Die unterschätzte Rolle der Zivilgesellschaft in der Bildung

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von Jana Priemer

Erscheinungsjahr: 2025

Abstract

Zivilgesellschaft ist ein unterschätzter Bildungsakteur, obwohl es enge Zusammenhänge zwischen Zivilgesellschaft und Bildung gibt. In welchem Umfang und in welchen Formaten sich zivilgesellschaftliche Organisationen – in der Mehrheit Vereine – und engagierte Bürger*innen in Bildung einbringen, fasst dieses Interview zusammen. Dazu werden Ergebnisse aus aktuellen repräsentativen Befragungen von gemeinnützigen Organisationen und von Engagierten sowie Studien zum Bildungsengagement herangezogen. Vorgestellt werden insbesondere Erkenntnisse aus dem Projekt „Zivilgesellschaft und Bildung – Bürgerschaftliches Engagement in kommunalen Bildungslandschaften“, das als Verbundprojekt vom Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung am WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) und Stiftungen für Bildung e. V. umgesetzt wird. Der Blick richtet sich nicht nur auf Schule und Ganztag, sondern auch auf Bildungsangebote und -beiträge jenseits formaler Bildungsinstitutionen. Dabei werden die Besonderheiten von Engagement für Bildung und die damit verbundenen Herausforderungen ebenso thematisiert wie Veränderungsprozesse in Zivilgesellschaft und im Bildungssystem, die dafür notwendig sind. Abgeleitet wird, was dies für eine stärkere Perspektivierung von Zivilgesellschaft in Kultur und Kultureller Bildung bedeutet.

Untrennbar: Zusammenhänge zwischen Bildung und Engagement

Redaktion: Könnten Sie eingangs beschreiben, welche grundsätzlichen Beziehungen, welche Zusammenhänge Sie zwischen Zivilgesellschaft als Akteurs- und Handlungsfeld auf der einen Seite und Bildung auf der anderen Seite sehen?

Jana Priemer: Zwischen diesen beiden Aspekten gibt es bedeutsame Wechselwirkungen, von denen ich drei besonders hervorheben möchte (vgl. Priemer 2021). Wir wissen zum einen, dass je höher der Bildungsstatus einer Person ist, desto höher ist auch die Engagementbereitschaft. Das heißt, hochgebildete Menschen engagieren sich häufiger als Menschen mit weniger hohen Bildungsabschlüssen. Das bedeutet, Bildung begünstigt Engagement und damit zivilgesellschaftliche Aktivität. Aber es gibt auch einen umgekehrten Effekt: Im und durch Engagement wird gelernt und durch Engagement werden auch Bildungsprozesse in Gang gesetzt. Der dritte Aspekt ist, dass Zivilgesellschaft konkrete Bildungsangebote bereitstellt. Zivilgesellschaft ermöglicht Bildung für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Demnach profitieren auch Menschen, die sich nicht engagieren, von Bildungsangeboten der Zivilgesellschaft. Wie verbreitet dies ist, macht eines unserer Ergebnisse deutlich (Priemer et al. 2024a und 2024b): In unserer aktuellen Befragung geben 51 Prozent der eingetragenen Vereine an, dass sie Bildungsangebote machen. Das entspricht etwa jedem zweiten eingetragenen Verein, von mehr als 600.000 Vereinen in Deutschland. Das heißt, wir sprechen hier von gut 300.000 eingetragenen Vereinen, die einen Bildungsbezug haben.

Redaktion: Sie gehen davon aus, dass in den letzten Jahren der Zusammenhang von Bildung und Zivilgesellschaft an Bedeutung gewonnen hat. Könnten Sie aus Ihrer Sicht nachzeichnen, warum das der Fall ist?

Jana Priemer: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein Grund für diese Veränderung ist, dass wir Bildung breiter denken, als das vor 10, 20 oder 30 Jahren noch der Fall war. Wir sprechen dabei von einem erweiterten Bildungsbegriff, in dem nicht mehr ausschließlich auf die formale Bildung geschaut wird, sondern stärker auf non-formale und informelle Bildungsbildungsprozesse, Bildungseffekte und auch Bildungsorte. Zivilgesellschaftliche Akteure spielen in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle. Was wir aber ebenso sehen, ist, dass sich formale Bildungseinrichtungen, insbesondere Schulen, in den letzten Jahren zunehmend für non-formale und für zivilgesellschaftliche Akteure öffnen. Hier wurde verstanden, dass eben nicht nur das reine Fachlernen eine große Rolle spielt, sondern ebenso andere Bildungsprozesse, die sich die Verantwortlichen nunmehr stärker in die Schulen holen und dafür gezielt kooperieren (Priemer 2024a).

