten der Primar- und Sekundarstufe wie Bläser-, Streicher- und Chorklassen und dem JeKi-Projekt („Jedem Kind sein Instrument“) (vgl. Bonsen et al. 2015) erfolgreich durchgeführt. Auch der Verband deutscher Musikschulen (VdM) verpflichtet sich zur Inklusion von allen musikinteressierten Kindern bis hin zum berufsbegleitenden Lehrgang Instrumentalspiel für Menschen mit Behinderung an Musikschulen (BLIMBLAM; vgl. Wagner 2016). Forschungen im Rahmen der Jugendsozialarbeit (vgl. Hill 2002) lassen auf vielfältige Einflussmöglichkeiten des aktiven Musizierens auf die Gruppenmitglieder hinsichtlich emotionaler und sozialer Werte schließen. Das Projekt Hauptsache, es groovt (Krebber-Steinberger 2014) untersucht Musikgruppen, deren Mitglieder „mit geistigen Beeinträchtigungen“ (ebd.:10) in ihrer Freizeit musikalisch aktiv sind. Nach der Befragung von Musikerinnen und Musikern und deren Ensembleleitungen kommt die Projektgruppe zu dem Schluss, dass „Verwirklichungschancen inklusiver Teilhabe an der (Musik-) Kultur unserer Gesellschaft als Hörer oder Produzenten abhängen von ressourcenorientierter Musikvermittlung, die die Heterogenität und Vielfalt der Gruppen berücksichtigt“ (ebd.:12). Weitgehend unerforscht ist jedoch, mit welchen Vorstellungen und Erwartungen Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen an eine Ensemblearbeit herangehen. Auf welche Bedürfnisse muss sich die Ensembleleitung einstellen, um ein musikalisches Angebot machen zu können, das alle Musizierenden auf ihre Weise anspricht?
Theoretische Grundlagen der Studie Gemeinsam zur Musik
Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen als Sonderpädagogin und Musiklehrerin an Förderschulen konnte ich mein Forschungsvorhaben an der Universität Hannover bei Prof. Dr. Rolf Werning am Institut für Sonderpädagogik durchführen, in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln (Prof. Dr. Jürgen Terhag). Mein Forschungsinteresse galt jugendlichen Musikerinnen und Musikern mit Lernbeeinträchtigungen und insbesondere deren Teilnahme an inklusiven Musikgruppen an ihren Schulen. Damit verbunden war die Hoffnung, die Erlebnisse der bereits musikalisch aktiven Jugendlichen bei der Durchführung von inklusiven Musikgruppen in schulischen Zusammenhängen nutzen zu können. Zur Zielbestimmung der Studie diente der Hinweis des Kulturpsychologen Ernst Eduard Boesch in seiner symbolischen Handlungstheorie (1980) auf die Zweidimensionalität des Erlebens: Zur Rekonstruktion der Bedeutung von Handlungen sei sowohl ein äußeres Erleben der Handlungseffekte als auch ein inneres Erleben zu beachten, das verbunden mit den Erinnerungen zu Bedeutungsnetzen verwoben sei (vgl. Boesch 1992:86). Boesch verdeutlicht diese Erkenntnis am Instrumentalspiel: „Das Instrument zu erlernen, ist zwar ein scheinbar begrenztes Ziel, doch Ziele sind polyvalent, eingebettet in Netze koordinierter Handlungen, Gedanken, Werte und Regeln.“ (Boesch 1998:212). Die konkreten Intentionen, ein bestimmtes Musikstück spielen zu wollen oder sich eine Spieltechnik anzueignen, gehören demnach nur zu den begrenzten Zielen des Instrumentalspiels. Hinzu kommen verschiedene Valenzen, zum Beispiel auf dem Instrument Berühmtheit zu erlangen oder mit dem Spiel den Freundeskreis zu beeindrucken. Diese Polyvalenz ist die Voraussetzung für die Bedeutung von Handlungen, da sie, „as a ‚pointing at‘ quality“ (Boesch 1997:425), auf etwas hinweist, das nicht direkt in den beobachtbaren Operationen zu finden ist. Boeschs symbolische Handlungstheorie baut also auf dem Grundsatz auf:
Handlungen können Bedeutungsgehalte besitzen, die keineswegs nur mit den vordergründigen, kurzfristigen und offenkundigen Zielsetzungen zu tun haben. Handlungen sind „überdeterminierte“, vielschichtige symbolische Konstrukte. (Straub 1999:112)
Auf dieser Grundlage wurde in dieser Studie versucht, mögliche Bedeutungsgehalte des gemeinsamen Musikmachens für die Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen zu rekonstruieren.
Durchführung und Auswertung der Interviews im Rahmen der Studie
Die Suche nach der Bedeutung der Musikgruppe führt, nach Boesch, über das innere Erleben (s.o.) der Teilnehmenden. So erschien eine Interviewstudie geeignet, im persönlichen Kontakt mit Jugendlichen über Erfahrungen, Beurteilungen und Erwartungen in ihren Ensembles zu sprechen. Zur Erfassung eines möglichst kontrastreichen Materials wurde eine Stichprobe aus zehn Musikerinnen und Musikern zusammengestellt, die sich hinsichtlich ihres Instruments, der Schulzugehörigkeit und der Art der Musikgruppen unterschieden: (Die Namen wurden zur Anonymisierung geändert.)
