Theaterpädagogische und interdisziplinäre Impulse im Austausch zwischen städtischem und ländlichem Raum
Eine exemplarische Untersuchung im Kontext demografischer Entwicklungen
Abstract
Aktuell bestimmt eine mögliche Dichotomie zwischen städtischen und ländlichen Räumen, die in Korrelation zu politischen Einstellungen diskutiert wird, den Diskurs. Gleichzeitig zeigt die demografische Entwicklung, dass in Deutschland sowohl mehr ältere als auch mehr Menschen mit Migrationsgeschichte leben. Diskriminierungserfahrungen treffen beide Gruppen, wobei letztere den städtischen Raum als Lebensort vorzieht.
In diesem Beitrag werden zwei soziale Kulturprojekte vorgestellt, die diese demografischen Entwicklungen berücksichtigen und zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Communities im Transfer zwischen dem ländlichen und städtischen Raum beitragen wollen. Die Projekte „Theater der Erfahrungen auf Landpartie“ und „Bühne frei für gutes Älterwerden in Stadt und Land“ setzten zwischen 2019 und 2024 Impulse für den Austausch und Aufbau gemeinschaftlicher Strukturen, wie z.B. Amateurtheatergruppen, mittels sozialer Kulturarbeit. Gerade vor dem Hintergrund der neuesten Wahlergebnisse, die eine zunehmende antidemokratische und konservative Haltung in der Bevölkerung spiegeln, erscheinen sozial-kulturelle Projekte als gewinnbringend.
Das Projekt „Landpartie“, war eines von ca. 260 Projekten, welches vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aus den Mitteln des Bundesprogramms „Ländliche Entwicklung und Regionale Wertschöpfung“ (BULEplus) im Rahmen der Förderlinie LandKULTUR unterstützt wurde. Das Projekt „Bühne frei“ wurde gefördert vom Institut für angewandte Forschung – IFAF Berlin im Rahmen der gemeinsamen Innovationstrategie der Länder Berlin und Brandenburg – innoBB 2025, die darauf abzielt, zur Entlastung der Hauptstadt und zur Attraktivitätssteigerung des Umlandes und seiner Gemeinden für Besucher:innen sowie für Bewohner:innen beizutragen.
Zur Ausgangslage
Ein Artikel im Nachrichtenmagazin Spiegel machte vor einigen Jahren Schlagzeilen mit dem Titel „Auf dem Land regiert der Frust“. Der Autor, Prof. Dr. Henrik Müller, machte eine provokative Rechnung auf: Er beschrieb die Abwanderung aus den ländlichen Räumen und demgegenüber den Zuwachs der Bevölkerungsdichte weltweit und setzte dieses Phänomen ins Verhältnis zu der Tendenz eines international zu beobachtenden Rechtsrucks.
„Wo man es am wenigsten vermuten sollte, braut sich ein politisches Beben zusammen: Ländliche Regionen entscheiden Wahlen, überraschen Experten und verändern den Kurs ganzer Nationen. Die Bürger in den Metropolen schauen fassungslos zu (Müller 2018)." Es folgt eine Aufzählung von Le Pen in Frankreich, der PiS-Partei in Polen bis zu Trump in den USA und der AfD in Deutschland – die Anhängerschaft wird im ländlichen Raum verortet. Und er schreibt weiter: „Das flache Land hingegen dünnt aus, ökonomisch und demografisch. Zurück bleiben abstiegsbedrohte Regionen, die sich, wenn es schlecht läuft, zu einer Parallelwelt entwickeln. Wo sich ein Lebensgefühl ausbreitet, das mit dem Geist der Städte nur noch wenig gemein hat: ärmer, älter, pessimistischer - und entsprechend empfänglich für populistische Politstrategen (ebd.)." Ist diese Rechnung nicht zu einfach? „Das Land“ beschreibt Claudia Neu (2022) als Projektionsfläche, z.B. als „WutLand“ – neben den Zuschreibungen als beispielsweise Sehnsuchts- oder Kreativort.
Henrik Müller belegt seine Analyse mit Daten der OECD, nach denen sich das Wirtschaftswachstum auf die Metropolregionen konzentriere, die Städte insgesamt reicher, die Einwohner:innen wohlhabender, gebildeter und zufriedener wären. Die demografische Polarisierung drohe eine politische Polarisierung nach sich zu ziehen. Diese Gleichung von arm, alt und ländlich ist gleich konservativ kann jedoch wissenschaftlich nicht ernsthaft behauptet werden, wenngleich in der Untersuchung von Richter/John (2022) Unterschiede zwischen Stadt und Land und auch zwischen den sogenannten alten und neuen Bundesländern im Wahlverhalten der Bundestagswahl 2021 festgestellt werden konnten. Doch sowohl die Definition der ländlichen Räume als auch die genauen Indikatoren für die untersuchten Differenzen sind nicht klar zu klassifizieren.
Sicher ist jedoch: Für Senior:innen im ländlichen Raum wachsen mit dem Alter die Schwierigkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gründe hierfür sind zunehmende Immobilität, sich auflösende Familienstrukturen, schwierige medizinische Versorgung, mangelnde Einkaufsmöglichkeiten, geringe Mobilitätsangebote des öffentlichen Nahverkehrs und insgesamt auch weniger Auswahl an kulturellen Angeboten.
