Die Trauerweidenliege. Oder: Materialien und relationale Subjekte
Abstract
Menschen sind umgeben von Dingen, Stoffen, Materialien. Menschen in den westlichen Industrieländern leben in einer Dauerpräsenz von vor allem verarbeiteten Dingen. Wir sind daran gewöhnt, dass diese sich verändern, dass wir sie begehren, dass sie altern, Funktionen besitzen und verlieren, Status symbolisieren und etwas über uns erzählen. Manche davon lieben wir, manche sind einzigartig und andere banal und wertlos – aber ihre Geschichten sind in unsere Geschichte verwoben. Dennoch sprechen wir ihnen jede Lebendigkeit ab. Im Versuch, pädagogische Orientierung für die künstlerisch-pädagogische Praxis zu finden, die nicht länger auf dem Gegensatz von Natur und Kultur, von aktivem Subjekt und reaktivem Objekt gründen kann, verbinden sich Beobachtungen aus der Praxis mit Theorie-Impulsen aus dem Feld des Neuen Materialismus. In vier Kapiteln werden Reflexionen zum Neuen Materialismus mit und aus der Restitutionsdebatte mit Beschreibungen eines Projektverlaufs verwoben; dabei geht es um die Frage, welche Bedeutung dem Material in einem so entworfenen pädagogischen Relationismus zukäme.
„In gewissem Sinne sind Häuser ja lebende Wesen, die mit den Menschen in beispielhafter Symbiose leben. Ich freute mich von Herzen, denn man konnte ihnen genau ansehen, dass ihre Symbiosepartner zurückgekommen waren. Diese erfüllten die leeren Innenräume mit Betriebsamkeit, mit Körperwärme, mit Gedanken. Ihre kleinen Hände reparierten alle Mängel und die vom Winter geschlagenen Kerben, sie trockneten feucht gewordene Mauern, putzten Fenster und reparierten Spülkästen. Und die Häuser sahen nun so aus, als seien sie aus dem schweren Schlaf erwacht, in den die Materie verfällt, wenn man sich nicht um sie schert.“
Olga Tokarczuk „Gesang der Fledermäuse“
In vollendeter Beziehungslosigkeit. Bedingungen einer Praxiserfahrung
Die Jugendlichen im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren nehmen entgegen der Absprache nicht freiwillig an dem Projekt teil, das ich Monate zuvor mit dem Künstler Erik Göngrich für eine gymnasiale Oberstufe entwickelt hatte. Eine Crux der kulturellen Bildungsarbeit auf Projektebene besteht darin, dass es nicht gelingen mag, die adressierte Gruppe zu finden, bzw. dass Projektanträge ohne Kenntnis der Zielgruppe geschrieben werden müssen; zeitliche Verzögerungen tun ein Übriges. So finden wir uns nach dem pandemiebedingten Schulausfall mit einer Gruppe von Siebtklässler*innen aus einer Berliner Sekundarschule zusammen. Unter der Schirmherrschaft des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) starten wir in eine Zusammenarbeit zum Thema Schule, Kunst und Klima, die acht Monate dauern und mit einer Präsentation an diesem renommierten Haus enden wird. Für die 17 Jugendlichen fiel der Beginn ihrer Pubertät mit langen Monaten häuslicher Isolation zusammen; sie wirken verunsichert, introvertiert, und manche von ihnen auch misstrauisch. Im Verlauf unserer gemeinsamen Arbeit zeigten sich Symptome und Ausdrucksformen von Verstörung, deren dramatischer seinen Höhepunkt unmittelbar vor der Projektpräsentation fand als sich eine Teilnehmende vorsätzlich mit einer Glasscherbe ins Handgelenk schnitt.
Da sind Erik Göngrich, Künstler und Gründer der „Mitkunstzentrale“, und ich, Künstlerin, Schreibende und Lehrende. Bereits während der ersten Begegnung wird klar, dass wir die ursprüngliche Idee einer inszenierten Gerichtsverhandlung fallen lassen und andere Zugangsweisen finden müssten (wir hatten uns auf die Arbeit mit einem Oberstufenkurs eingestellt); deutlich wurde, dass Zugangsweisen jenseits des Sprechens wichtig sein würden, denn der Umgang mit Worten in der Gruppe war aggressiv. Von da an begann ein offener Prozess: Er galt der Suche nach Formen des Austauschs, die nicht von Abwehr und Herabsetzung geprägt sein würden, sondern etwas Produktives zuließen, etwas, das für die Jugendlichen selbst, aber auch für uns und weitere Betrachter*innen von Interesse sein sollte, etwas, das mit Verständnis, Schönheit und Sinngebung zu tun haben solle.