Unterschätzt: zivilgesellschaftliche Bildungsorganisationen und ihre Beiträge

Redaktion: Sie haben in dieser ersten Hinführung schon eine Unterscheidung getroffen zwischen den zivilgesellschaftlichen Bildungsorganisationen und den engagierten Menschen. Lassen Sie uns da etwas tiefer blicken. Fangen wir mit den sogenannten Bildungsorganisationen an: Von welcher Art zivilgesellschaftlicher Organisationen sprechen Sie?

Jana Priemer: Die Zivilgesellschaft gibt es nicht. Und das heißt, dass es auch nicht die typische zivilgesellschaftliche Bildungsorganisation gibt, denn Zivilgesellschaft ist äußerst heterogen. In unserem Forschungsprojekt verstehen wir als Bildungsorganisationen jene Organisationen, die ein Bildungsangebot machen. Konkret sind das die Organisationen, die Kenntnisse vermitteln oder Menschen darin befähigen, sich selbst und ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln. Wir sprechen von der ganzen Bandbreite zivilgesellschaftlicher Organisationen mit ihren unterschiedlichen Themen und Strukturbedingungen. Um dies zu verdeutlichen, helfen vielleicht zwei Beispiele: Da haben wir im Bildungsbereich, auch in der Kulturellen Bildung, auf der einen Seite große, etablierte Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit starken personellen Ressourcen, also mit viel Hauptamtlichkeit. Denen stehen kleine lokale Träger gegenüber, die rein ehrenamtlich – und damit unter ganz anderen Bedingungen arbeiten (Priemer et al. 2024b). Das Spektrum dazwischen ist enorm.

Redaktion: Sie hatten bereits erwähnt, dass über die Hälfte aller Vereine in Deutschland Bildungsangebote unterbreitet. Wie schätzen Sie es ein: Verstehen sich diese Organisationen explizit als Bildungsakteur?

Jana Priemer: Das ist eine spannende Frage und ein ganz wichtiger Befund, weil dieses Selbstverständnis als Bildungsakteur bisher kaum verbreitet ist. Von denen, die wir als Bildungsakteure identifiziert haben, geben 44 Prozent (!) an (ebd.), dass sie sich selbst nicht als Bildungsakteur verstehen, obwohl sie ganz klar Bildungsangebote unterbreiten. Wir nehmen an, dass das unterschiedliche Gründe hat. Einer der Hauptgründe dürfte sein, dass bei Bildung immer noch zu stark an formale Bildung gedacht wird, das heißt an klassische Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Berufsschulen oder Universitäten.

Redaktion: Das führt mich zu der nächsten Frage, wie verbreitet Bildungsangebote in der Zivilgesellschaft sind. Können Sie dabei ggf. auf Kulturelle Bildung eingehen?

Jana Priemer: Auch das ist sehr vielfältig. Allein wenn wir die Kulturelle Bildung betrachten, gibt es eine große Bandbreite vom Seniorenchor über verschiedene Freizeitangebote im Verein bis hin zu Kunstkursen in der Schule, die durch Kooperationen stattfinden, etwa im Ganztag. Ohnehin ist Kultur ein großes Themenfeld in der Zivilgesellschaft. In unserer Studie (ebd.) gaben allein 25 Prozent aller befragten Organisationen an, dass sie kulturelle Angebote unterbreiten. 16 Prozent berichten, dass sie überwiegend im Handlungsfeld Kunst und Kultur tätig sind. Wenn wir uns nur jene anschauen, die wir als Bildungsorganisationen identifiziert haben, dann sind darunter erstaunliche 38 Prozent, die angeben, dass sie kulturelle Bildungsangebote machen. Damit sind Kultur und Kulturelle Bildung ein besonders verbreitetes Bildungsfeld.