In diesem Artikel soll es um zwei soziale Kulturprojekte gehen, die die demografische Entwicklung im ländlichen Raum berücksichtigen und zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Communities im ländlichen und städtischen Raum beitragen wollen. Die Idee dabei ist, mit „milieuübergreifenden kulturellen Bildungsangeboten“ (Keuchel 2021) Räume der Begegnung und des Aushandelns anzubieten, in denen kulturelle Praktiken nicht als Distinktionsmittel in einer möglichen Hierarchie zwischen Stadt und Land wirken. Zunächst wird die allgemeine, demografische Entwicklung als Ausgangsbasis genauer in den Blick genommen, um im Weiteren die spezifischen Gegebenheiten in Brandenburg als Wirkungsraum der Projekte zu beleuchten.
Demografische Entwicklungen in Deutschland
Nach den Berechnungen des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung lebten Ende 2019 von den 83,2 Millionen Menschen in Deutschland „fünfzig Prozent der Bevölkerung in verdichteten, urbanen Siedlungsstrukturen, die aber nur zwei Prozent der Fläche Deutschlands bedecken. Nur fünf Prozent der Bevölkerung leben dagegen tatsächlich „auf dem Land“, das dafür aber etwa 32 Prozent der Fläche ausmacht“ (Sander/Stawarz/Taubenbröck 2023). Dabei wird „Land“ nach dem Grad der Bevölkerungsdichte gemessen, was wiederum die Vielfältigkeit ländlicher Räume unberücksichtigt lässt. Mit dem Blick auf die Altersstruktur in Deutschland wird sichtbar, dass die Bevölkerung ohne Zuwanderung seit Langem schrumpfen würde. Seit 1972 übersteigt die Zahl der Gestorbenen jährlich die Zahl der Geborenen.
Über dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung 1990 gibt es noch einen deutlichen Unterschied zwischen den sogenannten „neuen“ Bundesländern, der ehemaligen DDR, und den alten Bundesländern der Bundesrepublik.
Bevölkerungsuntersuchungen bezüglich des Altersaufbaus haben zum Ergebnis, dass die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern durchschnittlich deutlich älter ist als in den westdeutschen Flächenländern und insbesondere in den Stadtstaaten. Der Anteil der 67-Jährigen und Älteren an der jeweiligen Bevölkerung betrug 2021 in den östlichen Flächenländern 24%, in den westlichen Flächenländern 19% und in den Stadtstaaten 17%. Auch war in den ostdeutschen Bundesländern im Jahr 2021 der Altenquotient mit 40 (67-Jährige und Ältere je 100 Menschen von 20 bis 66 Jahren) auf dem Stand, den die westdeutschen Flächenländer voraussichtlich erst Anfang der 2030er Jahre erreichen werden (Statistisches Bundesamt/Destatis 2022). Grund dafür ist die Abwanderung meist jüngerer Menschen nach der Wiedervereinigung aus den ostdeutschen Bundesländern. Zugleich entwickelten sich die Geburtenzahlen rückläufig und die Lebenserwartung stieg an. So entstand hier ein Beschleunigungseffekt der demografischen Entwicklung bezüglich der Alterung. Dagegen konnte Westdeutschland eine stärkere Zuwanderung aus dem Ausland sowie die Zuzüge aus den neuen Bundesländern verzeichnen, die Alterung verlangsamte sich somit.
Brandenburg, das Bundesland, in dem die hier vorgestellten Projekte realisiert wurden, zählt mit nur 57 Einwohner:innen pro Quadratkilometer zu den am dünnsten besiedelten Gebieten mit insgesamt ca. 2,5 Mio. Einwohner:innen. Die meisten Brandenburger:innen leben im ländlichen Raum, oft in kleinen dörflichen Gemeinschaften. Mit über 3.000 Seen und idyllischen Wasserstraßen ist es touristisch sehr interessant, zumal 41% der Fläche unter Naturschutz stehen. Es grenzt sich von Berlin und dem sogenannten „Speckgürtel“ ab, dem Berliner Umland, in dem ca. 4 Mio. Menschen in urbaner Anbindung leben. Davon gehören 79% zur Einwohnerschaft Berlins, der übrige zum ländlichen Teil Brandenburgs.
Entsprechend den vorherigen Ausführungen ist auch dieses Bundesland von einer besonderen Altersstruktur gekennzeichnet, was in dem Schaubild durch die Spitzen im Altersbereich um 60 Jahre deutlich wird.
Die Länder Berlin und Brandenburg verstehen sich als offizielle gemeinsame Planungsregion. Die ländlichen Räume sollen in ihrer Differenzierung bewahrt und als eigenständige, attraktive Lebens- und Wirtschaftsräume weiterentwickelt werden (Gemeinsame Landesplanungsabteilung Berlin-Brandenburg 2019). Und hier setzen die folgenden Forschungsprojekte an.
Exemplarische Untersuchung zweier Kulturprojekte nicht nur mit Älteren
Im Folgendem werden zwei Projekte vorgestellt, die in gewisser Weise aufeinander aufbauen und damit eine Kontinuität von 2019 bis 2024 aufweisen können. In beiden Projekten wird mit sozial-kulturellen Methoden gearbeitet und der Fokus auf die Partizipation von älteren Menschen gelegt. Während das erste Projekt von 2019 bis 2022 realisiert wurde, begann das zweite Projekt direkt im Anschluss 2022 und wird 2024 förderbedingt zunächst abgeschlossen werden. Die Ergebnisse der Begleitforschung werden am Ende erläutert, zunächst werden die Ziele, die Akteur:innen und die methodische Arbeit vorgestellt.
