Verkörperte Teilhabe als spezifische Teilhabemodalität in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern
Abstract
Der vorliegende Artikel versteht sich als Beitrag zur Teilhabedebatte in der Kulturellen Bildung. Künstlerisch-ästhetische Ausdrucksformen verfügen über spezifische leibliche Qualitäten, die es ermöglichen, die Grenzen von verbaler Sprache und rationalem Denken zu überschreiten. Er beschäftigt sich mit Teilhabemöglichkeiten, die an die spezifischen leiblichen und nichtsprachlichen Qualitäten künstlerisch-ästhetischer Gegenstände gebunden sind. Bereits in früheren Publikationen wurde hierfür das Konzept der Verkörperten Teilhabe vorgestellt. Es bietet nicht zuletzt für die inklusive kulturelle Bildungsarbeit eine wichtige theoretische Bezugsfolie. Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die systematische Entwicklung dieses theoretischen Konstruktes von der ersten Idee bis hin zur Spezifikation des Konzeptes der Verkörperten Teilhabe. Auf der Grundlage der Dimensionsanalyse wird das Konstrukt der Verkörperten Teilhabe mit Bezug zu sozial-interaktionalen Prozessen definiert und seine drei Modalitäten herausgearbeitet. Damit ist eine theoretische Voraussetzung geschaffen, um soziale Teilhabe in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern systematisch empirisch untersuchen zu können.
Einleitung
Teilhabe ist im fachlichen Diskurs der Kulturellen Bildung seit langem ein vielseitig bearbeitetes Thema. Menschenrechtliche Perspektiven (Fuchs 2013) kommen dabei ebenso zum Tragen wie Fragen der Selbst- und Mitbestimmung und die Frage nach der Zugänglichkeit von kulturellen Angeboten (Liebau 2015). Der Rat für Kulturelle Bildung nimmt in einer eigenen Denkschrift (2014) strukturelle und individuelle Rahmenbedingungen von Teilhabe in der kulturellen und ästhetischen Bildung in den Blick und möchte eine Debatte zur Erweiterung des Spektrums von Teilhabeaspekten anstoßen. In der Denkschrift widmet er sich auch der Bedeutung, die den ästhetischen Gegenständen an sich zukommt. Die ästhetischen Ausdrucksformen bilden „eigene modi“ (ebd.:42), ihnen werden spezifische Qualitäten zugeschrieben, die „im kulturellen Bildungsprozess nutzbar gemacht werden können“ (ebd.). So wird bei ästhetischen Gegenständen immer auch „der Bezug zum Leib und seinen sinnlichen und praktischen Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten durch Hände, Augen, Ohren, Nase und Haut“ (ebd.) mitgedacht und damit ihr Potenzial gewürdigt, die Grenzen der verbalen Sprache zu überschreiten.
Der vorliegende Beitrag setzt hier an und beschäftigt sich mit solchen Teilhabemöglichkeiten, die an die spezifischen leiblichen und nichtsprachlichen Qualitäten künstlerisch-ästhetischer Gegenstände gebunden sind. Bereits in früheren Publikationen wurde mit dem Konzept der Verkörperten Teilhabe (Quinten 2016; 2017a, 2017b; 2018) eine solche Facette von Teilhabe vorgestellt, die primär nonverbal über den Körper mit seinen Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten konstituiert wird. Die Untersuchungen fanden überwiegend in den Handlungsfeldern Tanz und Tanztheater statt. In diesem Beitrag werden ergänzend auch Beispiele aus den Bereichen Musik und Kunst aufgenommen. Ganz allgemein wird verkörperte Teilhabe als eine Form des Eingebunden-Seins in gesellschaftliche Lebensbereiche und Funktionssysteme – hier: künstlerisch-ästhetische Handlungsfelder - verstanden, welche sich über nichtsprachliche, handlungsorientierte, leibliche Weisen des Teilnehmens, Anteilnehmens, Mitwirkens und Mitbestimmens manifestiert. Damit fokussiert das Konzept der verkörperten Teilhabe primär die prozessual-interaktionale Dimension von Teilhabe (Aktionsbündnis Teilhabeforschung 2015). Besonders anschaulich wird verkörperte Teilhabe in den Künsten, vor allem in den inklusiven performativen Künsten, wenn Menschen mit unterschiedlichen körperlich-motorischen, kognitiven, perzeptiven oder sprachlichen Voraussetzungen gemeinsam miteinander künstlerisch tätig sind. Die zeitgenössischen Künste mit ihren vielfältigen Ausdrucksmodalitäten und multisensorischen Arbeitsweisen bieten geeignete Voraussetzungen dafür, dass Menschen auch ohne verbalsprachliche Kommunikation und jenseits des sogenannten rationalen und logischen Denkens an einer gemeinsamen Aktivität teilhaben und mitwirken können.