Redaktion: Können Sie genauer beschreiben, welche Bildungsbeiträge die Zivilgesellschaft leistet, also in welchen Formaten sie sich für Bildung engagiert?

Jana Priemer: Vor allem Veranstaltungen wie Workshops, Tagungen oder Bildungsreisen sind besonders verbreitet. 78 Prozent der Bildungsorganisationen nutzen diese Formate, die auch im Kulturbereich besonders relevant sind. Häufig finden sich zudem Betreuungsangebote für junge Menschen: 29 Prozent der Vereine führen Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche durch, insbesondere im schulischen Kontext. Dazu zählen Tages- und Nachmittagsbetreuung oder Ferienbetreuung und Ferienfahrten usw. Ein drittes großes Betätigungsfeld ist Beratung und Unterstützung. Hierzu gehören beispielsweise Mentoringangebote. Viertens ist die Wissensbereitstellung gerade im Kontext der informellen Bildung wichtig, also für das selbstgesteuerte Lernen. Zivilgesellschaft stellt zum Beispiel Informationsmaterial zur Verfügung. Im Kulturbereich sind das beispielsweise Ausstellungen, Sammlungen, Archive, hinter denen oftmals zivilgesellschaftliche Organisationen stehen – auch hinter kleinen Museen zum Beispiel (Priemer et al. 2024a).

Herausfordernd: Spannungsfelder für zivilgesellschaftliche (kulturelle) Bildungsorganisationen

Redaktion: Sie haben bisher ganz positiv nachgezeichnet, welches Potenzial und welche Vielfalt in der Zivilgesellschaft stecken. Vielleicht können Sie zudem erläutern, vor welchen Herausforderungen die zivilgesellschaftlichen Organisationen stehen, um diesen Beitrag zu leisten bzw. diese Aufgaben zu bewältigen.

Jana Priemer: Von den verschiedenen und vielfältigen Herausforderungen möchte ich drei hervorheben. Das erste Thema sind die freiwilligen Engagierten, die das Rückgrat der Bildungsorganisationen bilden. Im Bildungsbereich sehen wir noch stärker als in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft: Es wird immer schwieriger, Engagierte zu mobilisieren und sie dann vor allem langfristig zu binden und zu halten. Fakt ist, dass gerade Bildungsengagement besonders herausfordernd ist. Was bedeutet das? Bildungsengagement kann man meist nicht kurzfristig oder projektgebunden machen, sondern es erfordert in der Regel ein langfristiges und dauerhaftes Commitment und zudem eine sehr hohe Frequenz. Wenn es zum Beispiel darum geht, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, dann muss man sich meist auf ein regelmäßiges Engagement von mindestens einmal die Woche verpflichten. Und das macht das Spannungsfeld noch mal besonders stark, weil es natürlich besonders schwierig ist, genau diese Form von Engagierten zu mobilisieren. Wir sehen gleichzeitig auch, dass es erst die Engagierten sind, welche die Bildungsangebote ermöglichen: Mehr als 80 Prozent der Bildungsorganisationen sagen zum Beispiel (Rößler-Prokhorenko et al. 2024), sie könnten ihre Angebote nicht aufrechterhalten, wenn sie die Engagierten nicht hätten. Wir können den Daten aber auch entnehmen, dass etwa ein Fünftel der Bildungsorganisationen aussagt, dass sie eigentlich festes Personal bräuchten, es aber nicht bezahlen können (Priemer et al. 2024b).

Da sind wir bereits beim nächsten Knackpunkt, der Finanzierung und den strukturellen Rahmenbedingungen, ein ebenso großes Spannungsfeld. Auf der einen Seite haben wir die vielen kleinen Organisationen (klein im Sinne von finanziellen Ressourcen), die wirklich viel über die Engagierten realisieren und daher ihr größtes Problem bei der Gewinnung von Engagierten haben. Auf der anderen Seite gibt es einen kleineren Teil von zivilgesellschaftlichen Bildungsorganisationen, gerade in der Kulturellen Bildung, die hoch professionell sind und die aufgrund ihrer hohen personellen und hauptamtlichen Ausstattung die entsprechenden Ressourcen dauerhaft brauchen. Viele von ihnen sind von öffentlichen Mitteln abhängig. Wenn es dann eine Situation gibt, wie wir sie gerade in Berlin erleben, wenn also diese öffentlichen Mittel wegbrechen, ist das hochdramatisch.

