Transformationsprozesse der Schule und die Kulturelle Bildung
Abstract
Gesamtgesellschaftliche Transformationsthematiken wie Digitalität, Globalisierung, Klimawandel sind weder auf schulischen Transformationsthematiken noch auf solche der Kulturellen Bildung abbildbar. Trotz größerer Schnittmengen folgen alle Bereiche je eigenen (Transformations-)Logiken, aus denen Wandlungsprozesse emergieren, die nur zum Teil steuerbar sind. Nach der Analyse notwendiger Unterscheidungen und der Diversität schulischer Thematiken der Transformation fragt der Text nach Bedingungen und Räumen, mit denen schulische Transformation – hier konzentriert auf ein relationales Bildungsverständnis – in und durch Kulturelle Bildung sich vollzieht. Dies geschieht anhand zweier Beispiele: Betrachtet wird zum einen die Mikroebene ästhetischer Erfahrung in Schule mit Bezug auf ein Forschungsprojekt zum Thema „Kulturelle Bildung und Inklusion“. Zum anderen wird die Mesoebene beleuchtet und am Beispiel der „Kulturagenten für kreative Schulen“ nach den Wechselwirkungen zwischen Kultureller Bildung und Schulentwicklung gefragt.
1. Einleitung: notwendige Unterscheidungen
Von Transformation ist derzeit meist im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlich und kulturell sehr übergreifenden Fragen die Rede: Können wir das Überleben der Gattung Mensch noch sichern? Wie können wir eine nachhaltige, enkeltaugliche Welt einrichten? Wie müssen sich dafür Politik, internationale Zusammenarbeit, Forschung, Bildung und Kultur transformieren oder transformiert werden? Wer hat die Fähigkeit, die Macht, die Position, solche Transformationen zu steuern und wo passieren sie vielleicht auch ohne wohlüberlegte Steuerungsprozesse? Das Feld der so genannten „großen Transformation“ (WBGU 2011) ist vielgestaltig und ambivalent, nicht nur hinsichtlich der darin verhandelten Themen, sondern auch hinsichtlich der Sprecher*innen und Interessen, die diese Themen kontextualisieren und konstituieren.
Auf der kubi-online Jahrestagung 2022 in Wolfenbüttel zum Thema „Kulturelle Bildung und Transformation“ sind von den Veranstalter*innen drei Stichworte genannt worden, die für sie offenbar besonders relevant sind: Postdigitalität, Nachhaltigkeit, Demokratie. In der Reihung dieser Themen scheint mir wichtig, Transformation der Schule und Reform(en) der Schule zu unterscheiden. Bei Schulreformen geht es um den gestalteten Wandel von einzelnen Bereichen des Schulsystems, wie etwa zurückliegend die Aufhebung der zweijährigen Orientierungsstufe in einigen Bundesländern oder die Einführung des Kurssystems in der gymnasialen Oberstufe. Von Transformation der Schule oder präziser, des Schulsystems, würde man nur dann sprechen, wenn sich die Gesamtgestalt ändert und damit auch das Schulleben, das Selbstverständnis der Professionen und das Bedingungsgefüge des Unterrichts. Bei einer Transformation ginge es also um mehr als eine Addition von Entwicklungsbereichen. Ich werde unten dies mit dem Konzept der „grammar of schooling“ (Tyack/Tobin 1996) aufgreifen.