Die genaue Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe und theoretischer Konzepte ist elementarer Bestandteil des wissenschaftlichen Arbeitens. Insbesondere erfordern es empirische Untersuchungen, dass für die zu untersuchenden Begriffe bzw. Konstrukte Merkmale entwickelt werden, mit denen das theoretische Konstrukt adäquat erfasst, abgebildet und ggf. einer Messung zugänglich gemacht werden kann (Döring/Bortz 2016). Entsprechend muss der Begriff verkörperte Teilhabe definiert und müssen seine wesentlichen Merkmale entwickelt werden. Im Folgenden wird beschrieben, welche methodischen Schritte von der ersten Idee bis hin zur Spezifikation des Konzeptes verkörperte Teilhabe in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern durchgeführt worden sind.
Von der Idee zur Arbeitsdefinition
Die Idee, Teilhabe unter nichtsprachlichen, verkörperten Aspekten zu betrachten, entstand aus der (teilnehmenden) Beobachtung von Mixed Abled Dance Workshops. Dass Menschen durch Handeln, Körperausdruck, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung gemeinsam an Aktivitäten teilhaben, mitwirken und mitbestimmen, dass sie sich ohne wortsprachliche Kommunikation zugehörig fühlen können, knüpfte an die eigene Bewegungsbiografie und damit verbundenen eigenen Felderfahrungen der Autorin als Sportlerin, Tänzerin, Tanzpädagogin und Tanztherapeutin an. Eine erste Arbeitsdefinition für die verkörperte Teilhabe wurde im Rahmen des Teilhabe-Slams in der Arbeitsgruppe Begriffe und Theorien im Aktionsbündnis Teilhabeforschung im Mai 2016 entwickelt und öffentlich vorgestellt:
„Teilhabe verstehe ich - in Anlehnung an die Definition von Waldschmidt (2014) - als eine Form des Eingebunden-Seins in sämtliche Lebensbereiche und Funktionssysteme der Gesellschaft. Das Eingebunden-Sein manifestiert sich durch (An)Teilnehmen, Beteiligen, Mitwirken und Mitbestimmen. Darüber hinaus binde ich Teilhabe im Sinne einer verkörperten Teilhabe an das (kin-)ästhetische, leibliche Vermögen des Individuums und seiner Handlungsfähigkeit. Nicht-sprachliche, handlungsorientierte, (kin-)ästhetische und leibliche Weisen des Teilnehmens und Anteilnehmens, des Sich-Beteiligens, des Mitwirkens und Mitbestimmens gehören wesentlich zu einem ganzheitlichen Verständnis von Teilhabe“ (Quinten 2016:3).
Franziska Breuning (2000) hat schon vor zwanzig Jahren im Kontext der kulturellen Jugendbildung darauf aufmerksam gemacht, dass die Künste über viele kreativ-gestalterische Partizipationsmöglichkeiten verfügen, welche die diskursiv-sprachlichen Beteiligungsformen ergänzen. Obwohl künstlerisch-ästhetische Arbeitsweisen durch ihre Vielfalt an sinnlichen Wahrnehmungs- und handlungsorientierten Ausdrucksmöglichkeiten über ein breites Spektrum an verkörperten Teilhabemöglichkeiten verfügen, wurden spezifisch künstlerisch-ästhetische Teilhabequalitäten bisher nicht systematisch untersucht.
Von der Arbeitsdefinition zur Konzeptspezifikation: Die Dimensionsanalyse
Da es sich bei verkörperter Teilhabe um einen bisher noch nicht untersuchten Gegenstand handelt, muss dieser i.S. einer Konzeptspezifikation (Döring/Bortz 2016:222ff.) definiert und ggf. zugehörige Aspekte (oder Subdimensionen) benannt werden. Zur systematischen Erarbeitung solcher Aspekte kann die Dimensionsanalyse durchgeführt werden (ebd.). Im Folgenden werden die vier Schritte der Dimensionsanalyse zur Spezifikation des Konzeptes verkörperte Teilhabe in künstlerisch- ästhetischen Handlungsfeldern vorgestellt.
