„traveling objects“ – Anfassen – Anordnen – Umordnen – Un_ordnen. Eine künstlerische Intervention
Abstract
In Ihrem Beitrag laden die beiden Autorinnen aus einer künstlerisch-vermittelnden Perspektive zur Auseinandersetzung mit dem Begriff Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung ein. Ausgangspunkt ist die gemeinsame Reflexion der künstlerischen Intervention traveling objects im Rahmen der 14. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung. Im Fokus des Textes steht die sinnlich leibliche Begegnung einer Sammlung von Objekten, den traveling objects, und die Auseinandersetzung mit der Sinnlichkeit von Ordnungen wie auch der Möglichkeit ihrer Un_ordnung.
In ihrer Reflexion agieren sie auf drei Ebenen: im Kontakt mit ausgewählten Objekten, in der Rückschau auf Erfahrungen während der Tagung und als Positionierung in Bezug auf das Konzept des Wissenstransfers. Der Beitrag irritiert bewusst die Klarheit, auf welcher Ebene gerade gesprochen wird, hin zu einem Verständnis des Textes als kollektivem Raum des Auslotens von Bedingungen für das „Experiment Wissen“.
traveling objects – das waren Fundstücke: weggeworfene, verlorene, zerbrochene, hergestellte, vernachlässigte, gehütete Dinge.
traveling objects – war eine Sammlung aus 72 Objekten: eine Scherbe, ein Teil eines Plastikspielzeugs, ein Stück geschliffenes Glas, ein Drahtgewirr, ein weiches Holzstück, ein schweres Metallteil einer unbekannten Maschine, etc.
traveling objects – war ein Experiment, das die Im/Materialität von Wissenstransfer über die Anwesenheit dieser Dinge, ihrer Spurhaftigkeit adressierte: Scherben, Erinnerungsfragmente, Splitter, lückenhaftes Wissen, Berührung, Erinnerungsblitze, Verwunderung…
traveling objects – war eine künstlerische Intervention im Rahmen der Tagung Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung zum Thema Wissenstransfer. Als künstlerische Intervention hat sie – im besten Fall – Konventionen einer akademischen Tagung herausgefordert.
1. traveling objects – Eine Tagungsintervention als Prozess
Was wollten wir?
Unsere Grundidee und unser Anliegen war, Wissenstransfer als spezifische Situationen gelebter Beziehungen zu verstehen. Wir wollten bei der Tagung einen offenen Raum anbieten, um in einen Dialog über Forschungs- und Praxisperspektiven auf Wissenstransfer und die damit verbundenen Prozesse und Formate zu treten: forschend, leiblich-spürend, künstlerisch, nachdenkend, reflektierend, erprobend!
Dafür haben wir über die Dauer der Tagung in der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel die traveling objects als Installation eingebracht mit folgender Einladung:
traveling objects –
zirkulieren und werfen die Frage auf, wie individuelle und kollektive Wissens- und Deutungsordnungen als Praxis hergestellt werden.
- Was findest du vor?
- Was tust du?
- Was fragst du dich?
Anfassen - Anordnen - Umordnen - Un_ordnen - Anfassen - Anordnen - Umordnen - Un_ordnen - Anfassen - Anordnen - Umordnen - Un_ordnen - Anfassen - Anordnen – Umordnen...
Zusätzlich richteten wir eine Emailadresse ein, auf die Menschen ihre Gedanken, Fotos, Impressionen mit uns teilen konnten.
Was ist während der Tagungstage passiert?
Dinge sind verschoben worden und wurden anders angeordnet. Ein Objekt reiste in den Aufenthaltsraum und wurde in einer Obstschale positioniert. Es gab zwar einige Kommentare auf dafür angebotene transparente Folie an den Fenstern, aber keine Einsendungen auf unserem Email-Postfach. Es blieb ein unbeobachteter, sich wandelnder Raum und es war nicht einschätzbar, in welcher Form Menschen mit der Installation und den traveling objects in Begegnung/Kontakt/Resonanz gingen. Am letzten Morgen jedoch fanden wir diese große Umordnung vor.