Eine zweite Unterscheidung ist einleitend zu betonen. Man kann sich das Transformationsgeschehen an Schulen in zwei Ausrichtungen vorstellen: In einem Fall reagiert die Schule auf die großen gesellschaftlichen Transformationsthemen – Klimawandel, Digitalität, neoliberale Wirtschaftsordnung und Veränderung der Arbeitswelt, Inklusion und Ächtung von Diskriminierung. Was davon macht sich die Schule derzeit zur Aufgabe, was wird von wem ihr aufgegeben? Von wem werden diese Aufgaben angenommen und wie werden sie bearbeitet? Im anderen Fall verstünde man Schule selbst als Mitgestalterin, gar Motor der Transformation, indem sie die nächste Generation auf die Probleme der Zukunft anders vorzubereiten versucht als die jetzt Verantwortung tragende Erwachsenengeneration darauf vorbereitet wurde. In dieser – zunächst analytischen – Unterscheidung steckt die uralte Frage, ob durch Erziehung und Bildung die Gesellschaft zu verbessern oder wenigstens zu verändern sei oder ob dies nicht vielmehr in der Verantwortung der Erwachsenen läge, die solche Veränderungen zum Besseren der nachwachsenden Generation allein in Formen der Präsentation und Repräsentation (Mollenhauer 2007) zugänglich mache. Ebenso muss man für die Kulturelle Bildung fragen: Reagiert sie „nur“ auf Transformationsprozesse und -bedarfe der Gesellschaft, macht sich also den Klimawandel, die Chancen und Gefahren der Digitalität, die verschiedenen Umgangsweisen mit Diversität, Diskriminierung, Differenzproduktion und -hierarchisierung mit ihren Mitteln zum Thema? Oder versteht sie sich selbst als Mitgestalterin oder Motor der gesellschaftlichen Transformation? Ich möchte im Folgenden beide Ausrichtungen zunächst offenhalten – wir haben es dann mit zwei Fragekomplexen zu tun:
- Was ist Transformation der Schule oder Transformation in der Schule und wie verhält sie sich zu den großen Themen der gesellschaftlichen Transformation? Ich werde nachfolgend erläutern, dass gesamtgesellschaftliche Transformationsthematiken wie Digitalität, Globalisierung, Klimawandel und Demokratisierung keineswegs identisch sind mit Transformation der Schule, wenngleich es dort große Schnittmengen gibt. Aber Schule ist eben nicht nur ein „Ausführungsorgan“ gesellschaftlicher Bewegungen und Prozesse, sondern sie entfaltet im Laufe der Geschichte – wie jedes gesellschaftliche Subsystem – eine Eigendynamik und Eigenlogik und damit auch ein eigenes Transformationsgeschehen. Ich möchte dann eine Transformationsthematik, die gewissermaßen hinter dieser Themenliste liegt, genauer ausführen, nämlich die Transformation von einem individualistischen zu einem relationalen Bildungsverständnis (siehe Abschnitt 2).
- Zweitens ist dann zu fragen, welche Bedeutung dabei der Kulturellen Bildung in oder an Schule zukommt? Ich will an zwei Beispielen diskutieren, inwiefern ästhetisch-kulturelle Bildung kohärent sein kann zum relationalen Transformationsgeschehen in Schule. Das erste Beispiel betrachtet die Mikroperspektive eines Musikunterrichts, das zweite Beispiel betrachtet auf der Mesoebene den Prozess kultureller Schulentwicklung (siehe Abschnitt 3).
2. Transformation der Schule
Diversität der Thematiken schulischer Transformation
Digitalität und Postdigitalität beherrschen – durch die Coronapandemie und die Notwendigkeit zum Distanzunterricht – die mit Schule befassten Medien zurzeit in besonderer Weise. Der Diskurs hat eine stark affirmative Seite, wenn im Gestus des Aufholens die Ausstattung mit entsprechenden Geräten in den Schulen eingefordert, die Ausbildung der kompetenten Nutzung dieser Geräte angebahnt wird. Sie hat aber auch eine skeptische und reflexive Seite, in der die Hybridität von Mensch und Maschine, die Dominanz der netzbedingten Eigenlogiken, die Marginalisierung von ko-präsenten Lernprozessen thematisiert wird. Ebenso geht es um die Beschreibung und Gestaltung der Entgrenzung von Unterrichtsorganisation in räumlicher, personeller und methodisch-didaktischer Hinsicht.
Ein anderes Thema, das schulische Transformation zurzeit sehr umtreibt, ist mit dem Stichwort Inklusion angedeutet. Es wäre ein eigener Beitrag, dies breite und höchst heterogene Feld auch nur einigermaßen zu beschreiben (Dederich/Dietrich 2022). Es muss hier reichen, noch einmal auf den Ursprung der absoluten Verbindlichkeit dieser Debatte, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (Bundesregierung 2009) hinzuweisen. Darin ist ein weiter Inklusionsbegriff formuliert, der alle als benachteiligt verstandenen Gruppen im Sinne einer Anerkennung von Diversität und einer Förderung von Chancengleichheit in der Schule mitthematisiert. Die aus der Inklusionsprogrammatik entstehenden schwierigen Balancen von Gleichheit und Differenz(ierung), von Finanzierung und Idealismus, von Ausbildungsreform und Systemträgheit möchte ich hier nur andeuten.
Das große Transformationsthema der Schaffung nachhaltiger Lebens- und Wirtschaftsstrukturen wird heute meist gleichgesetzt mit dem Programm einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Entstanden aus der Umweltbildung verändert es inzwischen nicht nur die Inhalte in den naturwissenschaftlichen Fächern oder im Sachunterricht der Grundschule, sondern es wird auch als fachübergreifendes Querschnittsthema in Schule etabliert. Ähnlich ist es mit einem anderen so genannten Querschnittsthema oder überfachlichen Lernbereich, der Demokratiebildung. Einerseits ist ihre Bedeutsamkeit unbestritten, andererseits besteht die Gefahr, dass die Realisierung der Themen in konkreten Formaten des schulischen Alltags, der meist nach wie vor an fachgebundenen Stundentafeln entlang organisiert ist, Marginalie bleibt.