- Finn (16 J., Altsaxofon), Sophie (16 J., Posaune): Bigband einer Gesamtschule
- Daniel (16 J., Gesang), Maja (15 J., Gesang): Schulband einer Förderschule Lernen
- Wolfgang (16 J., Cello), Wiebke (15 J., Gitarre), William (18 J., Altflöte): Schulorchester einer integrativen Waldorfschule
- Konstantin (14 J., Melodica), Kim (14 J., Gesang): Band einer Schule für Körperbehinderte
- Simon (15 J., Trommel): Spielergarde (Inklusionsschüler einer Gemeinschaftsschule)
Die Fragen zum Musikhören und -machen wurden gemäß der Vorgaben des episodischen Interviews (vgl. Flick 2005) ausgewählt, um den Interviewten möglichst viele Gelegenheiten für Erklärungen und Erzählungen zu geben. Die Auswertung der Interviews erfolgte in zwei Phasen: Zur Reduzierung und Kategorisierung des umfangreichen Materials wurde die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2000) angewendet. Der nachfolgende Fallvergleich im Rahmen der empirisch begründeten Typenbildung (vgl. Barton &Lazersfeld in Kluge 1999) ergab eine Gruppierung der Fälle in vier Motivationstypen mit jeweils einem Leitwert und mehreren übergeordneten Zielen (vgl. Köllmann 2017:192ff.) zum Umgang mit Musik:
- Typus A: Geborgenheit
Sophie, Wiebke, Finn suchen in ihren Musikgruppen Verbundenheit und Verlässlichkeit, um in Geborgenheit Musik zu machen.
- Typus B: Spaß
William, Konstantin, Daniel, Kim schätzen die Leichtigkeit beim Spielen und Singen sowie die Geselligkeit und Anregung in ihren Musikgruppen, denn sie wollen dort Spaß haben.
- Typus C: Akzeptanz
Wolfgang und Simon wollen mit ihrer Hingabe ans Spiel Bestätigung erlangen und ihr Ansehen erhöhen, denn sie suchen Akzeptanz bei Gleichaltrigen.
- Typus D: Stärke
Maja nutzt Musik, um ihren Willen zur Emanzipation zu zeigen und will Einfluss auf die Musikgruppe nehmen, denn Musik gibt ihr Stärke zu sagen: „Ich bin so, wie ich bin.“
Den vier Motivationstypen konnten unterschiedliche Intentionen zur Teilnahme an den Musikgruppen zugeordnet werden, denn viele kurz- und langfristige Handlungsziele sind den Jugendlichen wichtig. Obwohl die erkennbare Polyvalenz aus verschiedenen objektiv-instrumentellen und subjektiv funktionalen Komponenten (vgl. Boesch 1991:48) besteht, weisen diese im Vergleich auf drei dahinter liegende Bedeutungsgehalte hin: Für die befragten Musikerinnen und Musikern bedeutet ihre Musikgruppe das Erleben von Vertrauen, Erfolg und Partizipation.
Die Musikgruppe bedeutet Vertrauen
Die Auswertungen der Interviews zeigen, dass sich in allen Musikgruppen ein Verhältnis auf gegenseitigem Vertrauen entwickeln konnte: Die Teilnehmenden vertrauen auf die Unterstützung der Ensembleleitung, die sich wiederum auch auf die Gruppe verlassen kann. Sie muss nicht ausdrücklich das Spiel loben, sondern die MusikerInnen vermuten, dass die Ensembleleitung ihren Einsatz schätzt. Nach der Definition von Margit E. Oswald vertrauen alle Probanden auf eine gelingende musikalische Arbeit, obwohl sie ihre eigene Kontrolle zeitweise anderen überlassen müssen: „Vertrauen ist die Erwartung einer Person, dass es in einer Situation auch ohne die vollständige Kontrolle möglicher negativer oder opportunistischer Verhaltensweisen zu einem gewünschten positiven Ausgang kommt.“ (Oswald 2006:711) Die Dimensionen von Vertrauen in der Musikgruppe unterscheiden sich aber je nach Motivationstyp. Dies wird im Folgenden mit Beispielen erläutert.
- Sicherheit
Sophie, Wiebke und Finn (Typus A) vertrauen auf eine zuverlässige Unterstützung durch die Lehrpersonen und das Wohlwollen der Gruppe. Das verspricht ihnen eine Sicherheit, die ihnen die Teilnahme erleichtert. So hat Wiebke keine Angst vor Fehlern, die andere hören und die dann zu negativen Konsequenzen führen können, sondern sie berichtet: Dann „üben wir halt weiter (…). Das war eigentlich noch nie so richtig schlimm.“ Und Finn vertraut darauf, dass ihm in der Bandprobe die Rhythmik erklärt wird, da er sich damit beim Üben überfordert fühlt. „Der Lehrer sagt dann halt immer: ‚Ihr sollt erstmal die Töne üben und dann machen wir den Rest in der Stunde.‘“
- Sorglosigkeit
Kim (Typus B) hat aufgrund positiver Erfahrungen Vertrauen entwickelt; und so ist er bereit, mangelnde Kontrollmöglichkeiten an vertrauenswürdige Personen abzugeben. Um seine Ziele zu erreichen, überträgt er die eigene Verantwortung auf eine sekundäre Kontrolle. „Durch Vertrauen wird der Interaktionspartner zum ‚Werkzeug‘, mit dessen Hilfe das gewünschte Interaktionsziel erreicht wird.“ (Koller 1997:22) Kim macht sich keine Sorgen, wenn er ein Problem nicht aus eigener Kraft meistern kann, denn er meint: „Dann hol ich mir Unterstützung.“ Er weiß sogar, dass er seine Ziele nicht allein und ohne „Unterstützung“ von Gleichgesinnten, erreichen kann.