Wir wussten nicht genau, ob und was die traveling objects tatsächlich auslösten. Aber es sind genau diese unsichtbaren Momente der Veränderung, die uns interessierten. Ebenso gab es die Neugier, ob überhaupt etwas passieren würde; wir wollten auch das Nicht-Tun als eine Form der möglichen Interaktionen anerkennen. Was genau zum Interagieren – oder eben nicht – mit unserer Versuchsanordnung in Form einer Sammlung angeregt oder motiviert, in welcher Form Menschen zum Handeln veranlasst hat, können wir nicht genau wissen. Wir können nur vereinzelte Situationen rekonstruieren, in denen wir ein „traveling“ beobachtet haben.
Sind wir gescheitert? Oder ist das genau der Punkt?
Wissenstransfer suggeriert einen zielgerichteten und erfolgten Transfer, mit „traveling“ hingegen wollten wir das Reisen betonen, ein Erlebnis zwischen Erfahrungsorten, inkorporierten Erinnerungen, Erfahrungswissen, wissenschaftlichen Konzepten. Wichtig war uns dabei, dass Wissen - als Verb und als Substantiv - situiert ist, d.h. auf eine ganz spezifische Weise entstanden ist und aus der Verschränkung subjektiver und verkörperter Erfahrungen wie auch Interaktionen, welche in sozialen Ordnungen eingebettet sind (vgl. Haraway 1988).
Und jetzt?
Jetzt wird dies als dialogischer Text ein visuelles Gespräch zwischen uns: als Künstler*innen, mit Bildern einzelner traveling objects und als ein Fragen danach, was die künstlerische Intervention für Wissenstransfer bedeutet, bedeuten kann oder bedeuten könnte. Denn wir wollen ein denkendes Zirkulieren nicht nur zwischen uns eröffnen, sondern den Text durch und mit den traveling objects gestalten. Sie sind visuelle – und während der Tagung sinnlich erfahrbare – Fragmente unserer sozialen und dinglichen Weltordnung. Dieser Beitrag bedeutet für uns eine Form graphischen Erzählens, den Yen Sulmowski als einen Versuch beschreibt, „der wissenschaftlichen Prosa eine [...] Parallelpoesie zur Seite zu stellen“ (Sulmowski 2023:541). Denn wir verstehen die visuellen und textlichen Teile als lebendigen und erkenntnisgenerierenden Zwischen-Raum – als eine Form des Gesprächs, in dem Leser*innen diesen Zwischen-Raum selbsttätig gestalten, erweitern, überbrücken, ergänzen oder zergliedern können. In diesem Sinne ist das Gespräch die Fortführung der Intervention mit den traveling objects und wieder ein Versuch, sinnliches Wissen einzubinden – und im besten Fall Einfluss zu nehmen auf die machtvollen Prozesse von Wissensproduktion.
Und damit kommen wir zu unserem Nachdenken, was die traveling objects zur Thematik des Wissenstransfers beitragen (können).
2. traveling objects – Impulse für Wissenstransfer
Warum eigentlich auf einer Tagung zu Wissenstransfer eine kuratierte Sammlung von Objekten?
Die Intervention basiert mit unserer Objektanordnung auf der Praxis des Umgangs mit Sammlungen, denn Sammeln ist Erkenntnistätigkeit (Duncker 2010:44). Das Grundprinzip jeder Sammlung ist, dass Dinge, indem sie aufgefunden werden, aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und an einem neuen Ort zusammengetragen werden. In diesem Prozess erhalten sie neue Bedeutungen, es entstehen neue Bedeutungszusammenhänge, die ursprünglich nicht verknüpft waren. Im Rahmen des eigenen Interesses werden neue Erkenntnisse generiert.
Das Anfassen, Anordnen, Umordnen, Un_ordnen, zu dem wir explizit eingeladen hatten, gänzlich geleitet von eigenen Interessen der Teilenehmenden, sehen wir als eine Form kuratorischer Praxis. Denn Kuratieren „zielt stets auf die Herstellung von Öffentlichkeit und erschließt im Idealfall durch Verknüpfungen einen diskursiven Möglichkeitsraum mit offenem Ausgang" (Sternfeld 2015:345).