Schritt 1: Ideen- und Materialsammlung
Die Ideen- und Materialsammlung basiert auf verschiedenen Quellen wie eigener Alltagserfahrung, Expertenkonsultation, Fachliteratur zu verwandten Themen oder auch Betrachtung von Beispielen. In der vorliegenden Untersuchung speist sich die Ideen- und Materialsammlung im Wesentlichen aus der Sammlung von Beispielen für verkörperte Teilhabe in den Feldern Tanz, Theater, Musik und Kunst. Im Rahmen einer ersten Recherche von tanz- und theaterwissenschaftlichen Fachpublikationen konnte bereits eine Vielzahl an aufschlussreichen Beispielen für nonverbale, verkörperte Weisen des Teilnehmens, Anteilnehmens, Mitgestaltens und Mitbestimmens identifiziert werden (Quinten 2017a; s. Abb. 1). Im Folgenden werden jeweils ein Beispiel aus den künstlerischen Handlungsfeldern Theater und Tanz sowie ergänzend aus Musik und Kunst vorgestellt.
Handlungsfeld Theater
Aus den Theaterwissenschaften sind die Untersuchungen von Erika Fischer-Lichte (2004) zur Ästhetik des Performativen aufschlussreich. Sie bezieht sich auf Max Herrmann, der das Theater als ein soziales Spiel versteht, bei dem auch das Publikum „als mitspielender Faktor beteiligt“ (Herrmann 1920, zit. in Fischer-Lichte 2004:46) ist, indem es durch seine physische Präsenz (durch seine Wahrnehmungen und Reaktionen) die Aufführung mit hervorbringt. Alles, was die Akteur*innen tun, wirkt sich auf die Zuschauer*innen aus und alles, was die Zuschauer*innen tun (z.B. Räuspern oder unruhig auf den Stühlen rutschen), hat eine Wirkung auf die Akteur*innen und auf andere Zuschauer*innen. „In diesem Sinne läßt [sic!] sich behaupten, daß [sic!] die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden Feedback- Schleife hervorgebracht und gesteuert wird“ (Fischer-Lichte 2004:59). Die in der Feedback-Schleife beschriebenen wechselseitigen Beeinflussungen sind körperlich-leibliche Formen der Mitgestaltung und Mitwirkung an der Aufführung. Grundlegende Voraussetzung für ihr Funktionieren ist es, dass Akteur*innen und Zuschauer*innen „leiblich ko-präsent“ (Fischer-Lichte 2004:58ff.) sind.
Handlungsfeld Tanz
Die Idee, dass künstlerisch-kreative Aktivitäten einer Person sich auf Wahrnehmung und Aktivitäten anderer Personen auswirken und ein wechselseitiges Einflussgeschehen in Gang kommt, findet sich auch außerhalb von Bühnenkontexten immer dort, wo mehrere Menschen miteinander im selben Raum miteinander tanzen, Musik machen, singen oder malen. Das zeigt Gabriele Brandstetter (2013) am Beispiel der Kontaktimprovisation. Hier kann eine Person durch ihren Raumweg das Bewegungsverhalten einer anderen Person beeinflussen und mitbestimmen. D. h. sie strukturiert die zeitlich-räumlichen Interaktionen der beteiligten Tanzenden maßgeblich mit. Allerdings gelingt ihr das nur soweit, als die andere Person entsprechend reagiert und ihr den Vortritt lässt. Auch hier beeinflussen sich die Wahrnehmungen und Reaktionen zweier (oder mehrerer Personen) wechselseitig, die Beteiligten gestalten und bestimmen das Geschehen – ohne diskursiv zu verhandeln - mit. Ebenfalls im Rahmen der Untersuchungen der Kontaktimprovisation zeigt Brandstetter (ebd.), dass Tanzende ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf andere Personen in der Gruppe lenken, auf das gemeinsame rhythmische Bewegen oder auf die Nähe bzw. Distanz zu anderen. Sie spricht hier von der Aufmerksamkeit als einem „sensorisch-kinästhetischen Modus von Teilhabe" (2013:174; 2017:412). Auch in anderen künstlerischen Bereichen lassen sich Beispiele dafür finden, in denen Aufmerksamkeit als ein besonderer Modus verkörperter (sensorisch-kinästhetischer) Teilhabe fungiert: im gemeinsamen Musizieren, wenn die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit auf die Melodieführung einer anderen Person, auf Tempo- oder Lautstärkenveränderungen richten. Ebenso kann man beim gemeinsamen Malen eines Gruppenbildes beobachten, dass sich die Aufmerksamkeit der Beteiligten beispielsweise auf die räumliche Nutzung des Malpapieres oder auf die Farbwahl einer anderen Person richtet. Kommt es dann zu Reaktionen auf das Wahrgenommene, so wird auch hier eine Feedback-Schleife in Gang gesetzt und es kann zu wechselseitigen Beeinflussungen im Sinne von Mitgestaltung und Mitbestimmung des Geschehens kommen.
