Theater auf der Suche nach neuem Publikum und Akzeptanz in der Stadtgesellschaft: Ergebnisse eines Forschungsprojekts
Abstract
Die öffentlich getragenen Theater in Deutschland sind in ihren traditionellen Strukturen und institutionalisierten Erwartungen an Theater verhaftet und stehen zugleich unter hohem Veränderungsdruck auch aufgrund einer veränderten Nachfragesituation und kultureller Interessen sowie wachsender Ansprüche an kulturelle Teilhabegerechtigkeit. Wichtig sind dabei Themen wie Audience Development und Change Management. Doch: Wie relevant sind Theater für das kulturelle Leben der Gesellschaft, wie repräsentieren sie die Bevölkerung in ihrer Diversität? Und mit welchen Strategien versuchen sie, neues Publikum zu gewinnen und dabei ihre Einrichtungen auch strukturell stärker zu öffnen und zu verändern?
Die insgesamt 142 Stadt-, Staats- und Landestheater erhalten den höchsten Anteil öffentlicher Kulturförderung in Deutschland und sind damit in besonderer Weise abhängig von der Wertschätzung bei kulturpolitischen Akteuren, Fachöffentlichkeit, Publikum sowie der Bevölkerung. Die deutsche Theaterlandschaft zeichnet sich im internationalen Vergleich durch ihre hohe Dichte, Institutionalisierung und hohe öffentliche Förderung aus. Jede größere Kommune in Deutschland verfügt über ein öffentlich getragenes Theater, meist an einem zentralen Ort in der Stadt. Die als zentrale Repräsentationsstätten geschaffenen Stadt- und Staatstheater sind in ihren Platzkapazitäten heute häufig überdimensioniert und mit hohen Kosten verbunden.
Befinden sich die Stadt- und Staatstheater in einer Publikums- oder mehr noch in einer Legitimationskrise? Welche Erwartungen an Aufgaben und Programme der Theater und insbesondere an Publikums- und Teilhabeorientierung gibt es bei den unterschiedlichen Stakeholdern: der Kulturpolitik, der Theaterfachöffentlichkeit, dem Publikum, der Bevölkerung? Wie nehmen sie selbst ihre Verortung in Stadt und Gesellschaft wahr, und mit welchen Strategien reagieren sie auf eine u.a. durch demografischen Wandel, Migration, Digitalisierung veränderte Nachfragesituation?
Diese Fragen wurden im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten und von der LMU München initiierten Verbund-Forschungsprojekts zu „Krisengefügen in den Darstellenden Künsten“ (Mandel/Zimmer 2021) im Rahmen eines dreijährigen Teilprojekt des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim unter Leitung der Autorin empirisch aus mehreren Perspektiven untersucht aus Sicht:
- der Theater- sowie der kulturpolitischen Fachöffentlichkeit
- der Intendant*innen der deutschen Stadt-, Staats- und Landestheater anhand einer repräsentativen Befragung
- von Theaterschaffenden in drei ausgewählten Theatern mit qualitativen Befragungen und Analysen der jeweiligen Audience Development Strategien
- der Bevölkerung, des Publikums und der Nicht-Besucher*innen mit Hilfe einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zu kulturellen Interessen, Nutzung von Theater und Einstellungen zum Theater und seiner öffentlichen Förderung sowie durch eine Sekundäranalyse bestehender Publikumsstudien.
Nachfolgend einige zentrale Ergebnisse:
Finanzierungs- und Strukturkrise im Diskurs der Fachöffentlichkeit dominierend
Vor allem die Theaterfachöffentlichkeit beschreibt eine spätestens seit der Wiedervereinigung anhaltende, mal mehr, mal weniger ausgeprägte Finanzierungkrise der öffentlichen Theater, für die vor allem die Kulturpolitik verantwortlich gemacht wird. Die Krisen-Diskurse machen sich insbesondere an den hohen Kosten und unflexiblen Strukturen der Stadt- und Staatstheater mit je eigenem Ensemble, eigenen Gewerken, großem Verwaltungsapparat, Repertoire-Spielplan, renovierungsbedürftigen Immobilien fest sowie ihren als unflexibel wahrgenommenen Strukturen; seit einigen Jahren auch an ihrer für Machtmissbrauch anfälligen hierarchischen Führung. Nicht in Frage gestellt wird die Ensemble-Struktur. Im Zuge der demografischen Veränderungen v. a. durch Migration wird zudem häufiger die Frage nach der Relevanz der Theater für eine von zunehmender Diversität gekennzeichneten Bevölkerung und „Stadtgesellschaft“ gestellt mit dem Vorwurf, dass die Theater diese weder auf der Bühne, im Personal noch im Publikum repräsentieren. Kaum diagnostiziert wird eine „Publikumskrise“.