Auch dieses Thema hängt eng mit den Engagierten zusammen, weil in unseren Befragungen deutlich wird (Priemer et al. 2024a), dass Engagierte gut koordiniert werden müssen, gerade wenn es in die Kooperation geht und Verbindlichkeiten hergestellt werden müssen. Dafür sind wiederum Personen notwendig, die diese Aufgaben übernehmen. Und insbesondere im Bildungsbereich sind diese Personen oftmals die Engagierten selbst. Das ist aber nur bis zu einer bestimmten Grenze möglich, denn wenn die Engagiertenzahlen steigen, kann das nicht mehr alles rein ehrenamtlich bewältigt werden.

Das führt zum dritten Themenkomplex: zur Kooperation. Kooperationen sind gerade für zivilgesellschaftliche Bildungsorganisationen wichtig: Bildungsorganisationen kooperieren häufiger als andere Organisationen der Zivilgesellschaft. Um ihre Angebote überhaupt durchzuführen, sind sie mehr als viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen auf Kooperationen angewiesen. Die häufigsten Kooperationspartner sind andere Bildungseinrichtungen. Vor allem Schulen sind besonders wichtig, weil sie den Zugang zu Zielgruppen eröffnen. Aber Kooperationen gibt es nicht ohne Spannungen. Wir sehen, dass das Verhältnis nicht immer auf Augenhöhe stattfindet und gerade kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen benachteiligt sind: Sie werden weniger in Kooperationen eingebunden, weil sie oftmals nicht die Ressourcen mitbringen, insbesondere nicht die personellen Ressourcen. Dadurch können sie viel weniger von den Vorteilen, die durch Kooperationen entstehen, profitieren. Wir beobachten daher auch eine gewisse Benachteiligung eines bestimmten Teils der Zivilgesellschaft in Bildungskooperationen (Priemer 2024b).

Redaktion: Diese Analyse von Herausforderungen und Spannungsfeldern ist uns in der Kulturellen Bildung und im Kulturengagement vertraut: Engagierte zu finden, wird als großes Problem reflektiert; Finanzierung und strukturelle Absicherung des Angebots sind eine wichtige Frage; und Kooperation ist ein Thema, das dieses Feld bewegt. Haben Sie Ideen, wie diese Herausforderungen zum Beispiel in der Kulturellen Bildung angepackt werden können?

Jana Priemer: Es gibt natürlich einzelne gute Ansätze. Angedeutet habe ich bereits das Thema Engagiertenmanagement. Da können bereits kleinere Dinge helfen, beispielsweise innerhalb einer Organisation Ansprechpersonen zu haben, die sich um die Belange der Engagierten kümmern. Ein gutes Beispiel zeigt unsere Sonderauswertung zum Thema Mentoring auf (Priemer/Rößler-Prokhorenko 2024). Mentoringorganisationen sind ein relativ neuer Organisationstyp und funktionieren ein bisschen anders als zum Beispiel die klassischen Kulturvereine, die schon länger gewachsen sind und oftmals ihre Engagierten über die eigenen Mitglieder generieren, die entsprechend in ihr Engagement „hineinwachsen“. Mentoringorganisationen werben im Gegensatz dazu die Mentor*innen gezielt an, um sie anschließend zu qualifizieren und zu vermitteln. Das heißt, es gibt nicht die klassische Organisationsbindung. Das bedeutet aber zugleich, dass sich Mentoringorganisationen ganz anders um ihre Engagierten kümmern müssen. Sie müssen die langjährig entstandene Bindung, die wir in traditionellen zivilgesellschaftlichen Organisationen finden, auf anderem Wege herstellen. Und das scheint ihnen, das können wir mit unseren Zahlen gut zeigen (Priemer/Rößler-Prokhorenko 2024), zu gelingen. Sie kümmern sich intensiv um ihre Engagierten: Sie bilden sie aus, sie sind ansprechbar. Auf der Seite der Engagierten wird das bestätigt: Die engagierten Mentor*innen betonen, wie wichtig diese Organisationen und ihre Angebote für sie sind. Für Kulturelle Bildung und Kulturvereine würde dies bedeuten, stärker solche Anker und Angebote zu schaffen, also sich weniger darauf zu verlassen, dass das Engagement von allein kommt.