Gegenüber diesen aus den gesellschaftlichen Diskursen entstandenen Themen, die der Schule aufgegeben werden, gibt es aber auch schulimmanente Transformationsprozesse, von denen hier nur zwei skizziert werden sollen:
Die inzwischen flächendeckende Entwicklung von der Halbtags- zur Ganztagsschule ist doppelt motiviert: Zum einen erhebt eine veränderte Arbeitswelt Anspruch auf beide Elternteile als Arbeitskräfte, so dass Kinder immer selbstverständlicher länger in der Schule bleiben. Zum anderen generiert der Diskurs um Chancengleichheit und um die im internationalen Vergleich sehr hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der Herkunftsfamilie die Forderungen nach einer vielseitigeren Förder- und Lernkultur für alle Kinder. Durch dieses Doppelmotiv konkurrieren ökonomische und pädagogische Argumente beim Ausbau der Ganztagsschulen. Geht es aus Perspektive der Erwerbsbeteiligung von Eltern eher um eine tendenziell freiwillige Betreuung am Nachmittag, und in der Folge um eine Deprofessionalisierung pädagogischen Personals, erfordert eine Orientierung an einer Erhöhung von Chancengleichheit im Gegenteil den Aufbau gebundener Ganztagsschulen mit gut ausgebildetem (und bezahltem) Personal, das in multiprofessionellen Teams die Schüler*innen bestmöglich fördert.
Eine weitere Transformation von Schule betrifft die Orientierung an fachlichen und überfachlichen Kompetenzen, die als Ergebnis (output) des Unterrichts modelliert werden und die Orientierung an Inhalten und Stoffen (input) abgelöst haben. Es ist die vielleicht größte und zugleich außerhalb der Schul- und Bildungsdebatten sich am unmerklichsten vollziehende Transformation, die – seit der ersten Pisa-Untersuchung (Pisa-Konsortium 2001) und den nachfolgend in rascher Folge stattfindenden weiteren vergleichenden Untersuchungen zur Leistungsperformance – Curricula, Lern- und Testformen sowie Unterrichts- und Schulkultur nachhaltig verändert haben.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) unterscheidet in seinem Hauptgutachten zur großen Transformation (2011) vier Typen von Triebfedern, bei denen er von einer mittleren Reichweite bei der Transformation gesellschaftlicher Systeme ausgeht. So kann eine Transformation entweder durch eine Krise oder durch eine Vision, durch veränderte Wissensbestände oder auch durch technische Entwicklungen motiviert sein. Transformationen haben also sehr unterschiedliche Quellen und sie stehen dabei zwischen Steuerbarkeit und Widerfahrnis. Während uns eine Krise – etwa durch Krieg oder Umweltkatastrophen – eher zustößt, lassen sich Visionen und der Umgang mit neuem Wissen stärker steuern, jedenfalls dann, wenn man in der entsprechenden gesellschaftlichen Position zur Problemdefinition und mit den Ressourcen zur Steuerung ausgestattet ist. Außerdem kann man die vier Triebfedern von Transformation unterscheiden nach einer eher rational-technologischen Verursachung von Wandel durch Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik oder einer Verursachung durch kulturelle Prozesse und menschliches (Fehl-)Verhalten. Bezogen auf den Wandel der Schule könnte man diese vier Triebfedern wie folgt zuordnen, um wenigstens anzudeuten, wie vielgestaltig und in sich widersprüchlich die Prozesse sind, die alle zur Transformation von Bildungssystemen beitragen:
Blockaden und Bremsen der Transformation
Die Erfahrung zeigt – und wird immer wieder beklagt, dass „große Tanker“ wie die Schule sich nur langsam verändern lassen und diese Veränderungen oft noch gegen alle Vernunft zu sprechen scheinen. Allgemeiner geht es dabei um die Frage, wie man vom Wissen zum Handeln oder zur handlungsleitenden Orientierung, vom Verstehen zur habitualisierten Praxis gelangt. Dabei wird häufig vergessen, dass es zuallererst die Institution selbst ist, die Veränderungen unmöglich macht. Denn es gehört zum Wesen der Institution, dass sie beharrt, festhält, fixiert und damit verlässliche Spielräume gibt für das wiederkehrende Handeln innerhalb der Institution. In der Theorie des historischen Institutionalismus geht man von sogenannten Pfadabhängigkeiten aus, die eine grundlegende Transformation verhindern oder mindestens verlangsamen (Nicolai 2016). Ist an einem historischen Punkt nach längeren Debatten eine Weiche gestellt, ein Weg oder Pfad eingeschlagen, dann entwickeln sich Routinen, Verordnungen und Praktiken in der Institution, die ein geteiltes Verständnis von Normalität bereitstellen, deren Veränderung mühsam, kostspielig und ungewohnt ist, und zudem den Beigeschmack der Abweichung von Normalität nur sehr schwer los wird. Als Beispiel kann hier die „Normalität“ der vierjährigen Grundschule in Deutschland genannt werden, die nach langen Debatten im sogenannten Weimarer Schulkompromiss von 1920 gesetzlich verankert wurde und bis heute Gültigkeit hat.