Schnitt. Als Erik und ich uns acht Monate später, nach dem offiziellen Projektende zwischen den Exponaten der Ausstellung im HKW wiederfanden, versuchten wir das schwer Verständliche zu verstehen. Wir hatten anzuerkennen, dass nach Monaten regelmäßiger Treffen, nach den Tagen gemeinsamer Arbeit, nach Spaziergängen und Essenstafeln, nach Begegnungen mit Naturbeobachter*innen und weiteren Künstler*innen, nach schließlich einer Ausstellung und kleinen Aufführung, keine persönliche Beziehung zwischen uns und der Gruppe entstanden war – wenngleich Momenten unmittelbarer Begegnung stattgefunden hatten. Ein Phänomen blieb dabei ihre ebenso widerwillige wie konsequente Anwesenheit, sie waren immer da gewesen– in perfektionierter Beziehungslosigkeit uns gegenüber. Diese Verweigerung oder Unfähigkeit zu tatsächlicher Begegnung hatte sich anfänglich auch in der Begegnung mit Materialien gezeigt: Je unerfahrener im Umgang mit dem Stofflichen, mit handwerklichen und gestalterischen Handlungen, desto größer waren die Pläne. In Konsequenz führte dieses Verhältnis sehr bald zu Frustrationen.
Den Versuch, das Beschriebene zu verstehen und einordnen zu können, verknüpfe ich im Folgenden mit Reflexionen zu Darstellungen anderer, die sich in beeindruckender Weise mit dem postkolonialen Thema der Restitution von Kunstwerken und Kulturgegenständen auseinandergesetzt haben. Ich werde versuchen darzustellen, warum ich darin eine Verbindung sehe, die für die künstlerisch-pädagogische Arbeit von Belang ist.
Material, das handelt
Der Mensch hat Systeme der Beziehungslosigkeit errichtet, deren expansivstes der Kolonialismus ist. Postkoloniale Denker*innen machen uns die Dimension dieses von Europa verschuldeten Traumas in den ehemaligen Kolonien bewusst. Bis heute wirkt, neben der fortgesetzten Ausbeutung von menschlichen und materiellen Ressourcen, die Abwesenheit materieller Güter fort. Ich werde im Folgenden darauf eingehen, was diese verursacht. Als Gegenmodell schlage ich das Relationale Subjekt als Ziel materialistischer Bildungsprozesse vor.
In der deutsch-togolesischen Theaterproduktion Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr wird von neunzig Prozent afrikanischen Kulturgütern gesprochen, die in Folge von Raub, Plünderung und Betrug in den Depots europäischen Museumskeller lagern; viele der Kisten wurden in den vergangenen 200 Jahren nicht einmal geöffnet, heißt es dort. Die Koproduktion von Lomé, Togo und München, in der eine geschnitzte Puppe die Hauptrolle spielt, wurde von Serge Aimé Coulibaly und Jan-Christoph Gockel 2022 an den Münchner Kammerspielen realisiert. Mit dem Titel assoziieren sie den Film Les statues meurent aussi von Chris Marker und Alain Resnais, der bereits 1953 die bedrohte Lebendigkeit geraubter Masken thematisierte.
Die ihrer Werke und Werte beraubten Gemeinschaften weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass die Aufbewahrung in Kisten und Vitrinen sowie die Verschleppung aus dem eigentlichen Wirkungskreis den Artefakten ihre Kraft und eigentliche Bestimmung nahm und diese in Folge auch den menschlichen Gemeinschaften, aus denen sie stammen, vorenthalten blieben. Benedicte Savoy schreibt von „… bewusste[r] Entfremdung und Dekulturation der unterworfenen Bevölkerung, deren psychologisches Gleichgewicht durch den Verlust von identitätsstiftenden, über Generationen weitergegebenen Gegenständen teilweise dauerhaft zerstört“ (Savoy/Sarr 2019:21) sei.