Theater der Erfahrungen auf Landpartie – Zusammenspiel(en)
Das Theater der Erfahrungen ist 1980 gegründet worden und ist damit eines der ältesten Altentheater in Deutschland. Nach der Methode des Freien Theaters entwickelt das ca. 45 Protagonist:innen zählende Ensemble in drei seit Jahren kontinuierlich arbeitenden Theatergruppen namens Spätzünder, Rostschwung und Bunten Zellen zu gesellschaftlich relevanten Themen und/oder aus dem eigenen Erleben heraus ihre Stücke. Dies geschieht zunächst über eine kollektive Sammlung an Themen und Neigungen der Teilnehmenden. Unter theaterpädagogischer Anleitung wird improvisiert und meist kollektiv ein Stück geschrieben. Als Wandertheater agieren die drei sogenannten Stammgruppen dezentral in verschiedenen Einrichtungen. Es entstehen verschiedenste temporäre Projekte mit Schulen oder auch Kitas, Kooperationen mit Studierenden oder spezifischen Zielgruppen wie mit demenziell Erkrankten. Die festen Theatergruppen gehen mit ihren Aufführungen an Orte abseits der Hochkultur. Die Spieler:innen wollen mit ihren Aufführungen nicht nur Vergnügen bereiten, sondern schaffen damit sowohl für ältere Menschen als auch im intergenerativen Kontext Anlässe für oft gesellschaftlich brisante Diskussionen. Dieses Konzept wurde speziell im ländlichen Raum als Best Practice-Modell für Partizipation und Empowerment von Älteren angeboten.
Gastspiele der Altentheatergruppen inklusive Workshops für Interessierte bildeten den Auftakt. Durch dieses kombinierte ‚Paket‘ – Aufführung plus Werkstatt zum Selbermachen – sollten in den Partner-Orten sozial-kulturelle Initiativen angeschoben werden, die nach der begleiteten Einführungsphase selbstständig weiter agieren und in ihrem jeweiligen Umfeld kreativ tätig sein können.
Das Projekt „Landpartie“, war eines von ca. 260 Projekten, welches vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aus den Mitteln des Bundesprogramms „Ländliche Entwicklung und Regionale Wertschöpfung“ (BULEplus) im Rahmen der Förderlinie LandKULTUR unterstützt wurde. So konnte das beschriebene Konzept mit einer Förderung von 100.000 Euro für eine halbe Stelle einer Theaterpädagogin, Honorargeldern und der filmischen Begleitforschung innerhalb von drei Jahren umgesetzt werden. Im Zwei-Wochen-Rhythmus kamen Interessierte im ländlichen Raum unter theaterpädagogischer Anleitung zusammen und entwickelten eigene Themen und ästhetische Umsetzungsformen. Dies geschah stets in Anbindung und im Austausch mit einer Berliner Gruppe, die den Auftakt jeweils vollzogen hatte und aus deren Mitte heraus Multiplikator:innen alle zwei Wochen zu der sich neu formierenden Gruppe aufbrachen. Die älteren Menschen aus Berlin fuhren zum Teil über 100 km mit der Bahn oder dem Auto an die ausgewählten Standorte in Brandenburg: im Norden in der Gemeinde Gerswalde, im Süden in der Kleinstadt Luckenwalde und im Osten in der Gemeinde Steinhöfel/ Heinersdorf.
Künstlerische Expertise – Kooperation, Partizipation und Wertschätzung als Erfolgsindikatoren
Es gelang tatsächlich im Förderzeitraum an allen drei Orten eine Gruppe aufzubauen und nach jeweils einem Jahr mit einer Premiere an die Öffentlichkeit zu gehen. Mit ihren Stücken greifen sie Themen und Probleme aus ihrem Umfeld auf oder bearbeiten auch ihre DDR-Geschichte(n) bzw. die Jahre der Wende. Sie suchen den Kontakt zu ihrem Publikum und gestalten aktiv aktuelle Diskurse mit.
Welche Unterschiedlichkeiten im Einzelnen im Prozess und Produkt entstanden sind, dokumentiert die Begleitforschung mit dem Portrait von drei verschiedenen Gruppen: dem Gerswalder „SpielMut“, die „Bühnenpelikane“ in Luckenwalde und die „Waldemars“ in Heinersdorf. Während der gesamten Projektlaufzeit wurde die Arbeit filmisch begleitet und erforscht. Es entstanden mehrere Kurzfilme und eine lange (53 Min.) Dokumentation unter dem Titel: „BÜHNE FREI in Brandenburg – Ein Altentheater auf Landpartie“.
An allen drei Orten in Brandenburg arbeiten aktuell die neu aufgebauten Altentheatergruppen selbstständig weiter, haben zum Teil weitere Gelder für die theaterpädagogische Leitung akquiriert und bereichern das kulturelle Leben mit ihren Auftritten.
Es gelang mit den Methoden der sozial-kulturellen Arbeit, neue Netzwerke und damit den so wichtigen „sozialen Zusammenhalt“ zu entwickeln. Einsamkeit als großer gesundheitsschädigender Faktor wird auf diese Weise gemindert. Es entstanden über die sozial-kulturelle Arbeit hinaus Freundschaften sowie gegenseitige Hilfe im alltäglichen Leben. Das Vorhaben, den biographisch-partizipativen Theateransatz auch für ländliche Regionen nachhaltig nutzbar zu machen, kann als erfolgreich angesehen werden.