Franziska Felder schreibt zur inklusiven Schulentwicklung: „Zu einer Wandlung oder Transformation hin zu inklusiver Schule sind […] Veränderungen dritter Ordnung notwendig und damit auch dreifach zurückgebundene Reflexionsprozesse in den Organisationen“ (Felder 2022:245).
- Veränderungen erster Ordnung sind etwa die Addition neuer Inhalte oder Fächer, bei der die Rahmenbedingungen von Schule und Unterricht jedoch gleich bleiben.
- Veränderungen zweiter Ordnung sind solche, die diese Rahmenbedingungen wandeln, wie es etwa bei der Verlängerung des Schultages durch Ganztagsschulentwicklung geschieht; damit kann bereits eine tiefgreifendere Änderung der Schule und ihres Selbstverständnisses gebahnt werden.
- Ein Wandel dritter Ordnung schließlich liegt aber erst dann vor, wenn das soziale Imaginäre, also die kollektiv geteilte Vorstellung darüber, was eine gute inklusive Schule ist, sich verändert.
Solche Prozesse dritter Ordnung, die nicht nur den organisationalen Rahmen, sondern mit ihm auch eine kollektiv geteilte Idee von – beispielsweise einer inklusiven oder einer buchfreien – Schule betreffen, sind besonders mühsam, weil sie die Pfadabhängigkeit von historisch gewachsenen, lange erprobten und immer wieder bewährten Praktiken mehr oder weniger radikal infrage stellen müssen. Dazu sei, so die Organisationstheorie, ein intensiver Dialog von Mikro-, Meso- und Makroebene (Engel 2020) notwendig.
Eine solche organisationstheoretische Rahmung kann sowohl schultheoretisch als auch im Hinblick auf eine Theorie Kultureller Bildung vor erneuten Überfrachtungen mit Erwartungen an Änderungsprozesse schützen.
Towards another „grammar of schooling“: relationale Bildungs- und Schultheorie
Mit etwas anderen Worten beschreiben Tyack und Tobin (1994) diese Schwierigkeit, eingeschlagene Pfade zu verlassen und die Schule wirklich zu verändern. Ihre Theorie des „grammar of schooling“ wird inzwischen auch in Deutschland viel rezipiert. Die „Grammatik der Schule“ entspreche heute, so Sliwka und Klopsch (2020), noch immer dem „Fabrikmodell“ aus dem 19. Jahrhundert. Tyack und Tobin charakterisierten es durch festgelegte Gruppengrößen, Altershomogenität, einer gemeinsamen Beschulung im Klassenzimmer durch eine*n Lehrer*in. Und Sliwka/Klopsch ergänzen dazu eine ausgewiesene Singularität der Lehrkräfte, die wenig miteinander kooperieren, eine summativ erfolgende Evaluation der Lernprozesse von Individuen in Form von Ziffernnoten sowie eine Nichteinbeziehung der familiären Verhältnisse. Dies sei vor dem Hintergrund heutiger Herausforderungen des Arbeitsmarktes nicht mehr zeitgemäß. Vor allem Kommunikations- und Kooperationsstrukturen müssten sich ändern, und zwar hinsichtlich
- des Austauschs mit Schülerinnen und Schülern über ihr Lernen und die gemeinsame Gestaltung individuell wirksamer Lernprozesse,
- der Zusammenarbeit der Lehrkräfte untereinander,
- durch Einbeziehung der Eltern in die Lernprozesse ihrer Kinder,
- der Öffnung zur und Verbindung mit der digitalen und realen Welt außerhalb der Schule.