Unser Konzept hatte ursprünglich performatives Arbeiten vorgesehen. Entwickelt werden sollten Texte, Rollen und Kostüme für eine inszenierte Gerichtsverhandlung, die auf einer Klimaklage beruhten. Der Besuch im Haus der Materialisierung am Alexanderplatz, einer kuratierten Sammelstelle für benutzte Materialien, die sich eine kulturelle Kreislaufwirtschaft zum Ziel gesetzt hat, diente zur Anregung, denn irgendwann, dachten wir, würde ja eine Bühne gebraucht. Schlagartig jedoch erledigte sich das – die überwältigende Präsenz der Dinge, ihre Agenden und ihre Wirkungsweisen übernahmen den weiteren Projektverlauf. Der Ansatz, mit Argumenten und Geschichten zu arbeiten, hatte gegenüber der Versammlung der Dinge keine Chance. Die Jugendlichen wollten bauen, sie wollten sich mit den gegebenen Dingen auseinandersetzen. Eine erste Bilanz jedoch ergab: Niemand hatte je eine Bohrmaschine in der Hand gehabt, kein Fahrradflickzeug, keine Nähmaschine, zwei konnten immerhin Hefeteig. Unsere gemeinsame Arbeit fand in einem Raum außerhalb der Schule statt, wo wir Werkzeuge und Räumlichkeiten für die Arbeit damit anbieten, und Dinge, die dem Alltag und ihrem ersten Funktionszusammenhang entnommen waren, sichern und sammeln konnten. So fanden Ansätze von Kommunikation über und in Materialien und mithilfe von Werkzeugen statt. Schritt für Schritt entstanden Momente von Gemeinsamkeit unter den Jugendlichen selbst und in kurzer, seltener Dauer auch zwischen ihnen und uns, indem wir uns gemeinsam der hinterbliebenen Dinge annahmen und sie verwandelten.
Postkoloniale Kulturen kämpfen mit Verstörungen, die sich auch Generationen nach dem Abzug der Kolonialmächte in der Unmöglichkeit zeigt, Geschehenes aufzuarbeiten, in der Suche nach Produktionsweisen und Ritualen, die an nichts anzuknüpfen wissen.
„Viele Menschen, die aus Gesellschaften kommen, die spirituelle Wesen, historische Artefakte oder Vorfahren an westliche Museen verloren haben, klagen über ein extremes Gefühl der Entwurzelung und des Orientierungsverlustes.“ (Ndikung 2018:31)
Der Autor und Kurator bezeichnet die Objekte als Medien, die Geschichten und Geschichte aufzeichnen und der Gesellschaft ein Narrativ ihrer Herkunft vermitteln. In seinem Verständnis stellen sie existentielle Orientierungspunkte dar (vgl. ebd.:32).
Wie lassen sich diese Aussagen mit einem Nachdenken über Material im kunstpädagogischen Kontext verbinden? Zum einen gehe ich von einem erweiterten Materialbegriff aus. Er umfasst unbelebte Materie an sich, aber auch (Gebrauchs-)Dinge sowie alle stofflichen Artefakte, inklusive Kunstwerke. Dabei geht jedes Artefakt ohnehin auf Material zurück, wie es der Künstler Jimmie Durham veranschaulicht:
„Es mag Künstler geben, die ihr Werk für ‚konzeptuell‘ halten und glauben, sie hätten keine ausgeprägten materiellen Grundlagen. Wenn dies wirklich der Fall wäre, wie würden wir irgendeine dieser Arbeiten erkennen?“ (Durham 2012:351)
Zum anderen erfuhr ich die Geschichtlichkeit von Dingen im erwähnten Projekt – es lässt mich seither anders auf Dinge des Alltags blicken. Dass die ausrangierten Objekte einen so eindeutigen und starken Handlungsimpuls bei den Jugendlichen auslösten, stand in absolutem Gegensatz zu ihrer sonstigen Haltung demonstrativer Handlungsverweigerung. Wenn also Handlungsverweigerung und Beziehungslosigkeit korrespondierten, könnte dann im Umkehrschluss ein In-Beziehung-treten über ein Handeln gemeinsam mit Material (re-)aktiviert werden?
Savoy und Sarr, die französische Kunsthistorikerin und der senegalesische Ökonom, die im Auftrag des französischen Präsidenten einen Restitutionsbericht mit Forderungen geschrieben haben, legen „… die Notwendigkeit situierter materieller Präsenz als Prinzip von Kultur“ dar, die sich durch „Übermittlung, Reproduktion, Anpassung, Studium und Transformation von Wissen, von Formen und Objekten im Schoße der Gesellschaften … – in Europa wie anderswo“ (Savoy/Sarr 2019:35) entwickle. Könnte es also sein, dass die Arbeit mit stofflichen Materialien eine spezifische, weil aktive Dialogform darstellt, eine Form von Austausch, die über das Ziel einer ausschließlichen Bildung des Subjekts hinausweist? Könnte es sein, dass eine tatsächliche Transformation im Sinne von Öffnung hin zu einer neuen Verbundenheit geschieht, in der sich Einzelne oder Gruppen mit Dingen, Materialien und belebter Materie austauschen, die sich ja schließlich auch, und zwar im Wortsinn, trans-, also umformiert?