Bei der Herausforderung der Finanzierung, insbesondere durch öffentliche Mittel, könnte ein Ansatz sein, sich auf eine breitere Finanzierungsbasis zu stützen, also zu versuchen, sich nicht ausschließlich von einer Quelle abhängig zu machen. Und Kooperation? Für bessere Kooperationen brauchen wir einen Kulturwandel auf beiden Seiten. Auf Seiten der Kommune, Verwaltung oder auch Schule müssen zivilgesellschaftliche Akteure stärker ernstgenommen werden. Auf der anderen Seite muss sich die Zivilgesellschaft als Bildungsakteur präsentieren.

Vielfältig: Freiwillig Engagierte für Bildung

Redaktion: Sie haben bereits in den Beschreibungen der zivilgesellschaftlichen Bildungsorganisationen Hinweise auf die Engagierten gegeben. Es geht mir im Folgenden um die Menschen, die Bürger*innen, die sich engagieren. Vermutlich ist dies genauso vielfältig wie das Engagement von Organisationen. Könnten Sie eingangs beschreiben, wie stark das Engagement für Bildung unter Bürger*innen verbreitet ist?

Jana Priemer: In unserer repräsentativen Befragung machen 61 Prozent der freiwillig Engagierten bildungsbezogene Angebote. Wenn wir das umrechnen, sind das 19 Millionen Menschen in Deutschland, also ein gutes Viertel der deutschen erwachsenen Bevölkerung. In der Kultur engagieren sich acht Prozent der Engagierten, die Hälfte davon macht Bildungsangebote (Rößler-Prokhorenko et al. 2024).

Redaktion: Vergleichen wir Ihre Zahlen mit dem Freiwilligensurvey (vgl. Simonson et al. 2021), dann fällt auf: Die Werte für das Engagement im Kulturbereich sind ähnlich, in Ihrer Befragung ist das Bildungsengagement aber viel höher. Wie erklären Sie sich das?

Jana Priemer: Wir haben eine andere Systematik. Wir fragen nicht nur nach dem Engagementbereich, zum Beispiel nach „Schule“ oder „Kita“ oder „Weiterbildung“. Das würde den Blick verengen, weil er dann zu sehr auf die formale Bildung und ihre Einrichtungen fällt. Weil wir das Bildungsengagement anhand konkreter bildungsbezogener Tätigkeiten erfassen, können wir zeigen, dass bildungsbezogene Aktivitäten in allen Handlungsfeldern vorkommen, wie eben in der Kultur, aber auch im Sport oder in der Umwelt oder der Nachhaltigkeit.

Redaktion: Haben Sie Hinweise aus ihren Befragungen oder aus Ihrem Wissen, warum sich Menschen explizit für dieses Themenfeld Bildung interessieren und engagieren?

Jana Priemer: Grundsätzlich wissen wir, dass sich Menschen aus unterschiedlichsten Motivbündeln engagieren. Zwei zentrale Motive stehen sich dabei sozusagen gegenüber. Das eine ist der Wunsch, Gesellschaft mitzugestalten, Menschen zu helfen, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Dieses Motivbündel ist beim Bildungsengagement stärker ausgeprägt als in anderen Engagementbereichen. Auf der anderen Seite ist das Motiv weit verbreitet, dass das Engagement Spaß machen soll. Über 80 Prozent der Engagierten geben Spaß als wichtiges Motiv an (Priemer et al. 2024b) – viele davon auch im Bildungsbereich. Ich glaube, gerade wenn wir über Rahmenbedingungen sprechen, ist dieses Spannungsfeld ein ganz, ganz wichtiger Punkt: Natürlich wollen Engagierte etwas bewegen, aber es soll trotzdem Spaß machen.

Redaktion: Was sind Gelingensbedingungen für ein erfolgreiches, sinnhaftes und ebenso spaß- und freudvolles Engagement im Bildungsbereich?