Ich sehe hier eine starke Koinzidenz zwischen den Themen der schulischen Transformation, der Bildungstheorie und der weltweit geführten Transformationsdebatte, wie sie im Gutachten der WBGU von 2011 dokumentiert ist. Es ist die Transformation eines Menschen- und auch Bildungsverständnisses, das sich langsam verabschiedet von der Vorstellung des souveränen und autonomen, individuell verantwortlichen Subjekts hin zu einem viel stärker in Beziehungen lebenden Subjekts. Das souveräne Subjekt der klassischen Bildungstheorien, das sich in Gegenüberstellung zur Welt wie in reflexiver Haltung zu sich selbst befindet, erarbeitet und hervorbringt (Ich-Welt-Verhältnisse), erfährt in bildungsphilosophischen Kontexten seit vielen Jahren eine Dekonstruktion. Als begriffliches Konstrukt, dem keine der Erfahrung zugängliche Entität entspricht, weicht die Vorstellung einer singulären Frontstellung der Welt und den Anderen gegenüber immer stärker derjenigen einer relationalen Verbundenheit. Als leibliches Wesen erfährt sich der Mensch immer auch als Teil der Welt, die ihm widerfährt, die in und an ihm handelt, die ihm nie ausschließlich gegenübersteht. Als von Geburt an soziales Wesen konstituiert sich ein Subjekt in seinem Verwiesensein auf den Anderen und die Andere. Es kann selbst nur zum formenden Gegenstand werden in dem Maße, wie es durch Andere, d.h. in intersubjektiven Erfahrungen dazu befähigt und legitimiert wird. Im Anschluss an Foucault und Butler formiert sich in der Erziehungswissenschaft allmählich ein Verständnis von Subjektivität, die in einem komplexen Wechselspiel von Unterwerfung unter umgebende Konventionen und Überschreitung derselben in möglicherweise sinnverschiebenden Iterationen entsteht (Ricken 2006; 2009). In zahllosen Adressierungen vorgenommene Zuschreibungen und ebenso zahllosen Antworten darauf entstehen Subjektivierungsformen als Resultat ganz unterschiedlicher Adressierungsmuster und Antwortregister (Waldenfels 2007). Diese Subjekte sind niemals „ganz“, sie bleiben sich selbst und anderen immer auch fremd und verborgen; sie produzieren Sinn, aber auch unverfügbare Sinnüberschüsse in ganz unterschiedlichen kulturellen Sphären und Symbolisierungsweisen, von denen die in den formalen Bildungsinstitutionen geforderten und anerkannten nur einen kleinen, wenngleich hoch bedeutsamen Ausschnitt darstellen.
3. Perspektiven für die Kulturelle Bildung
Lässt sich ein solcher relationaler Bildungs- und Subjektbegriff mit Eigenschaften ästhetisch-kultureller Bildung, also einer Befragung der „grammar of arts education“, der Grammatik Kultureller Bildung in Verbindung bringen? Diese Frage liegt meines Erachtens hinter den expliziten und im Diskurs gut hörbaren Themen der Transformation wie etwa: Welche Möglichkeiten ergeben sich für die Kulturelle Bildung an Schulen durch digitale Medien? Oder: Wie wird Demokratiebildung als Theaterprojekt in Schulen realisiert? Oder: Wie lassen sich mit ästhetischen Mitteln Themen der Nachhaltigkeit in Bildungsprozesse implementieren?
Ich suche dazu zwei Orte Kultureller Bildung auf:
- Zunächst betrachte ich die Mikroebene der ästhetischen Erfahrung in Schule. Dabei berichte ich aus einem abgeschlossenen Forschungsprojekt, das das Thema Kulturelle Bildung und Inklusion behandelte.
- Im zweiten Schritt gehe ich auf die Mesoebene der Schulentwicklung ein und frage hier nach den Wechselwirkungen zwischen Kultureller Bildung und Schulentwicklung am Beispiel der Kulturagenten für kreative Schulen.
Anteilnahme der Sinne
Dass der ästhetischen Erfahrung eine besondere Hinwendung zur Sinnestätigkeit eigen ist, ist ebenso selbstverständlich wie in seiner Selbstverständlichkeit oft auch vergessen. Kinder erfahren durch die Sinne, wie Tag für Tag Bedeutsames entsteht und wie sie selbst Bedeutungen konstituieren. Ein Raum etwa wird in seiner sinnlichen Gesamtqualität aufgenommen: Er kann als weich, warm, dunkel und behaglich erlebt werden und dann zu neugieriger Erkundung anregen. Ein anderer Raum kann als laut, schrill, hell und unübersichtlich wahrgenommen werden und bedrohlich wirken. Auf alle Sinneseindrücke antwortet das Kind, indem es vom Eindruck zum Ausdruck, von der Perzeption zur produktiven Auseinandersetzung oder Gestaltung mit dem Perzipierten gelangt. Diese aisthetische Erfahrung mit und an Alltagsdingen und Naturerscheinungen ist jedoch nicht einfach nur angenehm oder lustvoll, sondern sie speist, aufs Ganze der Bildung gesehen, die elementare Fähigkeit zu Anteilnahme. Helmuth Plessner bezeichnete diese Möglichkeit des sinnlich unmittelbaren Angesprochenseins als die leiblich-seelisch organisierte primäre Schicht des Teil-Seins in der Welt und mit dem Anderen (Plessner 1982). Ästhetische Bildung fundiert damit das, was wir im umfassenden und ganz elementaren Sinne Partizipation nennen.