Auch William macht sich keine Sorgen, denn er weiß: „Wenn ich ‘ne Schwierigkeit hab mit den Notenwerten oder so, (…) dann frag ich halt nach.“ Ähnliche Erfahrungen von Unterstützung wird auch Konstantin gemacht haben, denn er fühlt sich in der Musikgruppe gut „aufgehoben“. An der Schulband sei es „das Gute, dass man sicher ist“. So drückt er seine Sorglosigkeit aus, jederzeit die Hilfe zu erhalten, die er für seine Teilnahme braucht. Die Sänger Daniel und Kim meinen, sie bräuchten keine Noten; sie verlassen sich auf die Begleitband, die Kim die Gesangsmelodie und Daniel den Takt angibt. Demnach wird es für Daniel „eigentlich ganz leicht: Man achtet entweder auf den Bassisten oder auf den Schlagzeuger.“
- Loyalität
Wolfgang (Typus C) zeigt seinen Mitspielern, dass sie sich auf ihn verlassen können. Obwohl er das Ziel hat, möglichst viele Soloparts zu spielen, überlässt er auch gern seinen Mitspielern die Melodiestimme. Um kein „Streberverhalten“ zu zeigen, spielt er dann bewusst nur die Grundtöne; „der andere“ – anscheinend meint er seinen eigenen Ehrgeiz – tritt für einen Moment in den Hintergrund. Selbst vertrauenswürdig zu sein, heißt für Wolfgang, großzügig zu sein und sich zurückzunehmen, um anderen den Vortritt zu lassen. Er spielt „mal lieber die unteren Töne“ und „überlässt“ dem anderen „für den (…) Moment die Bühne.“
Auch Simon ist bereit, als Vertrauensperson zu wirken und kurzfristig eine neue Stimme zu übernehmen. Wenn er darum gebeten werde, „kann man das noch schnell mal kurz zu Hause proben und dann geht`s ans Ganze“, meint er. Für ihn ist es selbstverständlich, dass er seine Erfahrungen an die neuen Spieler weitergibt, auch wenn diese dann besser spielen als er. Zum Wohl der Gruppe weiß er, „dass ich denen noch einmal was beibringen werde, oder schon beigebracht habe, und dass die dann halt auch irgendwann so gut oder besser werden als ich“.
- Kontrolle
In Majas (Typus D) Äußerungen zeigt sich, dass sie Schwierigkeiten hat, in bestimmten Situationen die Kontrolle an den Bandleiter abzugeben. Ihr wäre es lieber, wenn von ihm ihre eigene „Meinung auch respektiert wird“. Daher kritisiert sie, dass ihre Ideen zu Arrangements und ihre Repertoirevorschläge nicht umgesetzt werden. Auf die Frage, was der Bandleiter über sie denken würde, überlegt sie elf Sekunden, bis sie antwortet, „… dass ich gar nich so schlecht bin“. Das deutet auf ein ambivalentes Verhältnis zum Bandleiter hin: Auf der einen Seite fühlt sie sich in der Lage, unterschiedliche Musikgenres zu singen. Sie meint: „Ich sing total gerne Balladen. Herr K. sagt immer, meine Stimme ist dafür viel zu rauchig, viel zu rau.“ Auf der anderen Seite erlebt sie, dass der Bandleiter ihre Fähigkeiten infrage stellt und zu wenig Vertrauen in sie setzt.
Die Bedeutung von Erfolg
Nach Axel Honneth ist es für Spieler wie Simon und Wolfgang sehr wichtig, in der Musikgruppe immer bessere „Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als «wertvoll» anerkannt werden“ (Honneth 1994:209). Aufgrund der besonderen Leistungen auf der Bühne muss der einzelne Musiker seine musikalischen Erfolge „nicht länger einem ganzen Kollektiv zurechnen, sondern kann sie positiv auf sich selber zurückbeziehen“ (ebd.:209). Für diese Fälle konstruiert Honneth den Begriff der Selbstschätzung, eine „Art der praktischen Selbstbeziehung, für die umgangssprachlich der Ausdruck ‚Selbstwertgefühl‘ vorherrscht“ (ebd.:209). Im Unterschied zur Selbstachtung, die auf rechtlicher Anerkennung beruhe, und dem Selbstvertrauen aufgrund emotionaler Zuwendung, gehe in der Selbstschätzung „mit der Erfahrung sozialer Wertschätzung ein gefühlsmäßiges Vertrauen“ einher. Erfolg beim Musikmachen bedeutet also, eine Leistung zu erbringen, die für das Publikum, die Musikgruppe, Familie und die jeweilige Peergroup einen herausragenden Wert besitzt. Sind in diesem Sinne alle Probanden in der Lage, solche Leistungen auf ihrem Instrument zu zeigen und dafür bewundert zu werden?
- Verbesserung
Erfolg in der Spielergarde heißt für Simon (Typus C), als erfahrener Trommler für die Gruppe „selbst immer wichtiger“ zu werden und erkennbare Bestätigungen für seine Leistungen zu erhalten. Nachdem er im Einzelunterricht die instrumentalen Grundlagen erlernt hatte, durfte er an einer Musikgruppe teilnehmen. Den zweijährigen Lehrgang dort hat Simon erfolgreich abgeschlossen und dafür den „goldenen Notenschlüssel“ bekommen. Gute Bewertungen seiner Spielergarde erfüllen ihn mit Stolz, besonders bei internationalen Erfolgen. Mehrmals spricht Simon davon, so intensiv üben zu wollen, um neue Spieltechniken „hinzukriegen“. Um alles „endgültig richtig“ zu machen, verspüre er „den Druck, das denn so lange zu proben“ bis er es schafft, denn seine eigenen Ansprüche steigen mit den Erfolgen.