Die Begleitforschung erbrachte, dass ein wichtiger Indikator für den Erfolg dieses Projektes die „Brückenbauer:innen“ im ländlichen Raum sind. Ohne die engagierte Unterstützung von aktiven Menschen vor Ort, möglichst angebunden an eine Initiative oder Institution, wäre die Entwicklung dieser Altenkultur nicht möglich gewesen. An allen drei Standorten gab es im Vorfeld weitreichende Vorbereitungen und eine gemeinsame Planung, insbesondere die Akquise betreffend. Sie übernahmen jeweils die Koordination vor Ort und entwickelten nachhaltig ein Netzwerk. Mit den jeweiligen Ortskenntnissen war es ihnen möglich, Einrichtungen für die Präsentationen vorzuschlagen und weitere Netzwerkpartner:innen zu finden. Wesentliche Aufgaben waren die Planung der Werkstattreihen und die Kommunikation im ländlichen Umfeld. Sie begleiteten inhaltlich und organisatorisch jeden einzelnen Schritt und übernahmen im Zuge der Verstetigung allmählich die komplette Verantwortung für die Gruppe.
In Absprache mit den Kooperationspartner:innen wurden die Interessen und Themen ausgelotet, die vor Ort bei den älteren Menschen obenauf lagen: Sind es gesundheitliche Probleme, Einsamkeit oder Schwierigkeiten mit neuen Nachbar:innen? Gibt es erkennbare Wünsche nach Unterhaltung und Abwechslung? Gibt es Auseinandersetzungen über gesellschaftlichen Wandel, z.B. neue Nachbarschaften, Probleme mit den neuen Medien oder dem Alter? Diese erste gründliche Recherche umfasste auch den Sozialraum: Wer könnte sich für diese Arbeit einsetzen? Wo findet man Interessierte? Welche Schulen, Gemeinden, Seniorenwohnheime oder Sozialstationen haben welche Interessen, Ressourcen, Problemlagen? Angestrebt wurde ein zunächst loser Interessentenkreis, in dem verschiedene Akteur:innen aus verschiedenen Gründen daran interessiert waren, mehr sozial-kulturelle Lebendigkeit im Sozialraum zu erreichen und diese an dem kreativen Potential von Älteren anknüpfend aufzubauen.
Von ebenso hoher Bedeutung kann der Einsatz der Multiplikator:innen aus Berlin gewertet werden. Die Gastspiele und das Zusammenspiel im Workshop durch die angereisten Berliner:innen hatte in der Kontinuität und Regelmäßigkeit eine enorme empowernde Wirkung für die Beteiligten im ländlichen Raum und brachte das Projekt stetig voran. „Es macht Mut an den Berlinern zu sehen, was daraus werden kann“, war die Meinung einer Spielerin aus Gerswalde. Ähnlich wird die Inspiration in Luckenwalde aufgenommen, denn „es wird ja nichts übergestülpt, es geht ja um die Erfahrungen der Menschen hier in Luckenwalde“, erläutert Maria Hösel, Theaterpädagogin aus der Region im Interview. Die Kompetenz und der Erfahrungshintergrund des Hauptakteurs, das Theater der Erfahrungen, spielten ebenfalls eine große Rolle. Diese Institution hat neben der kreativen Arbeit mit Älteren auch die intergenerative und transkulturelle Theaterarbeit vorangetrieben und mit der Alice Salomon Hochschule Berlin als Kooperationspartnerin verschiedene methodische Theaterstile aber auch Formen des bürgerschaftlichen Engagements entwickelt.
Als weiterer Garant des Erfolgs sei die Methode der partizipativen Theaterarbeit mit Älteren an sich zu nennen. Auffällig war in den Interviews die immer wiederkehrende Äußerung der Beteiligten, dass sie ihre eigenen Geschichten, Themen und Spielweisen einbringen und so in einen sehr beglückenden Austausch mit anderen gehen konnten. Es wurde betont, dass es, entgegen mancher Befürchtung, zu keiner „Überformung“ durch städtische Kultur oder westliche „koloniale“ Vorgehensweisen kam, sondern eine Gestaltung der Community durch eigene Vorstellungen und Ideen entstehen konnte.
Ein wesentlicher Aspekt im Aufbau dieser Gruppen ist die Wertschätzung der Protagonist:innen aus dem ländlichen Raum. Sie betraten größtenteils zum ersten Mal in ihrem Leben eine Bühne, packten heiße Themen an und zeigten teils berührende biografische Momente z.B. des persönlichen Scheiterns und Zweifelns. Während die Laienspieler:innen im städtischen Raum eher die Möglichkeit haben, in der schützenden Anonymität zu verschwinden, kann die soziale Kontrolle und damit mögliche diskriminierende Reaktionen im ländlichen Raum stärker und direkter sein. Es braucht den Mut, sich diesen Dingen auszusetzen. Entsprechend ist die Wertschätzung ihres Engagements eine wichtige Arbeitsbasis. Durch Einladungen, ihre Stücke in Berlin zu zeigen, durch neugierige Besuche von Studierenden aus Berlin während ihrer Proben und durch die filmische Begleitforschung, in der sie gefragt, ihre Bühnenwerke dokumentiert und ihre Prozesse gezeigt wurden, entstand ein unterstützender Rahmen.
Explorative Weiterentwicklung mit interdisziplinären künstlerischen Formen: „Bühne frei für gesundes Älterwerden in Stadt und Land“
Im letzten Abschnitt wurden mit dem weiteren Bestehen der drei Altentheatergruppen, ihrem Wirken im ländlichen Raum sowie der filmischen Dokumentation nachhaltige Aspekte genannt. Ebenfalls als nachhaltig zu bewerten ist, dass sowohl an den geographischen als auch den methodischen Gegebenheiten des Landkulturprojekts eine Weiterentwicklung initiiert werden konnte.