Synchronizität als Erfahrung
In den ästhetischen Medien Musik und Tanz zeigt sich Synchronisation als ein so selbstverständlich bedeutsamer Bestandteil, dass man gewöhnlich darüber hinweggeht. Wendet man sich jedoch den vielfältigen, immer wieder vom Misslingen bedrohten und begleiteten Praktiken der Einübung von Synchronisation zu, so wie wir es in einem Projekt zur kulturellen Teilhabe von Kindern mit und ohne Behinderung getan haben, dann erscheint Synchronisation alles andere als selbstverständlich (vgl. Dietrich 2021; Dederich/Dietrich 2022).
Unter Synchronisation versteht man im Musikalischen ein Phänomen, in dem zwei oder mehr Akteur*innen ihr musikalisches Tun im Sinne einer Gleichzeitigkeit aufeinander abstimmen; dies kann entweder in Bewegungen (des Tanzes z.B.) oder in einer Verbindung aus Bewegung und Instrumentalspiel bzw. körpereigener Klangerzeugung entstehen. Erst in der Synchronisation entsteht ein Drittes, nämlich das gemeinsam hervorgebrachte Stück, das Lied oder der Tanz. Synchronisation in der Musik hat eine sichtbare, eine hörbare und eine spürbare Dimension. Sichtbar sind Bewegungen zur Musik, im Tanz, im Dirigat, im Mitwippen beim Zuhören oder in den Bewegungen der Finger, Hände, Arme beim Instrumentalspiel. Hörbar ist der Grad der Gemeinsamkeit in einer musizierenden Gruppe: Wie lange spielt sie exakt oder weniger exakt zusammen, wann gerät jemand aus dem Takt und wieder hinein, wann fällt das Ganze auseinander? Spürbar – aber schwer beschreibbar – ist eine zwischenleibliche Resonanz unter den Mitspieler*innen, ein miteinander Affiziertsein, ein miteinander Schwingen (vgl. Breyer & Pfänder 2017). Musikalisch interessant wie auch herausfordernd wird diese Herstellung von Gleichzeitigkeit – die es ja auch im Militärmarsch oder Skandieren von Hassparolen gibt (vgl. Gehring 2019) – dort, wo ein Spiel zwischen Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit entsteht, so dass zwar ein Metrum gehalten wird, darauf aber verschiedene rhythmische Figuren realisiert werden, man nacheinander einsetzt oder lauscht, wann etwas passend sein kann. In zahlreichen von uns beobachteten Übesequenzen wurde genau dies thematisch: aus einer äußeren gemeinsamen Zeit (dem Taktschlag) zu einer gemeinsamen inneren Zeit (vgl. Schütz 1972) und von einem einstimmig zu einem mehrstimmig synchronen Geschehen zu gelangen. Synchronisation zeigt sich zuerst wieder auf einer basalen leiblichen Ebene des gemeinsam Bewegtseins und Sich-Bewegens in einer Zeit und wird dann von körperlich-instrumentellen Parts überformt und überlagert.
In unserem Projekt zur Untersuchung kultureller Teilhabe im inklusiven Unterricht trafen wir auf unterschiedliche Realisierungs- und Erfahrungsformen musikalischer Synchronisation:
(a) Die Musik bietet die Möglichkeit, tanzend in sie und in sich hineinzutauchen und sich dadurch aus den alltäglichen Kontakten herauszubewegen. So haben wir ein Mädchen mit diagnostizierter geistiger Entwicklungsverzögerung beobachtet, das öfter einen regelrechten Drehtanz aufführte, indem es sich so lange um die eigene Achse drehte, bis es beinahe umfiel. Während dieses Mädchen außerhalb des Tanzes als sehr kontaktfreudig bis hin zur als unangenehm erlebten Distanzlosigkeit auffiel, drehte es sich hier quasi in sich selbst hinein und aus den sozialen Kontakten des Vormittages hinaus. Die auf visueller Ebene scheinbare Kontaktlosigkeit zu den Anderen wird gehalten von dem hör- und spürbaren Aufeinanderbezogensein durch die Synchronisierung mit der Musik. Kinder schließen sich ein in sich selbst (Inklusion), bleiben aber zugleich über die erklingende Musik Teil der Szene.
