Teilhabe, Anerkennung und Kritik – Verantwortung und Potenziale zivilgesellschaftlicher Organisationen der Kulturellen Bildung
Abstract
In Zeiten, wo der Wert von Diversität an Kulturen und Lebensentwürfen in Frage gestellt wird, stehen die zivilgesellschaftlichen Organisationen der Kultureller Bildung in Verantwortung: für Inklusion und gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und eine bessere öffentliche Förderung von Bildung und Kultur, für eine kritische Selbstüberprüfung der demokratischen Verfasstheit ihrer Strukturen und die Schärfung ihres zivilgesellschaftlichen Kritikmandats, für ein teilhabegerechtes, diversitätsbewusstes Organisations-Handeln nach innen und nach außen, in pädagogischen wie auch politischen Kontexten .
Die Kinder- und Jugendforschung hat in den letzten Jahren eindrücklich und wiederholt eine sich zunehmend verschärfende Teilhabeproblematik beschrieben. Soziale und kulturelle Herkunft bleiben neben ökonomischen Faktoren entscheidend für die Realisierung des Rechts auf vollumfängliche Teilhabe junger Menschen in Deutschland (vgl. z. B. Keupp 2008, BJK 2009, Andresen 2010, Leven/Schneekloth 2010, BMFSFJ 2002, 2009, 2013, 2017). Die Realisierung des Rechts auf kulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen* (vgl. § 31 UN-Kinderrechtskonvention) und das Recht jedes jungen Menschen auf „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ wie es im § 1 des sogenannten Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) verankert ist, ist in entscheidendem Maße auf ein gelingendes Zusammenspiel öffentlicher und privater Verantwortungsübernahme angewiesen. Eben dieses Zusammenspiel aber ist der neueren Kinder- und Jugendberichterstattung zufolge so ausgestaltet, dass Handlungslogiken und Kulturen öffentlich verantworteter Institutionen die Möglichkeiten, Relevanz und Verbindlichkeit nicht organisierter sozialer und kultureller Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen* nicht angemessen berücksichtigen. Kulturelle Kinder- und Jugendbildung geht von der Annahme aus, dass individuelle Möglichkeiten der Selbst- und Mitbestimmung wesentlich durch kulturelle und soziale Praxen vermittelt werden und sich in diesen realisieren. Strategien und Konzepte einer kinder- und jugendpolitisch geprägten Kulturellen Bildung befragen daher immer auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Institutionen, inwiefern diese strukturelle und organisatorische Voraussetzungen erfüllen, damit Kinder und Jugendliche* in ihrer sozialen und kulturellen Teilhabe gestärkt und in ihrer individuellen Entwicklung gefördert werden. Kulturelle Kinder und Jugendbildung ist auch deshalb dazu aufgefordert, sich mit Befunden aus dem Feld der Kulturforschung, der Bildungsforschung und der Jugendforschung auseinanderzusetzen, Konsequenzen für die eigene Praxis abzuleiten und Forderungen an Politik und öffentliche Verwaltung zu formulieren.
Öffentliche Verantwortungsübernahme, Institutionalisierung und individuelle Teilhabe
Der Wandel familialer Lebensformen, vielfältige Mobilitäts- und Migrationsprozesse sowie die Polarisierung der Lebenslagen haben ebenso wie die Ausdifferenzierung neuer Medienwelten und eine zunehmende Verflüssigung der Grenze zwischen kommerziellen und jugendkulturellen Räumen zu neuen Individualisierungsanforderungen beigetragen. Kinder und Jugendliche* werden immer frühzeitiger mit der Herausforderung einer selbständigen Gestaltung sinnvoller Lebensentwürfe konfrontiert. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Gestaltungsanforderungen setzt jedoch Ressourcen voraus, die nicht allen jungen Menschen zugänglich sind.