Dies ist verschiedenen Beobachtungen geschuldet. Zum einen konnte als signifikant gesehen werden, dass bei dem Austausch zwischen den Berliner Gruppen und den „neuen“ Theatergruppen im ländlichen Raum dem transkulturellen Aspekt eine besondere Bedeutung zukam. Die theaterpädagogische Leitung der Landpartie, Hülya Karci, als auch die deutsch-türkische Zusammensetzung einer Altentheatergruppe des Theaters der Erfahrungen, den Bunten Zellen, brachten Impulse ins Spiel, die „bei uns nicht so häufig sind“, wie eine Spielerin im ländlichen Raum bemerkte. Diese personelle Zusammensetzung war bewusst gewählt, um im künstlerischen Austausch auch transkulturelle Prozesse möglich zu machen. Die Frage war nun, ist es möglich an der Stelle intensiver anzusetzen und gezielt Gruppen von Menschen, die vor möglichen rassistischen Übergriffen einen Besuch in Brandenburg vermeiden, verstärkt mit einzubeziehen.
Es entstand die Idee, an dieser Stelle anzusetzen und ein Konzept zu erarbeiten, mit dem spezifische Gruppen zusammengebracht und Raum für gemeinsame künstlerische Arbeit geschaffen werden könnte. Mit einer explorativen Haltung sollten verschiedene Methoden genutzt werden, denn das Feld, die von Benachteiligung betroffenen älteren Menschen aus Brandenburg und „migrantische“ Gruppen aus Berlin in einen Austausch bringen, war zunächst Neuland. Um den demografischen Wandel in den ländlichen Bereichen der Hauptstadtregion gut gestalten zu können, ist das Ziel auch hier, mit sozial-kulturellen Angeboten – umfassend, partizipativ und interdisziplinär gestaltet – zu einem demokratischen Gemeinwesen beizutragen. Vernetzung und Teilhabe auf mehreren Ebenen im Projekt – begleitet durch eine breit angelegte Untersuchung, basierend auf direkten Kontakt zur Zielgruppe und auf eine fundierte Vorrecherche – sollen auf eine notwendige Entwicklung zu einer offenen demokratischen Zivilgesellschaft wirken. Nicht zuletzt könnte das Modellvorhaben sowohl zum sozial-kulturellen Nachteilsausgleich für den ostdeutschen ländlichen als auch für latent diskriminierte Gruppen im städtischen Raum beitragen. Die Herstellung von gleichwertigen Lebensverhältnissen ist im Grundgesetz verankert. Die partizipative Entwicklung sozial-kultureller Projekte im Umland könnte dazu einen Beitrag leisten.
Unter dem Titel „Bühne frei für gutes Älterwerden in Stadt und Land“, gefördert vom Institut für angewandte Forschung – IFAF Berlin, konnte dieses Praxisforschungsprojekt im Verbund zwischen der Alice Salomon Hochschule und der Hochschule für Wirtschaft und Technik Berlin konzipiert werden. Interdisziplinär kommen hier die Bereiche Theater in Sozialen Feldern und Museologie zusammen.
Eine wesentliche Fördergrundlage ist die gemeinsame Innovationstrategie der Länder Berlin und Brandenburg – innoBB 2025, von beiden Landesregierungen als Fortführung der engen Zusammenarbeit in der Hauptstadtregion beschlossen (Land Brandenburg/Land Berlin 2019). Ziele der Förderlinie sind die Entlastung der Hauptstadt und die Attraktivitätssteigerung des Umlandes und seiner Gemeinden für Besucher:innen sowie für Bewohner:innen.
Das Forschungsfeld umfasst wiederum die Gemeinden Gerswalde und Steinhöfel, Gebiete in Brandenburg mit ähnlicher Problemstellung. Hier leben seit 2015 geflüchtete Familien sowie „Neubrandenburger:innen” aus Berlin und temporär zahlreiche Berliner:innen in Wochenendhäusern oder alternativen Wohnprojekten. Mehr Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen und -praktiken könnte den Zuzug fördern, um somit mit größeren Ressourcen und Ideen das Gemeinwesen nachhaltig zu stärken.
Erprobung verschiedener Aktionsformen – Kontinuität, Kooperation und Vielfalt
Das Projekt Bühne frei begann im Oktober 2022 mit einer ersten Erpobungsphase, in der bewusst explorativ und partizipativ vorgegangen wurde. Schon im ersten Jahr konnte sich zum einen ein kontinuierlicher Aktionsstrang herausbilden, zum anderen wurden singuläre Aktionen realisiert. Kontinuierlich wurde mit einer Gruppe von Frauen aus Berlin, den Stadtteilmüttern aus Neukölln, die sich aufgrund möglicher fremdenfeindlicher Übergriffe bisher nicht im Umland bewegt haben, gearbeitet. Mit der Koordinatorin Abier Nasereddin wurde eine erste Fahrt nach Brandenburg zu dem Kooperationspartner in Gerswalde realisiert. Hier fanden sich interessierte Frauen aus dem ländlichen Raum, die gemeinsam mit den Gästen aus Berlin im Rahmen einer von Frauen gestalteten Ausstellung an einem Workshop zum Kreativen Schreiben teilnahmen. Der Workshop wurde filmisch begleitet und ergänzte die Ausstellung, die dann wiederum in Berlin gezeigt wurde, zu deren Eröffnung wiederum die Frauen aus der Uckermark nach Berlin kamen. Dies war der Anfang einer kontinuierlichen Begegnungsreihe mit weiterem Besuch in der Uckermark.