Wolfgang misst im Schulorchester seinen Erfolg an dem, was ihm der Dirigent auf dem Cello zutraut. Er berichtet stolz, dass er anfangs nur auf leeren Saiten spielen sollte, in der zweiten Stunde wären schon gegriffene Töne dabei: „Ich glaub, nach acht Wochen oder so oder nach `nem Vierteljahr kam dann auch die erste Stimme. Also, das allererste Notenblatt, und jetzt (…) krieg ich nur noch Notenblätter. Is wirklich so.“ Nun spielt er nicht nur die Begleitstimme, sondern darf auch die Melodiestimme und Soloparts übernehmen. So bewertet Wolfgang seine Teilnahme als „erfolgreich“, weil er inzwischen „unverzichtbar“ für das Ensemble sei.
- Würdigung
Der Begriff des Erfolgs kann nicht nur mit dem hörbaren Output (vgl. Voswinkel 2009) an Leistung erklärt werden. Der Wirtschaftssoziologe Stephan Voswinkel geht weiter und schließt aus seinen Beobachtungen in Unternehmen, dass zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe auch die Anerkennung des Inputs gehöre. Zur Bewunderung von „herausragenden Leistungen und Erfolgen“, einer „vertikalen Form der Wertschätzung“, tritt die Würdigung als horizontale Form der Anerkennung hinzu, die „ähnlich der Dankbarkeit den Beiträgen der Akteure füreinander und für gemeinsame Ziele gilt“ (Voswinkel 2011:48). Erfolg in der Band zu haben, heißt demnach für Sophie (Typus A), ihre Stimme in der Probe spielen zu können. Sie meint, wenn sie ein Musikstück „gut kann“, sei sie „einfach froh“. Auch Wiebke weiß, wie wichtig sie für das Orchester ist, denn sie konstatiert: „Ich bin ja die einzige Gitarre.“ Auf Wunsch des Orchesterleiters fühlt sie sich für die harmonische Grundlage zuständig, denn „Harmonien bräuchten die halt“. So ist sie mit ihrer Rolle an der Begleitgitarre „voll zufrieden“.
- Selbstpräsentation
Die Schulband bietet für Maja (Typus D) eine geeignete Möglichkeit zur sozialen Selbstpräsentation (Fend 2003:382). Sie scheint eine wichtige Etappe auf dem Weg zu ihrem Lebensziel zu sein. Die „über dreißig Auftritte mit der Schulband“ bedeuten ihr sehr viel, denn dort fühlt sie sich ihrem Ziel ein Stück näher, Sängerin zu werden. Als Frontsängerin bekommt sie soziale Aufmerksamkeit und nutzt die Bühne als Ausdrucksmittel: „Also die Musik, die drückt meine Gefühle aus und mit der kann ich zeigen, wer ich bin.“ Auftrittsmöglichkeiten sucht sie sich auch selbst; sie sei „immer am Gucken“, ob „die da jemanden brauchen, der ihnen ein Liedchen trällert“.
- Leichtigkeit
Daniel (Typus B) spricht mehrmals von der Leichtigkeit des Singens; es gefällt ihm, dass der Gesang wie „automatisch“ kommt. Auch Texte könne er sich schnell merken. Sobald er ein Lied „halt mehrmals täglich“ anhört, kann er „die Hälfte des Textes irgendwann und dann kommt`s automatisch eigentlich.“ Er hat besonderen „Spaß mit den Leuten“, wenn er beim Proben merkt, „der kann das schon gut.“. Das heißt für die Band, dass neue Stücke schnell einstudiert werden können. Auch Kim merkt, wie leicht ihm das Singen in seiner Schulband fällt. Er richtet seine Stimme nach den Melodieinstrumenten, daher muss er sich die Melodie nicht merken: „Die andern spiel`n ja die Melodie (…). Ich brauch die Melodie nich, ich hab ja den Text.“ Konstantin fällt das Melodicaspiel so leicht, dass er, statt in der Schule für die Band zu üben, mit einem Freund zusammen Schlagzeug spielt. Und dennoch merkt er dann beim Proben: Musikmachen mit anderen ist einfach „cool“. William vermutet, dass sein Bandleiter zufrieden mit ihm ist, obwohl er für das „Orchester mal fünf Minuten“ Flöte spielt. Erfolg heißt für ihn, ohne Mühe neue Stücke „fast perfekt spielen“ zu können.