Jana Priemer: Ein ganz wichtiger Aspekt ist, dass Engagierte nicht überfordert und auch nicht mit Aufgaben überfrachtet werden dürfen. Die Leseomi möchte zum Beispiel mit dem Kind lesen, aber sie möchte nicht noch 1.000 Seiten Papierkram ausfüllen. Dieser bürokratische Aufwand führt zunehmend zu Hürden, die Ihnen im Kulturbereich vertraut sind: Wenn man eine Festivität veranstalten möchte, um sich dann mit Fragen der Genehmigungen und GEMA-Gebühren und solchen Dingen auseinandersetzen zu müssen, dann schreckt das doch immer mehr Menschen ab.

Besonders wichtig ist die verlässliche Unterstützung durch die Organisationen. Organisationen können sehr viel leisten, wenn sie für ihre Engagierten da sind. Das zeigen die Daten ganz gut (Priemer et al. 2024b): Die Engagierten erwarten Unterstützung von den Organisationen, sei bei rechtlichen oder bei organisatorischen Fragen.

Ein weiterer Aspekt, den die Organisationen stärker in den Blick nehmen sollten, sind die unterschiedlichen Bedürfnisse der unterschiedlichen Gruppen von Engagierten. Eine engagierte Rentnerin hat ein anderes Bedürfnis an die Rahmenbedingungen des Engagements als ein engagierter Schüler, beispielsweise weil beide unterschiedliche zeitliche Verfügbarkeiten mitbringen. Da sind Konzepte wichtig, welche die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit abholen und auf ihre Motivlagen eingehen. Das wissen wir aus unseren eigenen Daten und dem Freiwilligensurvey (Priemer et al. 2024b): Jüngere Menschen wollen im Rahmen ihres Engagements tatsächlich mehr lernen, was bedeutet, Bildungsangebote gezielt mit dem Engagement zu verknüpfen. Ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so gut sozial integriert sind, haben eher das Bedürfnis, durch das Engagement wieder Kontakt in die Gesellschaft zu bekommen und mehr Teilhabe zu erfahren (Priemer et al. 2024b). Hier gilt es also, Austausch- und Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Ganz interessant hierzu sind Forschungsergebnisse von Kolleg*innen, die sich mit Abbruchgründen von Engagement beschäftigen. Sie zeigen: Engagierten Menschen sollten keine Formate und Inhalte übergestülpt werden, die nicht ihren Interessen und Kompetenzen entsprechen, sondern nur den Organisationsinteressen dienen (Kewes et al. 2025).

Nicht ohne Veränderung: Zivilgesellschaft, Bildungssystem, Staat

Redaktion: Wenn wir das Wissen über zivilgesellschaftliche Bildungsorganisationen und individuelles Engagement in einen gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhang stellen: Gibt es Hinweise darauf, dass sich die Zivilgesellschaft durch ein vermehrtes Bildungsengagement, auch durch eine vermehrte Hinwendung zu Bildungseinrichtungen wie Schule oder Kita, verändert hat?

Jana Priemer: Auf jeden Fall. Wir können zunächst eine Zunahme von Bildungsengagement in den letzten 20, 30 Jahren beobachten (Priemer 2024b), was unterschiedliche Gründe hat. Zum einen kommt diese Entwicklung aus der Zivilgesellschaft selbst, indem sie bestimmte gesellschaftliche Bedarfe erkannt hat. Das kann manchmal bei Einzelpersonen beginnen, aus denen eine Gruppierung hervorgeht, von wo aus dann Initiativen und Strukturen wachsen. Es sind also neue Akteure und neue Themen hinzugekommen, z.B. im Mentoring-Bereich.

Eine zweite wichtige Veränderung bezieht sich auf Strukturen und Governance: Staatliche Institutionen haben in vielen Bereichen gemerkt, dass sie es nicht mehr allein schaffen. Zahlreiche gesellschaftliche Themen, darunter Bildung, können nicht allein dem Staat überlassen werden. Das bedeutet auch, dass veränderte Steuerungsmechanismen greifen müssen und staatliche und öffentliche Akteure versuchen, stärker andere gesellschaftliche Akteure einzubinden.