Der Diskurs um Nachfrage- und Teilhabeorientierung in der Theaterfachöffentlichkeit zeigt ein ambivalentes Bild. Zwar wird eine gesellschaftliche Verantwortung der Theater für eine „diverse Stadtgesellschaft“ betont, dabei dürfe jedoch die Integrität der Kunst nicht infrage gestellt werden wie durch Unterhaltungsorientierung und Theater nicht zur Sozialarbeit werden.
Tendenziell rückläufiges Publikumsinteresse vor allem bei nachwachsenden Generationen
Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung von derzeit unter 10% besucht häufiger ein Theater, so das Ergebnis der Bevölkerungsbefragung der Universität Hildesheim zu Interesse, Besuch und Einstellungen zum öffentlich geförderten Theater (Mandel 2020). Etwa die Hälfte der Bevölkerung gehört zu den Nie-Besucher*innen. Vor allem in der jüngeren Generation verlagert sich das Interesse auf andere Kulturformen vor allem im Bereich der populären Kultur. Auch die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins zeigt im Zeit-Vergleich rückläufige Besucherzahlen bei den Stadt- und Staatstheatern.
Kaum Forderungen nach Veränderungen durch Kulturpolitik
Kulturpolitik stellt nur in seltenen Fällen Forderungen nach programmatischen Veränderungen der von ihr geförderten Theater in Bezug auf Mission, Aufgaben, inhaltliche Ausrichtung, Spielplan, Formate, so ein Ergebnis der Befragung der Theaterleitungen. Die Theater müssen in der Regel keine tiefgreifenden Interventionen der Kulturpolitik befürchten, so lange die Auslastungszahlen stimmen und es ein ausgeglichenes Budget gibt. Damit überlässt Kulturpolitik den Theatern zumeist auch die Verantwortung für zukunftssichernde Strategien und bietet keine Unterstützung für notwendige Transformationen.
Zugänglichkeit für alle und Unterhaltung als zentrale Erwartungen der Bevölkerung an Theater
Zwar sieht die Bevölkerung und insbesondere das Kernpublikum in der Präsentation von klassischen und aktuellen Stücken weiterhin eine wesentliche Aufgabe der Theater. An erster Stelle wird jedoch eine hohe Zugänglichkeit für alle Bevölkerungsgruppen durch günstige Preise, durch spezifische Programme für Kinder und Jugendliche und durch verständliche und humorvolle Stücke und Inszenierungen erwartet. Verbreitetet ist zudem die Auffassung, dass Theater nicht nur ein Ort für Kunstpräsentationen, sondern auch ein Treffpunkt für die Bevölkerung der Stadt sowie ein Raum sein sollte, an dem gesellschaftliche und politische Diskussionen angestoßen werden.
Breiter Konsens in der Bevölkerung für öffentliche Theaterförderung
Das Image der Theater ist deutlich besser als die Nutzung und selbst bei den Nie-Besucher*innen spricht sich die weit überwiegende Mehrheit dafür aus, Theaterförderung mindestens auf bisherigem Niveau zu halten oder sogar zu erhöhen. Damit scheint aktuell die Legitimität der öffentlich getragenen Theater in der Bevölkerung nicht in Frage gestellt zu sein. Allerdings zeigt sich eine geringere Zustimmung zur Theaterförderung bei den jüngeren Generationen.