Die Bedeutung von Partizipation
Der Diplom-Theologe und Erziehungswissenschaftler Josef Fellsches unterscheidet zwei Arten von Partizipation: Die bestimmende Teilhabe als der „schöpferische Aspekt, die aktive Seite“ der Partizipation und die bestimmte Teilnahme, in der „die Beteiligten das, was die Situation bestimmt, bereits übernehmen, bestenfalls in engen Spielräumen interpretieren und modifizieren können (dürfen)“ (Fellsches 1981:64). Tatsächlich finden sich in den Aussagen der Jugendlichen Vorstellungen von beiden Teilhabeformen: Typus B, C und D bevorzugen Formen der bestimmenden Teilhabe; sie erwarten, „an der Hervorbringung der gesamten Situation bestimmend beteiligt“ (ebd.:64) zu sein. Sie wollen ihr Instrument selbst bestimmen, machen Repertoirevorschläge oder suchen nach Wegen, ihre Klangvorstellungen in der Musikgruppe umzusetzen. Die Musikerinnen und Musiker vom Typus A (Geborgenheit) sind dagegen eher „Vollziehende, Ausführende“, die von den „festgelegten Teilnahmebedingungen“ (ebd.:65) profitieren. Diese geben ihnen „die soziale Identität, die jedem einem Typ annähert, der ihn identifizierbar macht. Dies erleichtert die soziale Orientierung.“ (ebd.:66)
- Miterleben
Wiebke (Typus A) hat zwar eigene Liedwünsche, aber die äußert sie „nicht so oft, weil die Lieder, die sind meistens toll“. Sie ist auch mit der Vorbereitung auf die Vorspiele einverstanden und überlässt die Planung dem Orchesterleiter. „Wenn wir jetzt ‘n paar Wochen vor ‘nem Auftritt sind, dann üben wir auch halt immer die Lieder, die wir aufführen.“ Obwohl Finn die Möglichkeit hat, Liedvorschläge zu machen, hat er noch keinen Wunsch geäußert, denn er meint: „Bis jetzt, was wir spielen, find ich gut.“ Auch Sophie äußert keine eigenen Ideen zur Gestaltung der Probenarbeit, möchte aber bei Auftritten dabei sein, denn sie „mag das gerne“.
- Ausprobieren
Die Teilhabe an der Planung heißt für Kim (Typus B), das Repertoire mitbestimmen zu können. Aus seiner Lieblingsmusik wählt er Lieder aus, die für die Band geeignet wären und die er gerne singen würde. „Ich hab auch Musikvorschläge gemacht. Das war jetzt zum Beispiel das Matrosenlied (…). Das hab ich vorgeschlagen und das üben wir jetzt auch grad in der Schülerband.“ So deckt sich sein Musikgeschmack mit dem Bandrepertoire, das er „ganz okay“ findet.
William (Typus B) fordert ein, an der Instrumentenwahl beteiligt zu werden, denn er hält an seinem Wunsch fest, die Altflöte durch ein anderes Instrument zu ersetzen. Er möchte in seinem Schulorchester „was ganz Neues mal ausprobieren, das mal den Klang des ganzen Orchesters neu macht“. Auch Konstantin ist unzufrieden mit seinem Einsatz in der Schulband und freut sich darauf, von Melodica auf Akkordeon umsteigen zu können. Er hat in der Schulband auch die Möglichkeit, Solostellen auf der Melodica zu improvisieren und probiert aus, welche Töne zu den Harmonien des Stückes passen: „Ich (…) hab irgendwann manchmal was gespielt, und dann hat Herr H. gesagt: ‚Das klingt cool! Du darfst diese Tasten nehmen und irgendwas spiel`n, was du willst.‘“
- Verpflichtung
Simon (Typus C) nimmt fast täglich an Proben der Spielergarde teil, denn es finden wöchentlich Registerproben, Trommlerproben, Marschproben und Gesamtproben statt. Außerdem hört er sich in seinem Zimmer die Originalstücke auf CD an und spielt seine Stimme mit, denn er meint: „Das übt auch, neue Stücke zu lernen.“ Simon hält sich bei seinen Soli eng an den Notentext und die zusätzlichen Spielanweisungen; die Freiheit, spontan seine Stimme zu verändern und zu improvisieren, hat er in der Spielergarde anscheinend nicht.
Wolfgang fühlt sich dem Orchester verpflichtet, seine Beeinträchtigung zu kompensieren, denn er erklärt: „Ich hab`n Problem damit Sachen, Noten abzulesen. Ich hab`n Rechenfehler im Gehirn seit Baby an, und deshalb lern ich fast bis zur Hälfte auswendig.“ Bevor er ein neues Stück erarbeitet, trainiere er zuerst sein Gehör: „Ich hör immer so Musik (…) bevor ich spiel, damit ich mein Auswendiglernen (ein) bisschen trainiere.“ Dann spielt er mit der Originalaufnahme, um seine Stimme herauszuhören. „Ja, das muss ich mir auswendig anhören und dann versuchen, mithilfe meines guten Gehörs halt umzusetzen.“
- Engagement
Für Maja bedeutet Partizipation an der Bandarbeit das gemeinsame Jammen, um zu ihrem Text geeignete „Melodiefragmente, Akkordfolgen, Riffs, Sounds und so weiter zu finden“ (Kleinen 2003:35). Sie berichtet von einer Probe, in der sie einen eigenen Text der Band vortrug und zusammen mit ihren MitspielerInnen vertonen wollte. Sie musste aber enttäuscht feststellen: „Da sind wir irgendwie von abgekommen.“ Während des Übens fordert sie alle SängerInnen zu mehr Engagement auf, denn sie sei „diejenige, die anfängt zu tanzen, wenn`n cooles Lied läuft“, und meint, ihre Mitspieler stellen fest, „dass ich sehr viel Stimmung reinbringe“.