(b) Aus solchen Selbst-Musik-Synchronisationen entstehen dann häufig durch zufällige Begegnungen Tanzbewegungen, die zusammen mit anderen gestaltet werden. In solchem Spiel entstehen dann auch Tänze zwischen Kindern, die sonst – nach unserer Beobachtung – niemals miteinander in Kontakt treten. Im Tanz scheinen sich fast zufällig immer wieder Begegnungen zwischen Kindern zu ergeben: zwei Wege kreuzen sich, man nimmt sich wahr, bezieht die Bewegungen kurz aufeinander (durch Anblicken, Anfassen, Komplementär- und Imitationsbewegungen) und löst sich wieder voneinander – musikalische Interaktionen im Vorbeigehen sozusagen, die eine winzige, intensive, ästhetisch legitimierte Begegnung im Modus des „Als-ob“ (wir Freunde wären) generieren.
Durch die musikalisch realisierte Synchronisation entsteht so ein verdichtetes Zusammenspiel von Aktion und Pathos. Es handelt sich nicht allein um ein gleichzeitiges Spiel, sondern dabei auch um ein Sich-Angleichen an die Anderen, das nur erfahren werden kann, wenn man das Gleiche in der Gleich-Zeitigkeit geschehen lässt. Synchrone musikalische Prozesse lassen sich nicht vollständig herstellen (z.B. durch das Zeichen des Dirigenten, das Metronom oder den Puls des Karaoke-Tonbandes), sie bedürfen des Geschehenlassens, eines sich Hergebens in die geteilte Zeit (Schütz 1972).
Kulturagenten für kreative Schulen
Gegenüber dieser Mikro-Analyse wähle ich ein zweites Beispiel auf der Mesoebene der Schulentwicklung. Wird in solchen Schulen, die sich auf den Weg zu einem Profil der Kulturellen Bildung gemacht haben, nicht nur mehr Unterricht in künstlerischen Fächern erteilt, sondern entsteht dabei auch ein Beitrag zur Transformation der schulischen Kultur als Ganzer? (vgl. für das Folgende https://kulturagenten-berlin.de/)
Auf organisatorischer Ebene wird von Seiten der Schulen vor allem die starke Vernetzung mit anderen Organisationen sowie mit außerschulischen Personen und Orten hervorgehoben. Sowohl sind die Kulturschulen auf Grund des Projektcharakters mit anderen Schulen, die an diesem Modellprojekt teilnehmen, im Austausch als auch mit Organisationen ihrer Umgebung wie zum Beispiel Jugendkunstschulen oder Theatern. Als bereichernd und erneuernd empfinden sie den Blick von außen, der durch die Kooperation mit den Kulturagent*innen auf die Einzelschule trifft. Er verhelfe den Lehrkräften zu einem Perspektivenwechsel und erzeuge eine Offenheit für Neues.
Zu zeigen ist nun, in welch unterschiedlicher Weise die verschiedenen Akteure*innen an der Kulturschule – Pädagog*innen und Kulturagent*innen – darüber berichten, was sich an ihrer jeweiligen Schule durch das Programm der kulturellen Schulentwicklung verändert hat oder verändern sollte. Auffällig sind zunächst die unterschiedlichen Worte und Wortschöpfungen, die hier auftauchen. Während die Pädagog*innen das vertraute Vokabular der „Versprechungen des Ästhetischen“ aufrufen und sich in den für ihre Profession typischerweise verlangten Sätzen und Argumentationsketten ausdrücken, entstehen bei den Kulturagent*innen in Wortcollagen Sinnhorizonte, über die man als pädagogisch-sozialwissenschaftlich orientierte Leser*in erst einmal stolpern kann. Künstler*innen geht es vermutlich anders: Ihnen ist das pädagogische Standardvokabular eher unvertraut und die eigene Rede über das Unverfügbare, die Dissenzkultur und das Potential von vermeintlichen Fehlern gerade sehr vertraut. Kulturagent*innen beschreiben meistens den je aktuellen Prozess an der Schule und finden Worte für ungewohnte Erfahrungen. Sie thematisieren hingegen wenig oder gar nicht deren mögliche Konsequenzen. Ganz anders sind die Sätze der Pädagog*innen auf die Zukunft der Schüler*innen und der Schule ausgerichtet, so, als müsse ästhetische Praxis an der Schule immer durch eine bessere Zukunft der Schüler*innen legitimiert werden. Mindestens an diesen beiden Differenzmomenten – im zeitlichen Bezug auf Präsenz und Zukunft, im sprachlichen Bezug auf Argumentatives und Poetisierendes – kann die Beschaffenheit des dritten Raums in den Kulturschulen präzisiert werden.