Wir sehen das am Beispiel der Ganztagsschule: Wenn Ganztagsschulen anfangen, mit bestimmten zivilgesellschaftlichen Akteuren zu kooperieren, dann ist das oftmals auch mit öffentlichen Mitteln und mit bestimmten Erwartungen und Anforderungen an die außerschulische Organisation verbunden. Das begünstigt letztendlich einen Professionalisierungsprozess, aber auch eine stärkere finanzielle Abhängigkeit, weil die Organisationen zusätzlich Personal einstellen müssen. Kooperationen erfordern Zeit, Geld und personelle Mittel. Das heißt, es bedarf auch höherer Koordinierungs- und Verwaltungsaufwände in den Organisationen. Kritisch hinterfragen sollten wir, ob sich eine solche Organisation dann nicht stärker Richtung Dienstleister entwickelt und sich weg vom zivilgesellschaftlichen Kern bewegt.

Redaktion: Glauben Sie umgekehrt, dass sich das Bildungssystem durch ein vermehrtes zivilgesellschaftliches Engagement verändert hat, und wenn ja, an welchen Punkten?

Jana Priemer: Dafür gibt es Indizien, allein dadurch, dass zivilgesellschaftliche Akteure auch zunehmend gestaltend tätig werden wollen. Ich denke dabei an die Mentoring-Gruppen, von denen viele vor allem in den letzten zehn Jahren entstanden sind und die gezielt in die Schulen gehen und kooperieren wollen. Oder ich denke an den Stiftungssektor bzw. die Verbände aus Kultur und Sport und aus allen möglichen Bereichen. Sie fordern als Zivilgesellschaft zunehmend, dass sich das Bildungssystem öffnen und sie einbinden soll. Gut verdeutlichen lässt sich das am Beispiel von Ganztagsschulen. Vielfach werden in den Bundesländern die Nachmittagsbetreuung oder das non-formale Angebot unter anderem über sogenannte Kooperationsvereinbarungen mit zivilgesellschaftlichen Verbänden geregelt. Der Kulturbereich hat diese Vereinbarungen mit erarbeitet und dafür gesorgt, dass es einen verbindlichen Rahmen gibt, um zivilgesellschaftliche Akteure auf lokaler Ebene einzubinden.

Redaktion: Apropos Einbindung – wenn Zivilgesellschaft tatsächlich eingebunden wird, wie schätzen Sie das Spannungsverhältnis zwischen Eigensinn der Zivilgesellschaft und Unterstützungsleistung für das Bildungssystem ein?

Jana Priemer: Zunächst einmal sollten wir schauen, was mit „Eigensinn“ gemeint ist – das klingt zunächst störrisch und bockig. Aber das ist damit nicht gemeint, sondern Eigensinn bedeutet, dass die Engagierten eigene Ideen und eigene Vorstellungen einbringen und umsetzen möchten. Und gerade wenn wir das Beispiel der Ganztagsschule oder der Schule im Allgemeinen anschauen, da gibt es ganz klare Vorgaben und Vorschriften. Der schulische Kontext hat klare Strukturen und wenig Flexibilität. Daraus ergibt sich unweigerlich ein Spannungsfeld – Engagierte haben eine Idee für eine AG in der lokalen Grundschule und diese Idee passt nicht unbedingt mit dem Schulprogramm zusammen.

Neben dem Eigensinn sollten wir immer kritisch hinterfragen, wie Engagierte die Bedarfe von Ganztag und Schule gezielt unterstützen können. Ich hatte erwähnt, dass die Anforderungen dafür groß sind: Eine dauerhafte Verpflichtung ist oft notwendig. Berufstägige Menschen, die sich engagieren, sind an ihre Arbeitszeiten gebunden, die mit den Schulöffnungszeiten kollidieren. Es braucht Regelungen zu den ganzen Themen wie Versicherungsschutz oder Ausfälle. Das ist komplex und benötigt werden daher entsprechende Unterstützungsstrukturen für kleine Vereine, zum Beispiel Koordinierungsstellen wie im Sportbereich. Das könnte auch ein Modell für den Kulturbereich sein.

Redaktion: Sie haben in verschiedenen Studien bestimmte Verhältnisse herausgearbeitet, in denen Zivilgesellschaft sich zum Bildungssystem positioniert. Könnten Sie diese kurz umreißen?