Die museale Disziplin fand in der Zusammenarbeit mit dem Heimatmuseum Gerswalde zur Geschichte in der Region ihren Rahmen. Ein gemeinsamer öffentlicher Schaukelbau – eine künstlerische Intervention, die sinnbildlich für Migration steht, stellte eine weitere Aktion mit Anwohner:innen und Besucher:innen dar. Auf diese Weise öffneten sich interdisziplinär die Methoden, die Aktionen bekamen eine Dynamik, indem die Besucher:innen spontan ihre Art zu feiern, zu essen und zu tanzen mit den interessierten Bewohner:innen im ländlichen Raum teilten. Organisch entwickelte sich eine Bespielung des öffentlichen Raumes. Diese Sichtbarkeit nach außen bedeutete gleichzeitig auch ein Zeigen von Vielfalt und ziviles Engagement zur Gestaltung der öffentlichen Räume, ohne den Schutzraum nach innen für die Besucher: innen aus Berlin zu gefährden. Initiierte Gespräche und Interviews – auch hier im Kontext der filmischen Begleitforschung – vertieften den Erfahrungsaustausch. So stand der Gegenbesuch in Berlin unter dem Zeichen: Wir forschen alle gemeinsam mit. Mit Einsatz der Kamera kam es zu den Fragen: Was braucht es, um sich wirklich kennenzulernen, Vorurteile abzubauen, sich gegenseitig zu unterstützen?
Die Protagonist:innen aus dem ländlichen Raum kamen zum Teil aus den Theatergruppen, die mit der Landpartie entstanden sind, und erkundeten somit weitere Methoden im Austausch mit den Stadtteilmüttern aus Berlin. Der Fokus veränderte sich, wurde inhaltlich verfestigt in dem kontinuierlichen Austausch zum Thema gegenseitigen Vorurteilsabbaus. Nun kamen die Besucher:innen aus Brandenburg nach Berlin, um hier die mittlerweile wohl bekannten Mitstreiterinnen aus der Stadt zu treffen. Diesmal stand eine historische Ausstellung auf dem Programm, die einer Kämpferin aus der DDR gewidmet und in der HTW mit Studierenden entwickelt wurde. In interaktiven Gesprächsmöglichkeiten wurde die Beschäftigung mit den dem Leben Tamara Bunkes erarbeitet. Wieder war dies ein Experiment, denn diesmal handelte es sich um ein Bildungsangebot, was ohne vorherige Bedürfnisabfrage als möglicher Gegenstand für einen Austausch gemacht wurde. Es entstanden spannende, hitzige politische Diskussionen, über die historische Figur erfuhren die Teilnehmenden mehr über ihre eigenen jeweiligen Lebensverhältnisse und biographischen Herausforderungen. Die Idee, eine eigene Ausstellung zu machen, in der Personen von persönlicher Wichtigkeit Raum finden, entstand. Diese gemeinsame museale Arbeit ist mit szenischen Arbeiten im ländlichen Raum geplant.
Daneben wurden singuläre Aktionen entwickelt: Eine deutsch-türkische Altentheatergruppe recherchierte mit Bewohner:innen aus dem ländlichen Raum und Studierenden der Alice Salomon Hochschule Berlin zu dem Thema „Held:innen“ in der Gemeinde Steinhöfel und setzte die Ergebnisse szenisch und künstlerisch um. Ein deutsch-türkisches Gastspiel wurde in Heinersdorf in einer Grundschule gezeigt und zum Anlass für einen inhaltlichen Austausch mit Bewohner:innen aus Heinersdorf genommen. Die filmische Begleitforschung mit „Man muss sich die Zeit nehmen..." fängt spannende Diskussionen im Anschluss an die Vorführung ein und gibt Einblick in eine Annäherung verschiedener Perspektiven. Auf Wunsch der Akteur:innen im ländlichen Raum wurde im Folgenden ein intergenerativer Workshop mit dieser Gruppe aus Berlin sowie Kindern und Älteren aus Heinersdorf realisiert. Das Ergebnis feierte im „Haus des Wandels" Premiere und führte dazu, dass einige Heinersdorfer:innen erstmalig dieses Haus von Berliner Künstler:innen besuchten.
Auch hier kommen Menschen nach Brandenburg, die aufgrund möglicher fremdenfeindlicher Übergriffe einem Besuch ansonsten eher vorsichtig gegenüberstehen. Sie kommen nicht als einzelne Besucher:innen, sondern als Protagonist:innen einer künstlerischen Arbeit. Gemeinsam werden Aktionen entwickelt, öffentlich gezeigt, Orte besetzt, gestaltet, eingenommen. Ein Schwerpunkt der Interventionen im Rahmen des Forschungsprojektes ist somit, einen Beitrag zu einem solidarischen friedlichen Gemeinwesen im ländlichen Raum zu leisten und mit dem sozial-kulturellen Austausch Begegnungen zu ermöglichen, die ansonsten nicht stattfinden. Durch den Einsatz interdisziplinärer Methoden, durch Verknüpfungen von Kreativem Schreiben mit Filmen, Ausstellen, Theaterspielen, Bauen konnten Anlässe zur Begegnung, zu gemeinsamen kreativen Arbeiten geschaffen und die Ergebnisse teilweise öffentlich gezeigt werden. Die wissenschaftliche Begleitung ist partizipativ, denn gemeinsam werden die Erfahrungen mit den künstlerischen Impulsen evaluiert, um aufgrund der Anregungen der Beteiligten weitere Projekte zu entwickeln. Es gilt, demokratische Kräfte zu stärken, auch indem mit dortigen Partner:innen öffentliche Plätze im ländlichen Raum mit künstlerischen Interventionen gestaltet werden und Anlässe zur Kommunikation im dörflichen Leben entstehen.
Erkenntnisse und Schlussfolgerungen
Einen kleinen Einblick gibt der Kurzfilm „Stadtauswärts – übers Land“. Schlussfolgerungen aus den Projektverläufen sind zu sehen in „Hartes Pflaster – Märkischer Sand".