Handlungsfeld Kunst
Freedberg und Gallese (2007) zeigen am Beispiel der Werke von Michelangelo und Jackson Pollock, dass durch die kontemplative Betrachtung eines Kunstwerkes empathisch Gefühle induziert werden können. Sie schlagen vor, dass ein entscheidendes Element ästhetischer Antwort auf Kunstwerke in der Aktivierung verkörperter Mechanismen einschließlich der Simulation von Handlungen, Emotionen und körperlichen Empfindungen besteht. Die betrachtende Person fühlt sich kinästhetisch in das Kunstwerk ein und nimmt in verkörperter Weise Anteil am Kunstwerk bis hin dazu, dass empathische Gefühle hervorgerufen oder eine Handlungsintention verstanden wird, welche im Ausdruck einer Skulptur geformt ist. Solche Prozesse der kinästhetischen Einfühlung durch Rezeption werden auch für den Tanz (u.a. Reason/Reynolds 2010) und für die Musik (u.a. Brandstätter 2011) beschrieben.
Handlungsfeld Musik
Brandstätter (2011) verdeutlicht am Beispiel des Hörens von Live-Musik das Phänomen der mimetischen Partizipation: Personen, die einem Sänger aufmerksam zuhören, scheinen innerlich kleinste Kehlkopfbewegungen mit zu vollziehen. Körperhaltung und Körperspannung werden übernommen. Solche sensorisch-kinästhetischen einfühlenden Spiegelungen sind häufig Grundlage für Empathie und Verständnis.
Schritt 2: Systematisierung
Das im ersten Schritt der Dimensionsanalyse zusammengetragene Material muss in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden (Döring/Bortz 2016:227). Das kann eine Systematisierung nach Ursache-Wirkungs-Relation sein, nach zeitlichen Abläufen oder auch nach logischen Strukturen. Ziel ist es dabei, die verschiedenen relevanten Aspekte des Gegenstandes möglichst erschöpfend aufzufächern. Redundanzen, Inkonsistenzen oder Lücken sollten dabei bearbeitet werden. In diesem Sinn wurden aus den gesammelten Beispielen insgesamt drei Modalitäten von verkörperter Teilhabe herausgearbeitet, in welche sich das Konstrukt auffächern lässt (Quinten 2018; Abb. 4 in diesem Beitrag).
Basale Teilhabemodalität – Teilsein, Eingebundensein
Alleine aufgrund ihrer Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit sind Akteur*innen künstlerisch-ästhetischer Handlungsfelder (einschließlich Zuschauer*innen oder Werkbetrachter*innen) unmittelbar Teil einer Gemeinschaft. Aufmerksamkeit und Blickkontakt, Körperberührungen, Annäherungs- und Abwendungsverhalten u.ä. sind Beispiele für nonverbales Ausdrucksverhalten, das Menschen in eine Gemeinschaft einbindet, ohne dass Sprach- oder Reflexionsfähigkeit vorhanden sein müssen. Der Schauer, der den Rücken hinunter läuft beim Anschauen einer Tanzaufführung, verbindet den Zuschauenden mit den Akteur*innen auf der Bühne, die Steigerung der Pulsfrequenz beim Anhören eines Musikstückes lässt den Zuhörenden Teil der gesamten Zuhörerschaft und Musikakteur*innen werden. Die Zunahme von Körperspannung beim meditativen Betrachten einer Skulptur verbindet den Betrachter oder die Betrachterin auf basale Art und Weise mit dem Kunstwerk. In der basalen Modalität von Teilhabe sind die Idee von Aufmerksamkeit als sensorisch-kinästhetischer Modus von Teilhabe (Brandstetter 2013) ebenso integriert wie die Konzepte körperlich-leiblicher Resonanz (u.a. Brandstetter 2017; Eberlein 2011). Rizzolatti und Sinigaglia (2008) sprechen von unmittelbarer Teilhaberschaft, die im Theater zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen inszeniert wird. Leibphänomenologische Ansätze – insbesondere Hermann Schmitz (2007) mit seiner Konzeption von wechselseitiger Einleibung und Maurice Merleau-Ponty (2011) mit dem Konzept der Zwischenleiblichkeit – können herangezogen werden, um verkörperte, leibliche Weisen einer unmittelbaren Teilhabe an der Welt i.S. von Teilsein und Eingebundensein zu begründen (Quinten 2017a; Fuchs 2000).