In einem weiten Verständnis bringt dies komplexe, vielschichtige und oft unvorhersehbare Beziehungen zwischen Materialitäten, Zeitlichkeiten und Identitäten hervor, die Geschichte(n), Erinnerungen und imaginierte Zukünfte umfassen (vgl. Schorch 2021). Und zwar als sinnliche und leiblich-affektive Eindrücke. Eindrücke verstehen wir dabei als ein Sich-Ein-Drücken: eine Prägung, ein Druckpunkt, eine Spur, etwas Eindrückliches.
In diesem Sinne waren die traveling objects eine Versuchsanordnung auf Basis einer kuratierten Sammlung:
- Ein Ort. Mehr oder weniger sichtbar.
- Gesammelte Dinge. Mehr oder weniger ansprechend.
- Zeit. Mehr oder weniger da.
- Begegnung. Mehr oder weniger passiert.
Die Fragen, welche die Intervention inspiriert hatten, waren:
- Wie wird Wissen auf einer Tagung zu Wissenstransfer zirkulieren?
- Welches ‚Wissen‘ wird zur Tagung eingeladen?
- In welchen Formaten präsentiert, geteilt, errungen und generiert?
- Wie wird Wissenstransfer auch in räumlichen Anordnungen, Präsentationsformaten, Atmosphären, in den Pausengesprächen und körperlichen Interaktionen Teil des Tagungsgeschehens?
Und: Was können die traveling objects auf dieser Tagung auslösen?
Kann es gelingen, dass sie zu einer ästhetisch-leiblichen Praxis werden, die die Tagung mitgestaltet? Werden sich Menschen Zeit nehmen, in Kontakt zu gehen? Werden die Objekte auf Reisen gehen? Werden Veränderungen wahrnehmbar? Wie werden Menschen diesen Ort mit ‚Fragmenten von Welt‘, Kaputtem, Weggeworfenem, Gesammeltem in Relation zum Tagungsthema empfinden?
In diesem Sinne stellten die Objekte nicht nur etwas dar, sondern sie zeigten etwas an:
In jeder sozialen Praxis ist Wissen im Spiel: Wir, als Menschen, ordnen ein, wir kategorisieren, wir agieren auf der Basis von Vorwissen oder ästhetischen Vorlieben etc.; zugleich sind alle Vorgänge eingelassen in intersubjektiv gewachsene, biographisch erworbene und geteilte Wissensbestände. Und zugleich steckt Wissen nicht nur in Menschenköpfen, sondern in den sozialen Praktiken selbst, durch die wir Realitäten schaffen. Praktiken verstehen wir aus einer praxeologischen Perspektive als Verkettung von Aktivitäten, als situative Verkettungen, die viele(s) involvieren – Räume, Dinge, Atmosphären, Menschen, Technologien und andere situative Akteure. In dem Zusammenspiel dieser Akteure ereignet sich etwas, eine Situation manifestiert sich (vgl. Schäfer 2016).
Die traveling objects sollten ein Zirkulieren initiieren zwischen Menschen, Orten, Dingen, und auch Lichtverhältnissen und Zeiträumen. Sie standen als künstlerische Intervention für das, was wir als Wissenstransfer verstehen wollen: die sinnlich-leibliche Begegnung mit Welt, in der sich Routinen bilden und als Handlungsabläufe manifestieren, in der Wahrnehmungen Welt aber auch immer wieder neu erlebbar machen und neue Bedeutungszusammenhänge entstehen.
Aber wie entsteht aus dieser Versuchsanordnung ein sinnlich-leiblicher Bedeutungszusammenhang?
Mit den traveling objects ging es uns auf der Tagung nicht um Texte bzw. Begriffe, ihre Bedeutung und Bedeutsamkeit für das Thema des Wissenstransfer. Es ging nicht um die Arbeit an Begriffen (vgl. Bal 2012:26); traveling objects, so unsere Hoffnung durch die Installation, ‚require the labor of perceiving‘ – bedürfen der sinnlichen Wahrnehmungs-Arbeit.
Der Begriff des Wissenstransfers hegt die Hoffnung auf die Übertragbarkeit von Wissen, die Installation der traveling objects will dieser Hoffnung die sinnlich-leibliche Fundiertheit von Wissen(-sgegenständen) anbeistellen.