Jana Priemer: Dazu ist zunächst hilfreich, auf die drei zentralen gesamtgesellschaftlichen Funktionen der Zivilgesellschaft zu schauen (Adloff 2005). Das eine ist zunächst die Interessenvertretungsfunktion, die Advocacy-Funktion. Das heißt, Zivilgesellschaft tritt als Gegenspieler zu staatlichen Instanzen auf oder als Interessensvertreter von weniger stark vertretenen Interessen. Diese Rolle führt zu einer Beziehung, die sich kritisch gegenüber staatlichen Instanzen äußert – auch im Bildungsbereich oder in der (Sozio-)Kultur. Die zweite Rolle ist die Unterstützungsfunktion. Das klassische Beispiel sind Fördervereine, also ein Schulförderverein oder eben ein Kulturförderverein, der eine Schule oder eine staatliche Kultureinrichtung unterstützt. Die Initiative geht in der Regel Bottom-up von der Zivilgesellschaft aus und diese leistet dann Dinge, die vom Staat nicht oder nicht in einem hinreichenden Maß zur Verfügung gestellt werden. Und dann gibt es noch die Dienstleisterfunktion. Diese unterscheidet sich insofern von den beiden anderen, als dass sie eher staatlich induziert ist. Diese Funktion ist in Deutschland sehr stark vor allem im Bereich der Sozialen Dienste verbreitet, zum Teil auch in der Jugendhilfe. Es gibt bestimmte staatliche Aufgaben, die gezielt an zivilgesellschaftliche Akteure übertragen werden. Dafür bekommen zivilgesellschaftliche Akteure entsprechende finanzielle Mittel, und das begünstigt natürlich die Entwicklung und den Ausbau bestimmter zivilgesellschaftlicher Akteure. Dienstleister passen sich viel stärker an die Aufgaben an, die übernommen werden sollen. Und darauf hat der Staat natürlich viel, viel stärker Einfluss. Hier ist eine Grenzlinie berührt, inwieweit das eigentlich noch „reine“ Zivilgesellschaft ist (Priemer 2024a).

Was tun?! Fazit für Zivilgesellschaft und Kulturelle Bildung

Redaktion: Welche Hinweise würden Sie kulturellen Bildungsakteuren aus der Zivilgesellschaft geben, um sich unter dieser zivilgesellschaftlichen Perspektive weiterzuentwickeln und zu positionieren?

Jana Priemer: Zunächst einmal geht es darum, dass sich Zivilgesellschaft, und damit auch die Kultur, als Bildungsakteur positioniert, um besser sichtbar zu werden und angesprochen zu werden. Wie ich bereits erwähnte, brauchen wir einen Kulturwandel: Bildung muss noch stärker als bisher als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen werden. Solch ein Kulturwandel kann nur erfolgen, wenn auf der nicht zivilgesellschaftlichen Seite überhaupt klar wird, was zivilgesellschaftliche Akteure sind und leisten. Die Besonderheiten, die Zivilgesellschaft ausmachen, sind oftmals gar nicht in den Köpfen der Akteure des formalen Bildungssystems. Hier geht es um ein Voneinander-Lernen, um ein Stück weit Verständnis für die andere Seite zu entwickeln.

Die Zivilgesellschaft muss zweitens die eigene Stimme erheben, um bestimmte Rahmenbedingungen zu verändern, gerade wenn es um Kooperationen zum Beispiel mit Schulen geht. Laut werden ist hier das Stichwort – aber dies sollte nicht nur als Hilfeschrei an den Staat verstanden werden.

Was ich mir auch von der Kulturellen Bildung wünschen würde, ist die weitere Stärkung von Kooperationen – und zwar nicht nur mit staatlichen Institutionen, sondern auch mit Unternehmen und innerhalb der Zivilgesellschaft. Im Bildungsbereich wird bereits intensiver zusammengearbeitet als in anderen Bereichen des Engagements. Dennoch erkennen wir in den Daten, dass eher die großen zivilgesellschaftlichen Akteure miteinander arbeiten und die kleinen Vereine eher außen vor bleiben. Da ist es notwendig, dass große, starke Akteure denjenigen unter die Arme greifen, die keine so starken Personalressourcen haben. Ich denke beispielsweise an unterstützende Strukturen durch Hauptamtliche, um Engagierte besser koordinieren zu können. Ich denke zudem daran, fair miteinander umzugehen, anstatt den Ellenbogen auszufahren. Das bedeutet: Es geht auch um Solidarität in der Zivilgesellschaft und Kulturellen Bildung.