Kreativ-gestalterische Teilhabemodalität - Mitgestalten und Mitbestimmen
Das Mitgestalten und Mitbestimmen vollzieht sich in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern primär in Form nichtsprachlicher, gestaltender Art und Weise. Im Handlungsfeld Tanz zeigen sich Formen verkörperten Mitgestaltens und -bestimmens beispielsweise, wenn sich Personen im Rahmen einer tänzerischen Bewegungsaufgabe gegenseitig ihre Bewegungsideen zeigen, miteinander Bewegungsmotive entwickeln und diese in eine gemeinsame tänzerische Komposition aufnehmen. Das Aushandeln der Entscheidung für oder gegen eine Idee vollzieht sich in bewegten - weitgehend nonverbalen - Interaktionen. Nicht selten werden auch unbewusst wahrgenommene Bewegungsideen anderer in die eigene Bewegungsgestaltung integriert. Auch im oben beschriebenen Beispiel, wenn eine Person die zeitlich-räumlichen Interaktionen im Tanzgeschehen durch das eigene Bewegungsverhalten strukturiert, handelt es sich um eine verkörperte Form von Mitgestaltung bzw. Mitbestimmung. Musikalische Improvisationen eröffnen ebenfalls Spielräume verkörperter Mitgestaltung und -bestimmung. Durch körpereigene Klangerzeugung oder Instrumentalspiel in der Anwendung musikalischer Parameter (Tempo, Lautstärke, Klangfarbe) gestalten die Musizierenden ihre musikalischen Interaktionen und damit auch das Klanggeschehen. Theoretisch validieren lassen sich verkörperte Formen von Mitgestalten und Mitbestimmen beispielsweise durch entwicklungspsychologische Konzeptionen wie der Idee der „körperlichen Mikropraktiken“ von Downing (2006) oder mit Befunden aus der Untersuchung des kindlichen Spielverhaltens. So hat Mildred Parten (zit. in Hess 2013:47ff.), die den Begriff der sozialen Partizipation in den 1930er Jahren im Zusammenhang mit ihren Untersuchungen des kindlichen Spielverhaltens geprägt hat, verschiedene Stufen nonverbaler Weisen des Mitgestaltens und Mitbestimmens im Spiel herausgearbeitet. Auch in jüngeren Untersuchungen zur sozialen Partizipation im kindlichen Spiel werden nonverbale Strategien der Mitgestaltung und -bestimmung, wie nonverbales Variieren der Aktivitäten in einer gerade ablaufenden Gruppe oder Störung der Gruppenaktivität beschrieben (ebd.).
Empathische Modalität - Sich (kin-)ästhetisch Einfühlen und Anteilnehmen
Nicht wenige der gefundenen Beispiele verkörperter Teilhabe thematisieren die kinästhetische bzw. ästhetische Einfühlung in die Bewegungen und Haltungen anderer Menschen (u.a. Brandstätter 2011; Reason/Reynolds 2010) oder in Kunstwerke (u.a. Freedberg/Gallese 2007). Kinästhetische Einfühlung in eine andere Person, in ihre körperliche Verfasstheit, ist der Schlüssel für Empathie und gegenseitiges Verständnis. Theoretische Konzepte, in denen verkörperte Formen von Anteilnahme sichtbar werden, liefern Bewegungs- und Neurowissenschaften mit Konzepten wie der „motorischen Simulation“ (Jeannerod 2001) oder „embodied simulation“ (Gallese 2008). Auf sie wird in den Untersuchungen in den künstlerischen Handlungsfeldern immer wieder Bezug genommen, um zu erklären, wie das Anteilnehmen an den körperlichen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen einer anderen Person entsteht. Kinästhetische Einfühlung kann sowohl durch Rezeption (eines künstlerischen Werkes), als auch produktiv beispielsweise durch mimetischen Nachvollzug einer Bewegung, einer Skulptur oder einer Linie auf einem Bild entstehen.