Für Boesch erklärt die Polyvalenz der Musikgruppe ihre Bedeutungen für die Teilnehmenden; sie weisen über den aktuellen Zweck der Handlungen hinaus. Deshalb wurde, nachdem die typischen Motivationen zum Musikhören und Musikmachen rekonstruiert waren, nach den verschiedenen Intentionen zur Teilnahme an der Musikgruppe gefragt: Was ist den Probanden wichtig am gemeinsamen Musikmachen? Welcher latente Sinn könnte hinter den Intentionen stehen? Bei dem Vergleich der vier Motivationstypen in Bezug auf die Intentionen an den Musikgruppen wurden gemeinsame subjektive Bedeutungen erkennbar, die sich jedoch in ihren Qualitäten je nach Motivationstyp unterscheiden. Eine Bedeutungsstruktur der Musikgruppen (vgl. Köllmann 2017:225) veranschaulicht die einzelnen Ausprägungen und soll als Beobachtungshilfe für die Ensembleleitungen dienen.
Konsequenzen für die Ensemblearbeit
Erfolg in der Musikgruppe heißt für die befragten Jugendlichen Bewunderung und Würdigung ihrer Leistungen durch andere, die willkommene Selbstpräsentation vor großem Publikum oder das Staunen über die Leichtigkeit des Musikmachens (Typus B). Aber auch bei den Letztgenannten bedeutet Erfolg der Stolz auf den eigenen Beitrag, d.h. auf die Leistungen, „die sie ihrer Anstrengung und Fähigkeit zuschreiben“ (Schwarzer/Jerusalem 2002:42). Beispielsweise schätzt Finn die Erfahrung, mit seinem Instrument viele bekannte Lieder „selber“ spielen zu können. Das Spielen mache ihm besonderen Spaß, „wenn du das Lied gut findest und das dann auf`m Saxofon spielen kannst“. William weiß beim Flöten mit Fehlern umzugehen, denn er sagt sich: „Bin ich halt rausgekommen, probier ich wieder selber reinzukommen.“ Und Daniel schätzt zwar, „mit denen rumzualbern in der Band“, für ihn gehört zur Bandarbeit aber auch, „mit denen Lieder selber zu schreiben–vor allen Dingen“.
Beim Musikmachen erleben die MusikerInnen, dass sie „neue oder schwierige Aufgaben durch eigene Kompetenzen bewältigen können“ (Jerusalem 2002:10)–so entwickelt sich Stück für Stück eine individuelle bereichsspezifische Selbstwirksamkeitserwartung (Schwarzer/Jerusalem 2002:40). Vor erneuten Herausforderungen überprüft die Person die eigene Kompetenzerwartung (efficacy expectations) und die situativen Erfolgsaussichten oder Konsequenzerwartung (outcome expectations) (vgl. Bandura 1999:3ff.): Hohe Erfolgsaussichten wirken auch bei geringer Kompetenzerwartung motivierend; bei unsicheren und ängstlichen Personen und geringer Kompetenzerwartung können sie jedoch zum Handlungsverzicht führen. Daher ist besonders bei diesen Personen darauf zu achten, „wohldosierte Erfolgserfahrungen“ (Schwarzer/Jerusalem 2002:42) durch das Setzen von Nahzielen zu vermitteln. Wie bei Wolfgang (s.o.) werden die Anforderungen Schritt für Schritt erhöht: Spiel auf leeren Saiten, gegriffene Töne, Notenblätter, Begleitstimme, Solostellen im Orchester. Durch ein Erfolgserleben bei höherer Aufgabenschwierigkeit (vgl. Heckhausen 2010:440) erkennt er seine persönliche Tüchtigkeit. Wolfgangs Erfahrungen im Orchester zeigen ihm, dass er seine Erfolge aufgrund eigener Anstrengung erreicht hat, obwohl er sich anfangs auf Grund „fehlender Konzentrationsfähigkeit nicht in der Lage sieht, effektiv zu lernen“ (ebd.:36). Die steigenden Erfolgsaussichten beeinflussen positiv seine Kompetenzerwartungen auf dem Cello, wie Wolfgang es in seinen Worten beschreibt: „Also, praktisch wie `ne Weltraumrakete, die grade Kurs auf den Mond nimmt. So is mein Aufstieg
Es wächst die „Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten (…) im Sinne einer stabilen personalen Coping-Ressource“ (Schwarzer 1993:189), wenn geeignete Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen, wie Maja am Umgang mit Lampenfieber erläutert: Sie rechnet damit, zu Beginn ihres Auftritts sehr aufgeregt zu sein, „dann rutscht einem erstmal das Herz in die Hose“, meint sie. Durch ihre große Bühnenerfahrung beruhigt sie sich aber mit dem Gedanken, dass es–wie immer–nur das „einminütige Lampenfieber“ sein wird und erwartet, „wenn man anfängt zu singen, ist aber alles wieder gut“.
Eine weitere Quelle der Selbstwirksamkeitserwartung ist die Beobachtung und Nachahmung von Modellen, die in „Alter, Geschlecht und sonstigen Attributen möglichst ähnlich sind“ (Schwarzer/Jerusalem 2002:43): Wiebke hört bei einem Auftritt ein anderes Orchester und bewundert die Trompeter: „Ah, da war ich auch schon sehr begeistert, wie die da Trompete gespielt haben, da haben die Let It Be gespielt. Boah, das klang auch schön.“ Als sie das Stück dann selbst spielt, strengt sie sich besonders an und urteilt: „Da hab ich dann gut mitgespielt, joa.“ „Peer Educators“ (ebd.:44) können sowohl eine Coaching-, wie auch Vorbildfunktion einnehmen, denn sie vermitteln eine „Glaubwürdigkeit und Echtheit bei der Abwägung von Problemlagen (…) und gezielten Vorschlägen für adäquate Problemlösungen“ (ebd.:44). Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sind also „nicht einfach Ausdruck der intellektuellen Fähigkeiten“ (ebd.:38), sondern führen „weitgehend unabhängig von den tatsächlichen Fähigkeiten der Person“ (ebd.:37) zum Erfolg, wenn Lernstrategien und Widerstandskräfte mobilisiert werden können.