Im besten Fall lösen die Gegenstände Momente der Überlagerung des gegenwärtigen Moments mit einer Erinnerungspur aus, lösen eine Vervielfältigung von Perspektiven aus, weil die Umordnungen (Wissens-)Dinge de_kontextualisieren und Gewissheiten un_ordnen, also desorientieren:
„Moments of disorientation are vital. They are bodily experiences that throw the world up, or throw the body from its ground. Disorientation as a bodily feeling can be unsettling, and it can shatter one’s sense of confidence in the ground or one’s belief that the ground on which we reside can support the actions that make a life feel livable“ (Ahmed 2006:157).
Die Überzeugung zersplittern lassen, so formuliert es Sara Ahmed für Momente der Desorientierung. Was könnte es besseres geben für Momente des Wissenstransfers, als eigene Wissensbestände und den Glauben an sie zersplittern zu sehen (wie die traveling objects selbst auch nur Splitter bzw. Fragmente von Dingen waren)?
Bedeutungszusammenhänge zu de_konstruieren ist dann vielleicht auch eine Form von Wissenstransfer, in dem sich Bedeutung(-szuweisungen) verschieben. So beschreibt Mieke Bal: „Meaning is a case of just such an ordinary word-concept that casually walks back and forth between semantics and intention“(Bal 2012:23). Und vor diesem Hintergrund folgen wir Bal, in deren Augen das Konzept von Konzepten selbst immer wieder bereist werden muss. Bedeutungsgeladene Konzepte sind ihr zufolge „a territory to be travelled, in a spirit of adventure“ (Bal 2012:23).
3. Dialog mit traveling object Nr. 28 – sinnlich-leibliche Begegnung eingehen
Liebes traveling object Nr. 28,
du bist heute meine Wahl, dich wollte ich heute berühren, bestaunen, dich erwägen im Sinne deines tatsächlichen Gewichts. Und ich war auch neugierig, oder begierig, wie du wohl klingst, wenn ich gegen dich klopfe und auch, wie sich deine Oberfläche genau anfühlt.
Mich faszinieren die Spuren, die ich an dir feststellen kann und genauso auch, mir zu erlauben, meinen wilden Gedanken und meiner Kreativität Raum zu geben und mir vorzustellen, was du einmal genau gewesen bist. Was war dein Zweck? Wann bist du hergestellt worden, wofür und an welchem Ort? Welche Flüssigkeit war in dir? Denn das lässt mich mein Erfahrungswisssen erkennen, du warst ziemlich wahrscheinlich eine Flasche oder zumindest ein Gefäß. Wie bist du zerborsten und zerbrochen, und irgendwie in den Rhein gekommen, an dessen Ufer ich dich entdeckte. Bist du dort gelandet mit Schutt aus dem 2. Weltkrieg, weil du so herausragend dick bist und lagst nun Jahrzehnte tief auf dem Grund? Deine Farbe ist ungewöhnlich und vermutlich hat mich das affiziert und mir eine „ästhetische Erfahrung verheißen, also das Versprechen einer genussvollen Beschäftigung“ (Duncker 2010:43).
Und geht es nicht um genau das im Kontext von Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung? Das Wahrnehmen mit den Sinnen, um handelnd zu Erkenntnissen und zu Wissen zu gelangen? Gemeinsam teilend und gemeinsam ästhetisch forschend?
Denn das Grundprinzip der Ästhetischen Bildung, als einem Weg Wissen zu erwerben, ist das Erleben von ästhetischen Erfahrungen. Sie sind die Grundlage für einen Perspektivwechsel zur Neustrukturierung und -sortierung des eigenen Denk- und Wahrnehmungsraumes. Ästhetische Erfahrungen ermöglichen, selbst mit und an der umgebenden Welt zu wachsen und sich zu bilden (vgl. Brandstätter 2012:174):
„Sie sind in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, drängen aber zur reflexiven Verarbeitung, ohne dabei den Bezug zur Körperlichkeit zu verlieren. In ästhetischen Erfahrungen erleben wir uns selbst und die Welt gleichzeitig und werden zu vielfältigen Wechselspielen angeregt: zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, zwischen Emotionalität und Vernunft, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Materialität und Zeichencharakter, zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem“ (Brandstätter 2012:180)
Um diese Potenziale in medial geprägten und auf Konsum ausgerichteten Lebenswelten zu nutzen, brauchen wir Räume, Orte, Settings und künstlerische Interventionen, in denen ästhetische Erfahrungen in ihrer Leiblichkeit gemacht werden können (vgl. Brandstätter 2012:180). Der Mensch ist und bleibt also „Angelpunkt der Perspektiven, mit denen er die reale Welt wahrnimmt“ (Schuhmacher-Chilla 2012:199) und ist „ein fühlendes, spürendes, sich selbst und die Welt wahrnehmendes und in die Welt eingreifendes, also handelndes Wesen, dessen Subjektivität unhintergehbar und unübersteigbar ist, zugleich präsent in Zeit und Raum“ (Liebau 2014:102).