„Während auf der Gewinnerseite vornehmlich solche jungen Menschen stehen, die schon von Beginn an günstige Förder- und Anregungsbedingungen vorgefunden haben und im weiteren Verlauf ihrer Bildungsbiografie von Eltern und anspruchsvollen Bildungsinstitutionen gefördert wurden, ist es bei den jungen Menschen aus benachteiligten Herkunftsfamilien umgekehrt. Sie finden von Anfang an ungünstigere Ausgangsbedingungen für ihre Entwicklung vor, können von ihren Eltern nicht in gleicher Weise gefördert und unterstützt werden, durchlaufen niedrigere Bildungsgänge und sind auf geringere Ausbildungsniveaus verwiesen – mit der Folge einer Einmündung in Positionen im unteren bzw. allenfalls im mittleren Segment des Arbeitsmarktes.“ (Bundesministerium für Familie/Senioren/Frauen und Jugend 2013: 365)
Umso bedenklicher ist, dass auch die Ausweitung öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen* keineswegs im Selbstlauf zu einer Kompensation dieser herkunftsbedingten Benachteiligungen führt. Der 11. Kinder- und Jugendbericht hatte 2002 in unmittelbarer Nähe zur ersten PISA-Studie aufgrund sinkender „Problemlösungskapazitäten“ von Familien den Ausbau der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen* gefordert. Die Forderung nach Etablierung einer „sozialen Infrastruktur für alle Familien, Kinder und Jugendlichen“ (vgl. BMFSFJ 2002: 2, 2013: 64) zielte auf die Verbesserung von Teilhabechancen und den Abbau von Ungleichheit, deren negative Auswirkungen vor allem die in PISA identifizierte Risikogruppe betraf. Dabei verbanden die Autor*innen ihre Forderung nach einem Ausbau mit der Annahme, dass sich institutionell verankerte Handlungsstrategien und pädagogische Infrastrukturen befähigend auf die Bewältigungsprozesse der Eltern, Kinder und Jugendlichen* auswirken können (vgl. ebd. 2002: 59). In der Folge engagierten sich Bund, Länder und Kommunen mit gesetzgeberischen Initiativen zum Ausbau öffentlicher Verantwortungsübernahme (Ausbau der Ganztagsschulen mithilfe des Investitionsprogramms des Bundes „Zukunft Bildung und Betreuung“ 2003 bis 2007, IZBB, Einführung des neuen Elterngelds 2007, der Ausbau der Betreuung für die unter Dreijährigen* durch das Tagesausbaubetreuungsgesetz von 2005 und das Kinderförderungsgesetz von 2009), konnten jedoch die herkunftsbedingte Ungleichheit nicht überwinden.
Indem sich mit dem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur jedoch eine an die Familien gerichtete Nutzungserwartung verbindet, beinhaltet die stärkere öffentliche Verantwortungsübernahme zugleich die Gefahr, individuelle und habituelle Ausgrenzungsprozesse zu manifestieren, statt zu schwächen. Als ausschlaggebend werden sowohl im 14. Kinder- und Jugendbericht gruppen- und milieuspezifische Herkunftsfaktoren als auch individuelle Handlungsmöglichkeiten hervorgehoben, von denen es abhängt, ob und wie infrastrukturelle Rahmenbedingungen und institutionell verankerte Bildungssettings in Anspruch genommen werden können:
„Insbesondere Familien in hohen Belastungssituationen verfügen in vielen Fällen weder über die Ressourcen noch über die Kompetenzen und individuellen Verhaltensdispositionen, die ihnen heute abverlangt werden, um eine umfassende Förderung ihrer Kinder zu gewährleisten und das erforderliche Maß an elterlicher Fürsorge zu entwickeln.“ (ebd. 2013: 56f.)
Die Autor*innen problematisieren daher, dass in den Fällen, in denen das Zusammenspiel zwischen familialer und öffentlicher Verantwortung konzeptionell nicht berücksichtigt wird, öffentliche Erziehungs- und Bildungsangebote Ungleichheiten fördern, statt abzubauen (vgl. ebd.: 76). Die im 14. Kinder- und Jugendbericht gebündelten Analysen belegen, dass eine „bloße Ausweitung der öffentlichen Verantwortungsübernahme […] nicht automatisch zu den entsprechenden intendierten Wirkungen“ (Bundesministerium für Familie/Senioren/Frauen und Jugend 2013: 76) führt, sondern das Ziel einer umfänglichen Teilhabe aller jungen Menschen in Deutschland sogar einschränken kann. Eine Vernachlässigung der nicht organisierten sozialen und kulturellen Lebenswelten und eine Konzentration auf die staatliche Investition in institutionell gebundene Angebote und Strukturen steht in der Gefahr gleich mehrfache Hürden zu erzeugen:
- „Zugangsbarrieren für bestimmte Bevölkerungsgruppen bei der Nutzung öffentlich vorgehaltener Angebote und Leistungen, die dazu führen, dass gerade die am meisten bedürftigen Gruppen von Kindern und Jugendlichen diese Leistungen am wenigsten in Anspruch nehmen.