Hohe Dynamik in der Entwicklung neuer, teilhabeorientierter Maßnahmen bei Beibehaltung des traditionellen Repertoire-Spielplans
Mit einem breit aufgestellten Spielplan, der sowohl Komödien, bekannte Namen, Klassiker des Kanons als auch neue Stücke mit gesellschaftspolitischem Anspruch bietet, versuchen die meisten Theater unterschiedliche Publikumsinteressen abzubilden. Dabei ist es für Theater außerhalb von Metropolen und touristisch attraktiven Städten deutlich schwieriger, ausreichende Nachfrage zu generieren.Obwohl nur wenige der befragten Intendant*innen der Stadt- und Staattheater zum Befragungszeitpunkt Anfang 2020 einen Rückgang des Publikums für ihr Theater wahrnehmen und es selten Vorgaben von Seiten kulturpolitischer Zuwendungsgeber gibt für das Erreichen neuer Zielgruppen, ergreifen die Theater vielfältige Maßnahmen vor allem im Bereich Kultureller Bildung und entwickeln neue Formate und partizipative Projekte, mit denen diverse Gruppen der Stadtgesellschaft adressiert werden, die bislang im Theater kaum repräsentiert sind. Diese Projekte reichen von Outreach mit Aufführungen an öffentlichen Orten, in Bildungs- und Sozialeinrichtungen über gemeinsame Theater-Produktionen mit unterschiedlichen sozialen Gruppen bis zur Öffnung des Hauses und Bereitstellen der eigenen Infrastruktur für soziale Zusammenkünfte, so etwa als Treffpunkt für Geflüchtete und Einheimische.
Die Einführung solcher Maßnahmen ist offensichtlich weniger von einer als krisenhaft wahrgenommenen Publikumsentwicklung ausgelöst worden, sondern eher durch einen Wandel der „Rechtfertigungsmythen“ in der institutionellen Umwelt der Theater (Walgenbach 2006). Die lange Zeit als selbstverständlich akzeptierte Vorstellung, dass der Staat öffentlich getragene Theater zu finanzieren habe, um die Produktion anspruchsvoller Kunst vor Markteinflüssen zu schützen, scheint als alleiniger Legitimationsmythos nicht mehr zu genügen (vgl. u.a. Nachtkritik.de, Stadttheaterdebatte). Für die öffentlich getragenen Theater ist der normative Druck gestiegen, pro-aktiv einen Beitrag zur Inklusion von bisher nicht erreichten, sozial und kulturell heterogenen Bevölkerungsgruppen zu leisten.
Fazit: Theater zwischen Nachfrage- und Teilhabeorientierung, Pfadabhängigkeit und Transformation
Um den unterschiedlichen Erwartungen der verschiedenen Publikumsgruppen wie der Fachöffentlichkeit gleichzeitig zu entsprechen und ihre Legitimität zu wahren, greifen Stadt- und Staatstheater zu Entkopplungsstrategien (Wagenbach 2006). Sie versuchen einerseits ihr (Stamm-)Publikum zu konsolidieren mit einem häufig am Kanon orientierten Spielplan und andererseits ihre gesellschaftliche Verantwortung zu demonstrieren durch Kooperation mit Bildungs- und Sozialeinrichtungen unter Einbezug gesellschaftlicher Randgruppen. Die vielfältigen neuen Maßnahmen im Bereich Kulturelle Bildung und kulturelles Community Building sind in der Regel nicht begleitet von organisatorischen Transformationsprozessen wie z. B. neue Führungsmodelle (flache Hierarchien); diversifiziertes Personal, abteilungsübergreifende Zusammenarbeit in der Kulturvermittlung; veränderte Gesamtmission für breite Teilhabe durch Fokussierung auf das Ziel einer diverseren Publikumsstruktur, ein verändertes Programm (z. B. mit Abkehr von Repertoire). Um solche strukturellen Transformationen durchzuführen, benötigen Theater auch Unterstützung durch ihre Zuwendungsgeber mit klaren kulturpolitischen Zielvorgaben ebenso wie Freiräume, um neue Arbeitsweisen ausprobieren zu können.
Der Strukturwandel der Kulturnachfrage gefährdet die Legitimität der öffentlich getragenen Theater, wenn sich bei den jüngeren Generationen kulturelle Interessen weiterhin in andere Bereiche verlagern und es nicht gelingt, neues Publikum in einer zunehmend diversen Bevölkerung zu gewinnen. Das bisherige Kernpublikum dürfte schon aus demografischen Gründen schrumpfen und neues, bislang weniger theateraffines Publikum in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, erweist sich nach vorliegenden Erfahrungen als schwierig (vgl.: Hayes/Slater 2002; Mandel 2018). Ein Weg könnte darin bestehen, die vorhandene Publikumsbasis durch eine stärkere Aktivierung des bisherigen Gelegenheitspublikums und der potenziell Interessierten zu erweitern. Mit welchen Programmen, Formaten und Kommunikationsstrategien dies gelingen kann, zeigen Erfahrungen des Städtischen Theaters Chemnitz und des Theaters für Niedersachsen: Bekannte Namen, aktuelle Themen, die Anknüpfungspunkte auch für ein weniger kunstaffines Publikum bieten und Komödien, Comedy, Musiktheater als Genres, die bei vielen für gute Unterhaltung stehen; sowie neue Rezeptionsformate in Verbindung mit gastronomischen Angeboten, die Raum auch für soziale Begegnungen ermöglichen sowie interdisziplinäre städtische Kulturereignisse mit Strahlkraft.