Die hier beschriebenen Projekte haben gezeigt, dass sich hinter dem demographischen Wandel ein großes kreatives Potential von Älteren sowie deren Interesse an zivilgesellschaftlichem Engagement verbirgt. Dies ist sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum zu finden. Im Folgenden sollen abschließend die Erkenntnisse final in Thesenform gebündelt aufgeführt werden. Dazu ein letzter Blick auf das Erreichte, aber auch auf das Ausgelassene, nicht erreichte.
- Wir können nach unseren Erfahrungen davon ausgehen: Künstlerische Impulse werden von einer, wenn auch verhältnismäßig kleinen, Gruppe an Menschen sehr offen und interessiert angenommen, wenn,
a) diese Angebote partizipativ an den Interessen der Bewohner:innen orientiert sind, terminlich abgestimmt und kostenfrei angeboten werden.
b) sogenannte Brückenbauer:innen die Akquirierung, den Informationsaustausch, die Organisation und Verbindung zu den städtischen Akteur:innen übernehmen.
- Soweit wir mit Fragbögen, teilnehmender Beobachtung und filmischer Begleitforschung feststellen konnten, fühlen sich aktive Bewohner:innen im ländlichen Raum durch die Initiierung dieser künstlerischen Projekte in ihrem Bestreben bestärkt, eine lebhafte Gemeinschaft zu entwickeln und zu erhalten, in der menschenfeindliche und verächtliche Ideologien keinen Platz haben.
- In beiden Forschungsfeldern gab es die Situation, dass aufgrund von Landkauf und Immobilienerwerb Künstler:innen aus der Stadt unkonventionelle Lebensweisen realisierten, Gelder für verschiedene Projekte akquirierten und sich ein gewisses Paralleluniversum zu der ländlichen Gemeinschaft präsentierte. In beiden Fällen konnte durch künstlerische Interventionen von Dritten – in diesem Fall durch das Projekt Bühne frei – und dem Interesse an beiden Gruppen von außen, eine Kommunikation untereinander gefördert und somit eine gewisse Brücke geschlagen werden. Es ist davon auszugehen, dass eine „Katalysatorfunktion“ der künstlerischen Impulse von Dritten für gegenseitige Toleranzentwicklung genutzt werden kann.
- Die „Besetzung“ öffentlichen Raums durch künstlerische Aktionen wurde von den Bewohner:innen positiv aufgenommen und hatte keinerlei Konfrontation oder Reibung mit rechten Gruppierungen zur Folge. Im Gegenteil brachten diese Aktionen die größte Öffentlichkeit. Als Strategie, “gute Kräfte“ zu stärken und eine größere Verbreitung zu erreichen, ist die Besetzung öffentlicher Räume zu empfehlen.
Insgesamt wurden Begegnungsmöglichkeiten von Menschen in verschiedenen Lebenswelten ebenso genutzt wie verschiedene künstlerische Disziplinen. Ebenfalls wurde sichtbar, das mit künstlerischen Impulsen ein Austausch initiiert und erfolgreich gestaltet werden kann. Ein über Jahre gefestigter Kontakt schafft Kontinuität und Verlässlichkeit, stärkt Vertrauen aller Beteiligten und entwickelt so die Basis für nachhaltige künstlerische Zusammenarbeit. Dabei ist ein an den Bedürfnissen und Interessen der Adressat:innen orientiertes Konzept von höchster Wichtigkeit. Es sollte ständig an der Praxis überprüft werden. Es zeigte sich, dass ein beständiger Raum für Reflexion, der in den beschriebenen Projekten u.a. durch die Befragungen im Rahmen der filmischen Begleitforschung gegeben war, sehr hilfreich sein kann. Auf diese Weise können nicht nur Aktivitäten ausgewertet, sondern auch neue Anregungen und Impulse entdeckt, aufgenommen und umgesetzt werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass zum Teil unbewusst bestehende Vorannahmen oder auch Stigmatisierungen der Adressat:innen in einem Austausch aufbrechen können und dies auch zur Kenntnis genommen wird. Allerdings handelt es sich dabei um Teilnehmende, die eine gewisse Offenheit mitbringen und darüber hinaus ein Interesse haben, ihren Lebensraum in zivilgesellschaftlicher Weise mitzugestalten. Daneben gibt es eine breite Gruppe an Menschen, die nicht aktiv an den Angeboten teilnehmen, jedoch als Rezipient:innen bei öffentlichen kostenfreien Aufführungen oder Events erschienen sind. Es war zu beobachten, dass sich die aktiven Akteur:innen in den Projekten bemühten, eine Brücke zu bisher weniger interessierten oder passiven Mitgliedern einer Community zu bilden. So könnten im Laufe der Zeit mehr Menschen gewonnen werden, sich ebenfalls gestalterisch im Gemeinwesen einzubringen. Der Prozess, mit künstlerischen Impulsen gegen fremdenfeindliche Tendenzen anzugehen ist langwierig, es bedarf Zeit für Entwicklung und Vernetzung. Doch die vorgestellten Projekte bestätigen, dass „durch gemeinsam erarbeitete künstlerische oder kulturelle Projekte auch intergenerationell und interkulturell übergreifende Verständigung und Interaktion möglich“ ist (Lauterbach-Dannenberg 2019).