Nachdem das Konstrukt der verkörperten Teilhabe in die drei skizzierten Modalitäten aufgefächert worden ist, wurde die folgende Systematisierung erarbeitet, in der auch als sinnvoll erscheinende Subdimensionen mit Beispielen aufgenommen und tabellarisch dargestellt wurden (Tab. 1).
Um jenseits der tabellarischen Systematisierung eine geeignete grafische Darstellungsform zu finden, lag es nahe zu prüfen, ob und inwieweit sich einschlägige Partizipationsmodelle, wie sie im Zuge von Demokratisierungs- und Emanzipations-bewegungen entwickelt wurden, als mögliches Ordnungsraster für die identifizierten Aspekte verkörperter Teilhabe in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern eignen. Partizipationsmodelle bilden in der Regel Abstufungen oder Intensitäten von Beteiligungsgraden ab, deren Spektrum von Teilsein und Anteilnehmen über Mitwirken und Mitbestimmen bis hin zu Formen der Selbstorganisation führen (u.a. Aktionsbündnis Teilhabeforschung 2015; Bertelsmann Stiftung 2008; Wright et al. 2010). Am Beispiel des Partizipationsmodells von Wright, Block und von Unger (2010) für Patienten kann die Vorgehensweise exemplarisch veranschaulicht werden (Abb.2).
In einer explorativen Feldstudie, in der das subjektive Teilhabeerleben von Akteur*innen eines integrativen Tanztheaters mittels qualitativer Methoden (Blitz-befragungen nach Theaterproben sowie teilnehmende Beobachtung) untersucht worden ist (Felber 2016), lassen sich alle von Wright et al. (2010) formulierten Partizipationsstufen auffinden. Da die Idee zur Choreografie alleine von der Choreografin kam, wurde das von Akteur*innen als eine Form der Nicht-Partizipation erlebt. Beispiele für Vorstufen der Partizipation fanden sich dort, wo Mitglieder des Ensembles über Proben oder Stückabläufe informiert wurden, wo ihre Meinung zu dem Stück angehört oder sie in Öffentlichkeits- und Werbungsarbeit mit einbezogen wurden. Mitsprache und Mitentscheidung wurde praktiziert bei der Auswahl von Kostümen, der Rollen oder auch durch die Möglichkeit, dass selbstgestaltete Bewegungsabläufe in die Choreografie integriert wurden, was sich zur echten Partizipation zählen lässt. Konkrete Beispiele für verkörperte Teilhabe fanden sich überwiegend bei Bewegungsimprovisationen, wenn nonverbal kommuniziert wurde, Akteur*innen ohne Worte aufeinander eingingen und aufeinander reagierten und sich so Szenen gestalteten, die Teil der Choreografie wurden. Das Partizipationsmodell von Wright et al. (2010) ermöglicht durchaus, Aspekte verkörperter Teilhabe wie das nonverbale Mitwirken in tänzerischen Improvisationen oder auch nonverbale Formen der Mitbestimmung in Kompositionsaufgaben systematisch zu beschreiben. Wie in den allermeisten Modellen wird jedoch Körperlichkeit als Teil der Modellstruktur nicht thematisiert. Eine Ausnahme bildet das Partizipationsmodell für ältere Menschen von Waldschmidt (2014). Hier spielt „physische Anwesenheit“ als unterste Beteiligungsstufe, auf der alle anderen aufbauen, eine entscheidende Rolle (Abb. 3).
In künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern, in denen sinnliche Wahrnehmung, Körperausdruck und andere handlungsbasierten Ausdrucksweisen wie Malen, Musizieren, Skulpturieren etc. im Vordergrund stehen, rückt die Körperlichkeit in den Vordergrund. Alleine ein spezifischer Körperausdruck, eine Körperhaltung oder ein einziger Augenschlag können für den künstlerischen Ausdruck in Tanz- oder Theaterstücken prägend sein.