Auch teilhabeorientierte, partizipative Projekte mit nicht-kunstaffinen Gruppen könnten in eine Strategie der Gewinnung von neuem Publikum einzahlen, indem daraus Anregungen für neue Themen, neue künstlerische Ansätze und ästhetische Formate gewonnen werden, die dazu beitragen, für eine diversere Bevölkerung attraktive Programme zu gestalten. Langfristig können intensivierte Programme qualitativ hochwertiger Kultureller Bildung und dauerhafte Kooperationen von Theatern mit Schulen und anderen Organisationen dazu beitragen, bei zukünftigen Generationen nachhaltig Interesse an Theater auszubilden. Dass dafür auch Ziele, Mission, Programme, Strukturen und Führung von Einrichtungen mit langer Tradition befragt und verändert werden müssen, zeigen Ergebnisse internationaler Studien zum Audience Development.
Kennzeichen für strukturelle Veränderungsprozesse in den öffentlich getragenen Theatern, mit denen eine Öffnung unterstützt werden könnte, sind u. a.:
- veränderte Gesamtmission für mehr Nachfrage- und Teilhabeorientierung und Fokussierung auf klar definierte Ziele und Arbeitsschwerpunkte;
- veränderte Budget-Prioritäten zugunsten von Aktivitäten in Kulturvermittlung und Kultureller Bildung;
- neue Führungsmodelle mit flacheren Hierarchien und geteilter Verantwortung;
- ein divers aufgestelltes Team, das unterschiedliche Erfahrungen, Perspektiven und Kontakte einbringen kann;
- abteilungsübergreifende Zusammenarbeit und wechselnde, temporäre Projektteams , in die alle ihre Ideen einbringen und produktiv machen können;
- neue, übergreifende Positionen wie Agent*innen für Diversität und Stadt-Dramaturg*innen, die die Zusammenarbeit mit neuen Zielgruppen pro-aktiv begleiten und für diese sehr zeitintensive Aufgaben ausreichend zeitliche Ressourcen haben;
- veränderte Programme mit Erweiterung des klassischen Kanons um vielfältige, aktuelle Produktionen, Aufweichen des Repertoire-Spielplans und mehr Raum und Zeit für neue Formate wie etwa Stadtprojekte und Bürgerbühnen auch auf der Hauptbühne;
- aktiver Einbezug verschiedener Bevölkerungsgruppen und ihrer kulturellen Präferenzen in die Programm- und Formatgestaltung;
- dauerhafte Kooperationen und Patenschaften mit Bildungs- und Sozialeinrichtungen, Betrieben und Vereinen;
- Öffnung des Theaterortes als zentralem städtischen Treffpunkt über Theaterpräsentationen hinaus für Aktivitäten anderer lokaler Initiativen wie Amateurgruppen undBürgerversammlungen.
Dabei wird es nicht die eine richtige Strategie geben, sondern die Neu-Ausrichtung hängt sehr stark auch von den lokalen Gegebenheiten ab. Einige Theater werden sich weiterhin auf komplexe künstlerische Produktionen fokussieren, die zunächst nur für ein kleines Klientel mit hoher Expertise interessant sind, andere werden sich offensiv als Orte für breite kulturelle Teilhabe aufstellen. Für die öffentlich getragenen Theater würde eine offensive Erweiterung ihrer Aufgaben die Chance eröffnen, sich als unverzichtbaren kulturellen Treffpunkt für die gesamte Bevölkerung in einer Stadt und Nachbarschaft neu zu verorten. Dass sie aktuell auch bei den Nicht-Besucher*innen, zu denen ein Großteil der Bevölkerung gehört, als per se wertvolle Einrichtung für die Gesellschaft gelten, ist dafür eine sehr gute Ausgangsbasis.