Ausblick: Mit künstlerischen Methoden im Kontext der demografischen Entwicklung die Zivilgesellschaft stärken
Der demografische Wandel zeigt aktuell zwei Phänomene auf, die sich auch in der kulturellen Landschaft niederschlagen: Die verbreitete Altersdiskriminierung greift dabei bis in die Kulturpolitik (Fricke/Haller 2023). Zum einen steigt der Anteil der Älteren in unserer Gesellschaft, im ostdeutschen ländlichen Raum wie z.B. in Brandenburg sogar überproportional mehr. Zum anderen steigt insbesondere in Großstädten der Anteil derjenigen, die familiengeschichtlich betrachtet auch außerhalb Deutschlands noch in weiteren Ländern verortet sind und sprachlich auf mehrfache Ressourcen zurückgreifen können. So bestimmen zwei große Themen seit geraumer Zeit den sozialpolitischen und zunehmend auch kulturpolitischen Diskurs: Die Entwicklung von Inter- oder Transkultur einerseits und das Miteinander in einer Gesellschaft, in der ältere Menschen einen immer größeren Teil der Bevölkerung werden und schon geworden sind andererseits.
Beide Bevölkerungsgruppen werden nicht selten skandalisierenden vereinfachenden Zuschreibungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die sich teilweise sogar gegeneinander richten können. Vorurteile können sich rassistisch motiviert auf die Herkunft oder eben auf altersbedingte vermeintliche Merkmale beziehen. In der Möglichkeit der Partizipation, der Mitgestaltung von Gemeinwesen kann eine Chance gesehen werden, ein friedliches Miteinander zu entwickeln. Auch Janina Stiel und Harald Rüßler postulieren: „Werden ältere Menschen als Ko-Produzentinnen und -Produzenten begriffen, sind sie nicht nur an der Gestaltung ihres Quartiers entscheidend beteiligt. Sie wirken ebenso an der Entwicklung von Ideen zur Ergänzung der repräsentativen lokalen Demokratie mit (…).“ (ebd. 2017:19f)
Künstlerische Interventionen oder theaterpädagogische Arbeit können als Chance gesehen werden, Anlässe für einen Austausch mittels Theaterarbeit zu schaffen, Verkrustungen aufzubrechen und im besten Falle auch eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Diese Möglichkeit gilt es zu nutzen. Wir leben in einer Welt, in der Verteilungskämpfe toben. Die reichsten 2% der Weltbevölkerung besitzen mehr als 51% des weltweiten Vermögens. Nach dem Motto ‚teile und herrsche‘ werden Gruppen gegeneinander ausgespielt, aufgrund von Angst vor Verlust werden Versorgungsängste gegenüber Älteren geschürt, Menschen mit Migrationserfahrung oder Fluchterfahrung kriminalisiert.
Konservative, intolerante Lebenshaltungen bis hin zu rechter Gewalt stellen in den neuen Bundesländern mit einer ausgedünnten ländlichen Bevölkerungsstruktur ein Problem dar (vgl. Kohlstruck 2018). Die Erklärungsmodelle reichen von der „Erfahrung einer kollektiven Entwertung und einer kulturellen Asymmetrie zwischen Ost und West“ bis zu „unrealistischen Erwartungen an das westliche Politik- und Wirtschaftssystem“ (vgl. Holtmann et al. 2015:162–164). Die rechtsextremen Gruppen und Organisationen aus den alten Bundesländern unterstützten intensiv demokratiefeindliche Tendenzen finanziell und personell.
„… ärmer, älter, pessimistischer - und entsprechend empfänglich für populistische Politstrategen“ vereinfachte Prof. Dr. Henrik Müller eine komplexe Entwicklung in dem Spiegel-Artikel. Diese einfache Gleichung verkennt viele Initiativen und Bemühungen von alten Menschen, beispielsweise von OMAS GEGEN RECHTS, die sich – auch auf dem Land – gegen Fremdenfeindlichkeit engagieren. In der Forschung wird untersucht, ob eigene Abwertungserfahrungen aus Ostdeutschland dazu führen, diese an andere, vermeintlich schwächere Gruppen im migrantischen Kontext weiterzugeben (Foroutan/Hensel 2020). Eine Gleichsetzung dieser Gruppen und ihrer jeweiligen Diskriminierungserfahrungen wäre fahrlässig und ist von niemanden gewollt, aber wie wäre es, genau an dieser Stelle nach Allianzen zu forschen.
Die hier aufgeführten Projekte verdeutlichen, wie empfänglich die Bevölkerung aus dem ländlichen Raum für Begegnung sein kann – ob in Heinersdorf ein alter Dorfhistoriker über Helden mit den Besucherinnen aus Berlin debattiert oder in Gerswalde eine interessierte Bewohnerin sich über das Frauenbild mit Menschen aus dem Libanon austauscht. Doch es braucht Anlässe für einen Kontakt und Austausch, es braucht gestaltete Möglichkeitsräume, partizipativ und attraktiv, dann werden diese wahrgenommen.
Wie sich die Bevölkerung in städtischen, suburbanen und ländlichen Regionen in Zukunft entwickeln wird, hängt von vielen Faktoren ab. Die Abwanderung von Jungen und Alterung der verbleibenden Bevölkerung, die Bereitstellung von Infrastruktur in ländlichen Gebieten, die krisen- und ökonomiebedingten Herausforderungen wie steigende Wohnkosten und soziale Ungleichheit in den größten Städten – die Sachlage ist vielschichtig. Sozial-kulturelle Projekte können und sollen die Probleme nicht lösen. Doch künstlerische Interventionen können zu Partizipation ermuntern, Sprachrohr für Befindlichkeiten sein und Impulse für das Denken und Anschieben gesellschaftlicher Veränderungen setzen. Sie können Bedarfe öffentlich machen und Anlässe zu einem Transfer geben, der allen Beteiligten zugutekommt.