Sich in ein Verhältnis mit diesem Material zu setzen, ist gleichbedeutend mit der Bereitschaft zum Handeln und Beobachten, Entscheidungen zu treffen, auch im Wissen, dass sie falsch sein könnten. Man geht ein Risiko ein, denn bauen kann man nicht ohne Hand anzulegen und zu riskieren, dass das Werk, das Stück, das Ding – mein Gegenüber Veränderung erfährt. Das ist, anders ist es nicht zu sagen, Kommunikation: Die materielle Re-Aktion beobachten, die andere Wirkung zu erfahren, um dann die Handlung zu wiederholen, verstärken oder zu korrigieren; um wiederum diese Reaktion abzuwarten und so weiter, bis in diesem Hin und Her das Passende und dessen Form gefunden ist. Nichts ist gewiss, nichts weiß die handelnde Person vorher genau abzusehen. Und genau deshalb ist es so aufregend, die Säge anzusetzen, die Linie mit dem Tuschpinsel zu ziehen.
Noch kenne ich keine Theorie-Transfers neomaterialistischer Ansätze ins Feld der künstlerischen Bildung. Ohne solche leisten zu können, versuche ich lediglich, theoriegeleitete Reflexionen und Beobachtungen aus dem Feld für die künstlerisch-pädagogische Bildung produktiv zu machen. Rosi Braidotti formuliert es so:
„Die Zeit [verlangt] nach vorausschauenden Experimenten mit neuen Formen von Subjektivität.“ (Braidotti 2014:45)
Neue Formen von Subjektivität. Die Sprengkraft von beengtem Eichenholz
Benedicte Savoys eingangs zitierte psychologische, auch physisch, künstlerisch wie politisch attackierende Analyse, drängt uns die Frage auf: Leidet möglicherweise nicht nur der menschliche Körper an Phantomschmerzen? So betrachtet hätte die Maske nicht nur ein Dasein, sie hätte ein eigenes Sein. Die Masken aus dem mittlerweile 65 Jahre alten Film von Resnais und Marker besäßen nicht nur den Ausdruck von Schmerz, Ekstase oder Macht, sie hätten diese Kräfte selbst. An sich, als eine nicht-menschliche Subjektspezies. Die Autor*innen vermitteln die Kraft der Beziehungen zwischen Dingen und Geschichten, Identitäten und Kräften – und deren Verlust. Ein solches Verständnis von Objekten, als empfindende, hier leidende Medien, ist dem westlichen Weltverstehen tendenziell fremd. Dabei ist es weder rückwärtsgewandt, noch steht es im Gegensatz zur menschlichen Intelligenz und deren Technologien. Nach Rosa Braidotti interagieren Akteure in Beziehungen mittels der „selbstorganisierenden (oder autopoietischen) Kraft lebendiger Materie“ (Braidotti 2014:7). Sie führt aus:
„Meine monistische Philosophie des Werdens beruht auf dem Gedanken, dass die Materie, einschließlich der menschlichen Verleiblichung, intelligent und selbstorganisierend ist. Sie steht also nicht in einem dialektischen Gegensatz zu Kultur, auch nicht zu technischer Vermittlung, sondern hängt mit beidem zusammen.“ (ebd.:36)
So wird deutlich, dass es hier weder um eine post-romantische Gefühlskultur noch um anthropomorphe Moralismen geht. Die auf Spinoza zurückgehende monistische Relationalität betont die fühlende Seite der Subjektivität. Auch wenn derzeit noch unklar bleibt, was das posthumane Subjekt (vgl. Braidotti) genauer ausmacht, sind sich die Vertreter*innen des Neuen Materialismus darin einig: Der Zustand der Welt als Folge eines hierarchischen Verständnisses von Lebensformen und Bedürfnissen zwingt uns, den menschlichen Exzeptionalismus in Frage zu stellen und erfordert eine Rekonstruktion von Subjekt und Gemeinschaft. Ein Nachdenken über Materie heute bedeutet aus meiner Sicht, diese als lebendig und selbstorganisierend anzunehmen. Darin liegt eine dynamische und hervorbringende Kraft, die James Joyce bereits das Chaosmos nannte.