Also frage ich mich und ich frage dich, traveling object Nr.28: Wer hat dich schon alles vor mir berührt, was ist alles passiert, bis zu dem Moment, in dem ich dich aufhob und zur Sammlung hinzufügte? Was weiß ich von dir? Ich kann nur mutmaßen und wirklich sicher ist nur die Tatsache, dass du aus Glas bist:
Glas (von germanisch glasa „das Glänzende, Schimmernde“, auch für „Bernstein“) ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe amorpher Feststoffe, die beim Erhitzen im Bereich der Glasübergangstemperatur in den flüssigen Zustand übergehen, während nicht glasartige amorphe Substanzen dabei kristallisieren. (Spektrum o. J.)
Das ist ein Wissen aus einem Online-Lexikon, ein Wissen, das „gesichert“ ist, wissenschaftlich fundiert und digital zugänglich. Aber welche Reaktionen und Resonanzen in mir gibt es noch? Und was an dir motiviert andere, dich im Rahmen der Intervention auszuwählen, in die Hand nehmen und deine Position im Gefüge der kuratierten Anordnung zu verändern? Was ist es darüber hinaus, dass mich jetzt wieder ins Gespräch mit dir zieht?
Du, das Objekt, bist wieder gereist, die grüne Glasscherbe ist jetzt in exakt diesem – meinem lesenden – Moment hier. Ich sehe dich, aber ich erinnere mich auch daran, dich in den Händen gehabt zu haben. Eine taktile Erinnerung. Das „reisende Objekt“ als Wiederaufnahme eines Dialogs. Eines Dialogs mit dir, dem Objekt, und unzähligen Assoziationen, Bildern oder Gedanken, die ich erlebe, während ich den Text lese und die Glasscherbe vor Augen habe: Zwischen Erinnerungsbildern und Imaginationen. Fragmente meiner Erfahrungen überlagern sich und nehmen situativ eine Gestalt ein.
4. Dialog mit einer Zeichnung - Fragmentierte Ordnungen und Ohnmacht
Sammlungen sind ein Versuch, die Welt und ihre Phänomene produktiv zu entschlüsseln und sie erzählen auch immer etwas über ihre Sammler*innen, quasi einem „Weltentwurf im Mikroformat“ vergleichbar. Unsere Sammlung der traveling objects erzählt von uns beiden, weil wir die Objekte wegen ihrer Verletztheit, Versehrtheit gemeinsam gewählt haben. Keines davon ist „heil“, intakt, funktionsfähig.
Die gesammelten traveling objects sind als Splitter das Geronnene von sozialen Welten und ihren Spuren. Sie alle sind vermeintlich einflusslose und machtlose Dinge. Und dennoch führt die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit und ästhetische Hingabe an sie zu einer intensiv gelebten Gegenwart eines „im Moment sein“, zu einer Fokussierung der Sinne (Duncker 2010:43).
Die hier gewählte Abbildung ist eine Zeichnung, in der wieder eine neue Anordnung entstanden ist. Wieder ein Moment, in denen die Objekte reisen und als imaginierte oder realisierte Umordnung sichtbar werden. Die von der Künstlerin Johanna Benz während der Tagung angefertigte Zeichnung – eine von vielen ‚graphic recordings‘, über die sie die Tagung zeichnerisch begleitete, kommentierte und intervenierte – zeigt eine Auswahl unserer Sammlung. Ein rundes Objekt ersetzt den Buchstaben „O“ und bildet das Wort „Ohnmacht“, darüber das Wort „Zuviel“. Wie sind der Verfasserin diese Worte beim Zeichnen vor Ort in den Sinn gekommen? Und für was könnte diese Ohnmacht im Rahmen der Tagung zu Wissenstransfer stehen? Geht es um Ohnmacht gegenüber etablierten Wissensbeständen und -ordnungen, Ohnmacht gegenüber sprachlichen Setzungen, Ohnmacht als subjektiv empfundener Zustand im Rahmen von Wissensverhandlungen?