Bei gleicher Fähigkeit zeichnen sich Kinder mit höherer Selbstwirksamkeit gegenüber solchen mit niedriger Selbstwirksamkeit durch ihre größere Anstrengung und Ausdauer, ein höheres Anspruchsniveau, ein effektiveres Arbeitsmanagement, (…) und selbstwertförderlichere Ursachenzuschreibungen aus. (Schwarzer/Jerusalem 2002:37f.),
So wie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit die Voraussetzung für den persönlichen Erfolg darstellt, gehört sie mit dem Einfühlungsvermögen zu den Bedingungen für die Bildung von Vertrauen. Diese und weitere Zusammenhänge werden in dem Zyklus Die Bedeutung von inklusiven Musikgruppen dargestellt und im darauf folgenden Text verdeutlicht:
Die Bedeutung von inklusiven Musikgruppen
Franz Petermann greift in seiner Psychologie des Vertrauens (2013) die Wirkung von Selbstwirksamkeitserfahrungen auf und verbindet sie in einem Stufenmodell mit der Entwicklung von Selbstvertrauen (generalisierte Selbstwirksamkeit) bis zum Vertrauen zu anderen (Petermann 2013:107). Letzteres kann nicht erreicht werden, wenn das Einfühlungsvermögen fehlt, denn „nur wenn man sich in die Rolle eines anderen uneigennützig einzudenken vermag, kann sich ein vertrauensvolles Verhalten herausbilden“ (ebd.:103ff.). Da Vertrauen mit einem Kontrollverlust (s.o.) einhergeht, „wird es durch ein differenziertes Einfühlungsvermögen erst möglich, das Risiko abzuschätzen, das man eingeht, wenn man anderen Personen vertraut.“
In den Gesprächen mit Sophie wird deutlich, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Leitung der Bigband Angst vor diesem Risiko hat. Sophie verlässt sich in ihrem Instrumentalspiel auf eine Struktur, die ihr einen überschaubaren Rahmen zusichert und sie vor Aufgaben stellt, die sie auch zuverlässig erledigen kann. Allerdings wird diese Sicherheit durch die gestiegenen Anforderungen des Bandleiters infrage gestellt. Sie sollen bis zur nächsten Woche zwei neue Musikstücke lernen; das überfordert sie und löst in ihr „Stress“ aus. Zusätzlich erscheint ihr der Bandleiter in den Proben nicht verlässlich zu sein; er zeigt der Gruppe gegenüber kein konsistentes Verhalten. Mehrmals erwähnt Sophie im Interview, er sei „so streng“ geworden, wenn sie „die Noten nicht können“. Dann werde der „Lehrer sauer“, werfe aber der Gruppe vor: „Ihr macht mir alle Stress!“ Diesen Widerspruch kann Sophie nicht nachvollziehen, denn sie meint: „Wir haben ja jetzt auch (…) zwei Noten neu bekommen, und dann sagt er, wir machen den Stress.“ Die Kritik des Bandleiters ist in ihren Augen nicht gerechtfertigt und so schenkt sie ihm nicht mehr ihr Vertrauen. Ihr mache die Band „nicht mehr so viel Spaß“ und sie übe inzwischen nur noch „`n bisschen“.
Daniel dagegen schätzt an seiner Schulband, dass er dort etwas über „Teamfähigkeit“ gelernt habe. Es bestehe inzwischen ein „Zusammenhalt“ in der Gruppe, der sich dann zeigt, wenn etwas nicht so gut läuft. Zum Beispiel hätten sie „irgendwie so `ne Phase, (…) wo ständig neue Sänger (kommen). Das hat auch irgendwann mal genervt, (…) aber irgendwie muss man damit auch klarkommen.“ Nach Daniels Erfahrung bringt der Wechsel von Musikern Unruhe in die Probenarbeit. Die Gruppe investiert Zeit, um die neuen Mitglieder einzuarbeiten und ihnen Verantwortung übertragen zu können. Daniel muss seine Rolle in der geänderten Gruppenkonstellation neu finden, muss selbst Verantwortung übernehmen und die Kontrolle über eingeübte Abläufe abgeben. Dabei lernt er, Vertrauen zu anderen aufzubauen und sich selbst als Vertrauensperson anzubieten. Daniel schätzt diese Arbeit sehr, denn „man arbeitet quasi auch an sich selber und für die Zukunft, dass man eben halt in einem Team besser klar kommt, weil`ne Band is ja quasi`n Team.“
Sophie und Daniel beschreiben in ihren Interviews einen Weg zum Vertrauensaufbau, der, nach Petermann, in drei Phasen aufgeteilt werden kann (vgl. Petermann 20013:110ff.):
- Phase 1: Herstellen einer verständnisvollen Kommunikation
- Zuwendung gezielter Aufmerksamkeit (Konzentration auf das Gegenüber)
- Erkennen von Veränderungen in Gestik, Mimik und Körperhaltung
- Interpretation der registrierten Äußerungen
- Phase 2: Abbau bedrohlicher Handlungen
- Rückmeldung über das Verhalten geben
- selbst eindeutige Signale senden
- Absprachen treffen und einhalten (Konsistenz)
- Phase 3: gezielter Aufbau von Vertrauen
- Erfolge bei wachsenden Anforderungen ermöglichen
- Hilfestellungen zur Selbstständigkeit geben
- Verantwortung übertragen