In der künstlerischen Praxis und unter bestimmten Handwerker*innen, bei Menschen also, die den Dialog mit dem Material professionalisiert haben, herrscht ein Werkbegriff, der die Handlungsmacht der Materie immer schon einbezieht. Dazu nochmals Jimmie Durham:
„Vor einigen Jahren hatte ich in meinem Berliner Atelier Eichenholz aus dem Grunewald. Das Holz war Jahre, bevor ich es sammelte, geschlagen worden, dann trocknete es zwei Jahre lang im Atelier, bevor ich damit zu arbeiten begann. Ich fertigte eine kleine Arbeit mit einem sehr dicken Stück Glas an, das einen Teil der oberen Holzskulptur in sich einschloss. Das Glas zerbarst in der Galerie, da sich das Holz ausdehnte. Jemand erzählte mir, dass Eichenholz ungefähr zwanzig Jahre braucht, bevor es aufhört, zu arbeiten.“ (Durham 2012:351)
In unserem Projekt sah das so aus: Wochenlang lief alles ins Leere bis ein Mädchen damit begann, Fäden aus einem Stoff zu ziehen. Faden für Faden. Ein Nachmittag verging und der nächste Vormittag. Der Faden wurde zum Medium, andere zogen mit. Aus entsorgten Stoffen; Transformation heißt auch Dinge anders bewerten – entstanden die fransigen Zweige der Trauerweide und eine gestickte Kopf-Baum-Figur (Abb. 1). Der Faden fädelte eigene Fragen ein: „Welche Bäume stehen in unseren Parks?“, auf die Apps antworteten. Der Faden an sich hängt; er symbolisiert und bildet ab; er vernähte und hielt schließlich alles zusammen. Der Prozess dauerte Monate. Schließlich endete er für uns mit dem Jungen, der sich im HKW auf die Liege legt, den Kopf unter der „Wurzel“, und darum bat, geschoben zu werden. „Die Wurzel der Weide hat unterwegs meinen Kopf massiert.“, sagte er danach. Dieser Junge hat sich im Austausch mit dem Material neu verstanden.
Ableitungen für die künstlerisch materialistisch-pädagogische Arbeit
In unserer Werkstatt wurde Nachlass verbaut. Alles entstand aus Dingen, die nicht mehr erwünscht, ihrer ersten Funktion entnommen worden waren: Gründerzeit-Elemente und Resopal-Regale, Einbauküchen und Messe-Trash haben Objekte entstehen lassen wie die Trauerweidenliege, eine fahrbare Liege, die dazu einlädt, sich einen Baum von unten anzusehen, oder eine Bewässerungspumpe für den Trockenbaum oder das Kin-Car, ein Transportfahrzeug, das ohne Fremdenergie auskommt. Niemand hätte diese traumhaften, hybriden Gebilde für sich, jenseits des Materials, erfinden können, niemand alleine die Geschichten erzählen, die gestaltende Hände ins Material eingeschrieben haben. In Dinge und deren Materialität, die als Speicher von Alterungsprozessen, Nutzung, Behandlung und Bewertung Geschichten und Narrative vermittelten, bestimmte Umgangsweisen forderten, sich anderen widersetzten. In der Phase der gegenseitigen Transformation bildeten die jeweiligen ihre (Re-)Aktionsweisen ein Band zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Dadurch sind Ansätze von Verantwortungsbereitschaft entstanden, die auf Beziehungen basieren. Bildungs- oder begleitete Transformationsprozesse, die dauerhaft außerhalb von Beziehungsgefügen gefordert werden, neigen dazu, als entfremdet und sinnlos wahrgenommen zu werden und sind auf längere Sicht zur Erfolglosigkeit verdammt.
Die Frage, ob im Bewusstsein neomaterialistischer Relationalität ein Schlüssel für transformatorische Bildungsprozesse liegen könnte, beschäftigt mich. Meine Hoffnung ist die Dialogfähigkeit zwischen Akteuren – handelnden menschlichen Subjekten und der aktiven Materie – in gemeinsamer und geteilter Handlungsmacht. Im Bewusstsein darüber, dass Dinge mehr sein können als eine erste diktierte Funktion nahelegt, und einer Empfänglichkeit für diverse Narrative erhalten Menschen, und besonders junge Menschen, Gelegenheit, sich als relationale Wesen zu erfahren. Eine solche Erfahrung bringt zumindest die Möglichkeit eines Perspektivwechsels mit sich, der mit Blick auf den Zustand des Planeten – und damit auf die materielle Welt – Not tut.