Ohnmacht verweist auf ein Sein ‚ohne Macht‘, vielleicht auch ‚ohne Handlungsmacht‘. Zeigt sich hier nicht vielleicht ein Gedanke, der die machtvolle Atmosphäre einer wissenschaftlichen Tagung adressiert und damit auch das Verhältnis von Macht und Wissen?
Wie kann Wissenstransfer verhandelt werden, ohne Machtordnungen zu adressieren? Können wir Umordnen und Un_ordnen wirklich wagen?
5. Experiment Wissenstransfer? Anfassen – Anordnen – Umordnen – Un_ordnen?
“When we are orientated, we might not even notice that we are orientated: we might not even think ‘to think’ about this point. When we experience disorientation we might notice orientation as something we do not have.” (Ahmed 2006:5f.)
In diesem Sinne ist unsere Sammlung von Splittern, von Kaputtem, von Geschundenem, Unklarem und Übriggebliebenem, sind die traveling objects ein Versuch, etwas zu erschüttern. Es geht um die kleinen Momente der Überlagerung und des Aufbrechens von Gewissheiten – und der Desorientierung, die vielleicht dadurch entsteht.
In diesem Fall kommen wir zurück zur Wahrnehmungsarbeit als Bedingung dafür, in eine Situation einzutreten ohne Gewissheit, was daraus entstehen wird. Diesen Moment der Verunsicherung einzugehen, dieses Moment der Ent-Sicherung sehen wir als Potenzial. Es ist ein Moment der Vulnerabilität, der Verletzlichkeit, in dem Gewissheiten splittern und die sicher-geglaubte Position in einer Erfahrungs-Wissens-Landschaft nicht mehr trägt. Desorientierung als vulnerabler Moment:
„Zum einen ist Vulnerabilität untrennbar mit Verkörperung verbunden. Zum anderen bewegt sich Vulnerabilität offenbar im Wechselspiel zwischen Passivität und Aktivität, des Verletzt Werdens und Verletzens. Das führt zu Fragen der Ungleichheit und Handlungsmacht. Ist Verwundbarkeit unweigerlich mit Ohnmacht verbunden oder gibt es eine Handlungsmacht, die aus dem Verwundbar Sein herrührt?“ (Govrin 2022)
Was könnte aus der Anerkennung dieser Möglichkeit entstehen?
Vielleicht geht es darum, das Un_ordnen, Anordnen und Umordnen als Chance zu begreifen, aus der Erschütterung und Irritation heraus, diese Momente der Verunsicherung als kostbare und notwendige Freiräume anzuerkennen, die manchmal auch einfach Leerstellen bleiben? Das hat in jedem Fall auch mit „Aushalten“ zu tun, mit dem immer wieder beschworenem, aber dann doch nicht gerne erlebten „Scheitern“. Es braucht Mut, etablierte Ordnungen zu stören, anders anordnen zu wollen, unsicher auf Bestehendes zu schauen und die Un_ordnung zu wagen – fern von „Gewissheiten“, fern von „Gewusstem“.
Vielleicht stehen die traveling objects als Sammlung für eine Hoffnung, um den Begriff des „Wissenstransfers“ in der Kulturellen Bildung durch das Angebot der sinnlich-leiblichen Auseinandersetzung und des kollektiven Un_ordnens kritisch zu befragen. Das ist es, was es für das Experiment Wissen – in der Wortbedeutung von Experiment als „gewagter, mit Risiko verbundener Versuch“ (DUDEN o. J.) – immer wieder braucht: Orte, Räume, Dinge für gleichberechtigte Teilhabe, für das Aushandeln von Konflikten, für das Betroffen-Sein und das Eingreifen in Ordnungen.
In diesem Sinne: keep traveling!