Die Durchführung der beschriebenen Interaktionen in Musikgruppen ist während des Probenablaufs möglich, denkbar sind aber auch gezielte Spiele und Übungen zum Vertrauensaufbau, wie Björn Tischler und Ruth Moroder-Tischler im Praxisbuch Musik aktiv erleben (1990) vorschlagen: Signalspiele, Dirigentenspiele, Imitationsspiele, Rundspiele, Tutti-Solo/Duo-Spiele, gruppendynamische Spiele, Reaktionsspiele in der Gruppe. Besonders Dirigentenspiele, in denen die Rollen von Leitung und MusikerInnen vertauscht werden, tragen zur Etablierung von vertrauensvollem Handeln bei:
„Man erprobt, mit einem Partner im Rollenspiel zu kooperieren und erlebt seine Lage „hautnah“, man akzeptiert die andere Sichtweise des Partners, des Weiteren legen die gesammelten Erfahrungen nahe, den Partner zu akzeptieren und nicht über die Bedürfnisse und Wünsche des Partners hinwegzugehen." (Petermann 2013:104)
Raingard Knauer und Benedikt Sturzenhecker schließen aus Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, dass Kinder erst ab dem 10. Lebensjahr fähig seien, „eine Frage sowohl vom eigenen, wie auch vom Standpunkt des anderen betrachten zu können“; dann sei es möglich, „egozentrische oder auf Eigengruppen begrenzte Perspektiven zu überschreiten und soziale und sachliche Kompromisslösungen zu entwickeln“ (Knauer/Sturzenhecker 2005:68). Offenheit für die Sichtweisen anderer und Kompromissbereitschaft müssen auch bei der Ensembleleitung vorhanden sein. Wie Burkhard Hill in seinen Beobachtungen im jamtruck (2014) beschreibt, können jugendliche MusikerInnen an der Gestaltung der Bandarbeit nur mitwirken, wenn die Entscheidungen „im Dialog zwischen Teilnehmern und Coachs entwickelt“ werden (Burkhard Hill "jamtruck").Auch Steffen Geiger stellt fest, dass die musikalischen Fachkräfte eine zentrale Rolle bei der Entscheidungssuche einnehmen, denn auch sie bräuchten eine „Offenheit hinsichtlich des Ergebnisses und des Ausgangs von Aushandlungsprozessen“; Bildungsprozesse und „bereits gemachte musikalische Erfahrungen“ (Steffen Geiger "Zur Umsetzung von Partizipatiion")der Teilnehmenden seien weitere Voraussetzungen für die Partizipation in Musikgruppen.
Die Frage nach den Partizipationsmöglichkeiten in einer Musikgruppe bleibt bis jetzt aber noch nicht geklärt. In der Studie von Michael Göllner und Anne Niessen über Ansätze von Öffnung im Musikklassenunterricht (2015) werden Teilhabemöglichkeiten erkannt. Sie beziehen sich auf die freie Wahl der Instrumentalstimmen, die Anregung von Improvisationen und die Gestaltung des Songablaufs (vgl. Göllner/Niessen 2015:15). Diese Spielräume werden aber nur in der Anfangsphase einer Probeneinheit gewährt, dann nehmen sie „wieder deutlich ab, bis sie in der Phase des Übens für den Konzerttermin am Ende des Schuljahres praktisch verschwunden sind“ (ebd.:15). Dennoch erkennt der Musiklehrer, wie gut die Öffnung angenommen und gewinnbringend genutzt wird; bezüglich der freien Stimmverteilung beobachtet er, dass „die Schüler sich klar und selbstbewusst dafür entscheiden, nicht die für sie müheloseste Option zu wählen“ (ebd.:17).
Letzteres Beispiel zeigt, dass Partizipation gerade in heterogenen Musikgruppen die Chance auf Differenzierung eröffnet: Die MusikerInnen wählen selbst aus, was zu ihnen passt und wie viel sie sich zutrauen können. Sie nehmen damit der Ensembleleitung die Arbeit ab, individuelle Lernprogramme für jedes Mitglied zu verfassen, denn dies kann in größeren Gruppen schnell zu einer Überforderung der Lehrkraft führen (vgl. Krönig 2013:61). In der Differenzierung von unten, wie sie Franz K. Krönig in seiner Veröffentlichung Populäre Musik in der kulturellen Bildung (2013:70ff.) beschreibt, trägt neben der inhaltlichen Öffnung (s.o.) auch die methodische Öffnung zur Individualisierung der musikalischen Arbeit bei. Wenn vorher schon einige Übungsformen eingeführt wurden, wie Call&Response oder die rhythmisch-metrische Arbeit im Drum Circle, „können die Kinder Übeprozesse selbst anleiten, sich selbst alleine oder wechselseitig am Instrument oder beim Improvisieren oder Komponieren weiterbringen (und) sich selbst ihren individuellen Weg zur musikalischen Bildung bahnen“ (ebd.:71).Die Jugendlichen suchen sich ihre eigenen Partizipationsformen, vom Engagement für die ganze Gruppe bis zum Miterleben von Proben und Auftritten, und machen damit selbstgewählte Selbstwirksamkeitserfahrungen. Mit diesen Erfolgserfahrungen schließt sich der Kreis und der Zyklus von Erfolg, Vertrauen und Partizipation bleibt in Bewegung.