4. Schluss
Kann Kulturelle Bildung für eine Transformation der Schule notwendige Impulse geben, wie vielfach programmatisch behauptet wird? Was muss sowohl schulorganisatorisch als auch curricular und methodisch gegeben sein, damit Kulturelle Bildung einen Beitrag dazu leisten kann, das „Imaginäre der Schule“ (Felder 2022) zu transformieren? Eingangs habe ich gefragt, ob Schule und die ästhetisch-kulturelle Bildung an und in Schulen eher als ausführende Instrumente gesellschaftlicher Transformation oder als mitgestaltende Werkzeuge der Transformation aufzufassen seien. Vor dem Hintergrund der eben beschriebenen Beobachtungen lässt sich fragen, ob durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Sprachspiele an Schule ein dritter Raum im Sinne Homi Bhabhas (Bhabha 2000) entstehen kann, in dem die Hybridität von schulischer und ästhetischer Grammatik artikuliert werden kann. In den unterschiedlichen Weisen, mit Kunst und Kultur nicht nur umzugehen, sondern sie auch sprachlich im schulisch Allgemeinen zu kontextualisieren, könnten sich Prozesse eines Wandels anbahnen, allerdings nur dann, wenn darüber hinaus auch Routinen und Pfadabhängigkeiten der schulischen Strukturen in ihrem organisationalen Feld und die mit ihnen verbundenen Hierarchien reflektiert und bearbeitet werden (vgl. Klein 2016). Erst über diesen Umweg des dritten Raums entfaltet sich dann möglicherweise eine eigene Dynamik, so dass daraus Praktiken und Wirklichkeiten emergieren können, die zu einer Transformation von Schule beitragen. Transformation kann Schulen als eigensinniger Akteurin niemals allein von außen verordnet werden.
„Innovationen sind vielmehr emergente Prozesse, sie sind nicht vollständig von außen standardisier- und steuerbar. So leisten Einzelschulen in ihren Praxen selbst eine eigensinnige Übersetzungsarbeit, die bei allen Gemeinsamkeiten in einer übergreifenden Tendenz zu unterschiedlichen Ausformungen von bildungspolitischen Neuerungen führt.“ (Idel/Rabenstein/Reh 2013:249)
Kulturelle Bildung an und in Schule muss von mehreren Seiten aus gedacht und immer wieder bestimmt und durchbuchstabiert werden:
- Erstens bleibt sie, wie wir in dem Tanzbeispiel gesehen haben, gebunden an eine sinnlich-leiblich fundierte und – als immer auch unverfügbare Leiblichkeit – fungierende Sinngenese, die sich nur an ihren Rändern, nicht aber im Zentrum mit Diskursen und Praktiken schulischer Transformation verbinden kann.
- Zweitens bleibt – solange man am verpflichteten Allgemeinbildungsanspruch der ästhetischen Fächer in Schule festhält – die Weitergabe tradierten und in irgend einer Form kanonischen Wissens und Könnens des Ästhetischen Aufgabe der Schule.
- Und drittens gilt es zu begründen, wie ein solcher Kanon heute beschaffen sein kann, d.h. für welche grundlegenden Themen, auch der gesellschaftlichen Transformation, er exemplarisch gelten kann, wie also Ästhetisches und Nicht-Ästhetisches (Soziales, Politisches usw.) miteinander in Kontakt treten.
Alle drei Dimensionen werden notwendigerweise häufig in Spannung zueinander stehen. Sie manifestiert sich zum einen zwischen den oben gefundenen Polen von Gegenwartsbezug ästhetischer Eigenlogik und Legitimation der Praxis durch die Zukunft der Schüler*innen: Wollte man diese Spannung auflösen, geräte Kulturelle Bildung entweder zum instrumentellen Gebrauch als change agent oder verlöre sich erneut in einer nicht mehr zeitgemäßen Autonomieargumentation. Und sie stünde zum anderen in derjenigen Spannung zwischen diskursiv auszuhandelnden „Effekten“ von Schule und Unterricht im Sinne der messbaren output-Orientierung und den poetischen, imaginär aufgeladenen, präreflexiv leibgebundenen und darin nicht restlos greifbaren Symbolsystemen, die Kunst- und Kulturerfahrungen zu dem machen, wofür sie im Bildungskanon stehen.