Auf der Grundlage der durchgeführten Systematisierungsbemühungen sowie im Anschluss an eine Expertendiskussion im Rahmen der GTF-Tagung „Tanz-Diversität-Inklusion“ in Dortmund 2017 wurde entschieden, von der Idee der Partizipationsstufen und der damit verbundenen Hierarchisierung Abstand zu nehmen. In der grafischen Darstellung (Abb. 4) von drei sich überlappenden Kreisen soll dargestellt werden, dass die identifizierten Aspekte verkörperter Teilhabe in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern gleichermaßen wichtig sind. Darüber hinaus soll veranschaulicht werden, dass alle drei Modalitäten sich wechselseitig durchdringen.
Schritt 3: Auswahl der untersuchungsrelevanten Aspekte
Der dritte Schritt in der Dimensionsanalyse dient dazu, untersuchungsrelevante Aspekte auszuwählen. Als Auswahlkriterien können theoretische Erwägungen wie z.B. das Erkenntnisinteresse sowie forschungspraktische und -ökonomische Über-legungen eine Rolle spielen (Döring/Bortz 2016). Im vorliegenden Fall spielen vor allem forschungspraktische Erwägungen eine Rolle. Denn nicht alle identifizierten Aspekte können unmittelbar ohne technische Messinstrumente beobachtet werden. Dies betrifft beispielsweise Synchronisierungsbewegungen von Organen oder auch die Veränderung von Pulsfrequenzen. Manche Aspekte sind nur einer Fremdbeobachtung zugänglich, andere ausschließlich der Selbstbeobachtung vorbehalten wie das Erleben von Zugehörigkeit (s. Tabelle 1). Grundsätzlich können im Rahmen von Befragungen nur solche Inhalte erfasst werden, die für die jeweilige Person bewusstseinsfähig sind. All diese Aspekte werden besonders für empirische Untersuchungen eine wichtige Rolle spielen.
Schritt 4: Entwicklung eines deskriptiven Begriffsschemas
Nach Döring/Bortz (2016) muss schließlich ein deskriptives Begriffsschema erstellt werden, sobald die einzubeziehenden Subdimensionen des Konzeptes identifiziert sind. Da aktuell noch keine Aspekte ausgewählt worden sind, werden abschließend das Konstrukt Verkörperte Teilhabe definiert und seine Modalitäten einschließlich der jeweiligen Subdimensionen wie folgt zusammengefasst:
Verkörperte Teilhabe in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern umfasst Formen des Eingebundenseins, welche sich über nichtsprachliche, handlungsorientierte, leibliche Weisen des Teilnehmens, Anteilnehmens, Mitwirkens und Mitbestimmens manifestieren. Damit wird primär die prozessuale sozial-interaktionale Dimension von Teilhabe fokussiert. Verkörperte Teilhabe lässt sich in drei Modalitäten mit jeweils zwei Subdimensionen auffächern:
- Die Basale Modalität mit den beiden Subdimensionen Eingebunden-Sein durch eigenleibliche, körperlich-vegetative Resonanzen sowie Eingebunden-Sein durch nonverbales Ausdrucksverhalten.
- Die kreativ-gestalterische Modalität mit den beiden Subdimensionen selbstinitiiertes Mitgestalten und Mitbestimmen (durch eigenes Ausdrucksverhalten) sowie Mitgestalten und Mitbestimmen durch Reagieren auf das Verhalten einer anderen Person (reaktiv).
- Die Empathische Modalität mit den beiden Subdimensionen sensorisch-kinästhetisches Einfühlen durch Rezeption sowie sensorisch-kinästhetisches Einfühlen durch Produktion.
Fazit und Ausblick
Die vorangegangenen Ausführungen verstehen sich als ein Beitrag zur Teilhabedebatte in der Kulturellen Bildung. Mit der verkörperten Teilhabe wird eine Facette von Teilhabe vorgestellt, die eine differenzierte Betrachtungsweise von nichtsprachlichen Teilhabemöglichkeiten auf sozial-interaktionaler Ebene in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern erlaubt. Auf der Grundlage einer Dimensionsanalyse (Döring/Bortz 2016) werden das Konstrukt verkörperte Teilhabe mit Bezug zu sozial-interaktionalen Prozessen definiert und drei Modalitäten mit jeweils zwei Subdimensionen herausgearbeitet (s.o.). Das Konzept der verkörperten Teilhabe kann der Forschung auf dem Gebiet der Kulturellen Bildung neue Impulse verleihen. Denn es schafft die theoretische Voraussetzung, um soziale Teilhabe in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern systematisch empirisch untersuchen zu können.
Unter dem Aspekt der Domänenspezifität könnte es interessant sein, ausgewählte Handlungssituationen in künstlerisch-ästhetischen Handlungsfeldern auf ihr Potenzial für verkörperte Teilhabe zu untersuchen. Beispielsweise kann gefragt werden, ob sich für das Singen in einem Chor, das Anhören eines Musikstückes, die Betrachtung eines Bildes, ein Rollenspiel, eine Gestaltungsaufgabe im Tanz u.v.a.m. eine Dominanz in einer der drei Modalitäten und deren Subdimensionen aufzeigen lässt. In diese Richtung zielt eine aktuell laufende empirisch-qualitative Studie, in der Situationen des Vor- und Nachmachens in Probesituationen eines inklusiven Tanztheater-Ensembles hinsichtlich der Modalitäten verkörperter Teilhabe analysiert werden. Die Untersuchung ausgewählter künstlerisch-ästhetischer Handlungsfelder, die in der Dimensionsanalyse nicht berücksichtigt worden sind, könnten ggf. auch neue Subdimensionen zum Vorschein bringen, die bisher nicht in der Modellierung der verkörperten Teilhabe enthalten sind. Die Erkenntnisse könnten bei der Planung von Maßnahmen der Kulturellen Bildung für bestimmte Zielgruppen bzw. bestimmte Zielbereiche eine wichtige Hilfe sein. Beispielsweise ist die Förderung sozialer Partizipation – eine der Hauptthemen der aktuellen schulischen Integrations- und Inklusionsforschung - ein häufig genannter Zielbereich der Kulturellen Bildung und wird weitgehend mit Bezug auf Freundschaft, Peer-Akzeptanz, Interaktionen sowie auf Selbstwahrnehmung sozialer Teilhabe untersucht und gefördert (Schwab 2015; Zurbriggen/Venetz 2016). Auf nichtsprachliche Aspekte wird dabei in der Regel nicht eingegangen. Hier könnten die verschiedenen Facetten der verkörperten Teilhabe neue Forschungsimpulse bringen. In einer empirisch-qualitativen Studie im Rahmen eines Forschungsprojektes werden derzeit unterschiedliche kreative Tools aus den Bereichen Musik, Theater und Tanz mittels standardisierter Fragebögen (u.a. mit den Subskalen Zugehörigkeit, Peer-Akzeptanz und Mitbestimmung) dahingehend untersucht, ob sie einen geeigneten strukturellen Rahmen bieten können, um Eingebundensein und Mitbestimmung zu fördern, obwohl keine verbale Kommunikation stattfindet oder diese nur ganz im Hintergrund vorhanden ist. In diesem Sinne könnte weiterhin untersucht werden, ob bestimmte Praktiken aus den spezifischen Bereichen Bildende Kunst, Theaterspielen, Museum, Tanz, neue Medien etc. sich besonders für das Einüben und das Erleben von Mitbestimmung anbieten oder eher ungeeignet sind, weil die Struktur der Handlungssituation stärker Gefühle von Zugehörigkeit (Eingebundensein) oder Empathie aktivieren kann. Aus Domänen übergreifender Perspektive könnte untersucht werden, ob bestimmte prototypische Vermittlungsmethoden wie z. B. Improvisation, Komposition oder Imitation, welche in vielen der künstlerischen Domänen klassischerweise zum Interventionsrepertoire gehören, generell Modalitätsdominanzen befördern oder verhindern.
Forschungsmethodische Herausforderungen für empirische Vorhaben bestehen insbesondere in der Notwendigkeit, geeignete Datenerhebungsinstrumente zu entwickeln, um die verschiedenen Modalitäten verkörperter Teilhabe mit ihren Subdimensionen entsprechend den Gütekriterien empirischer Forschung abbilden und messen zu können. Die vorgeschlagene theoretische Modellierung versteht sich als ein erster Entwurf, der in weiteren Untersuchungen einer Bewährungsprobe unterzogen und ggf. adaptiert oder auch erweitert werden kann.