- Gefahr der selektiven Zuweisungen von Teilgruppen von Kindern und Jugendlichen zu Diensten und Angeboten unterschiedlicher Qualität kommen, mit der Folge, dass benachteiligte Gruppen die Angebote mit der niedrigsten Qualität nutzen.
- Ferner gilt nach wie vor, dass Einrichtungen und Dienste im Kinder- und Jugendhilfebereich sowie im Bildungsbereich eine institutionelle Kultur aufweisen, die Mittelschichtserwartungen und -verhaltensweisen eher entspricht als den entsprechenden Orientierungen und Handlungsdispositionen benachteiligter Bevölkerungsgruppen.“ (ebd.)
Damit hebt der Kinder- und Jugendbericht hervor, dass mit einer öffentlichen Verantwortungsübernahme nicht nur die implizite Forderung einer gleichermaßen privaten Verantwortungsübernahme einhergeht, sondern dass Lebensstil, Handlungs- und Kooperationsbereitschaft der Individuen Gegenstand öffentlicher Beurteilung werden. Die „Verhältnisse“ öffentlicher Verantwortungsübernahme werden weniger im Sinne einer gerechten Verteilung öffentlicher Ressourcen diskutiert, sondern im Spiegel des individuellen „Verhalten[s] der Betroffenen“ als ausreichend oder unzureichend bewertet (vgl. ebd.: 244).
Anerkennung und Schnittstellenmanagement statt individuelle Leistungserbringung
Vor dem Hintergrund dieser nichtintendierten Wirkungen des Ausbaus öffentlicher Verantwortungsübernahme für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen* ergibt sich ein fundamentaler Auftrag, neue Formen sozialer Ungleichheit zum Ausgangspunkt des Handelns öffentlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure zu machen. Diese Formen der Ungleichheit, die in der Verschränkung von Pluralisierung sozialer, kultureller und ökonomischer Lebenslagen einerseits und der erhöhten öffentlichen Verantwortungsübernahme andererseits eine neue Sichtbarkeit erlangen, verlangen ein Konzept von Teilhabegerechtigkeit, das die soziale und kulturelle Involviertheit der handelnden Subjekte mit Fragen der strukturellen Anerkennung von Diversität und Pluralität, sozialer Einbettung und politischer Partizipation verbindet. Dahinter verbirgt sich eine Gerechtigkeitsvorstellung, „die sich von herkömmlicher Bedarfsgerechtigkeit als etatistische Zuteilung unterscheidet und mehr auf Zivilgesellschaft, Partizipation und Menschenrechte setzt“ (Leisering 2004: 37).
Die Aufgabe zivilgesellschaftlicher Organisationen liegt daher in besonderem Maße in mehreren Dimensionen, mit denen sie Verantwortung für die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen* übernehmen:
- die Anerkennung sozialer und kultureller Lebenswelten als die Grundlage für die individuelle Entwicklung von Kompetenzen und Fähigkeiten, die es jungen Menschen ermöglichen, ein selbstbestimmtes Lebens zu führen, Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen zu üben und diese mitzugestalten;
- die Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure, sich für ein Schnittstellenmanagement einzusetzen und die Gestaltung von Schnittstellen in Zusammenarbeit mit den öffentlichen Trägern zu übernehmen; denn die Anerkennung sozialer und kultureller Lebenswelten als Lernorte muss zugleich mit der Schaffung von Strukturen, Kulturen und Praktiken verbunden werden, die eine Kooperation öffentlicher und privater Verantwortungsübernahme für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen* sicherstellen;
- die politische Forderung und konzeptionelle Unterstützung des Zugangs zu Orten der Qualifizierung und der Bildung unabhängig von individuellen, sozialen, kulturellen, ökonomischen Voraussetzungen von Kindern und Jugendlichen*, die sowohl Handlungsfähigkeit und die Fähigkeit zu Überprüfung der gesamtgesellschaftlichen Angemessenheit von gesellschaftlichen Entwicklungen, Strukturen und politischen Entscheidungen ermöglichen;
- die Pflicht, allgemeine gesellschaftliche, politische und strukturelle Bedingungen zu kritisieren, wenn sie die selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe an demokratischen Prozessen einschränken.
Die Auseinandersetzung mit nichtintendierten, benachteiligenden Wirkungen der Institutionalisierung des Aufwachsens verdeutlicht, dass Teilhabe nur dann realisiert werden kann, wenn die bereitgestellten Strukturen auf eine Leistungserbringung durch Kinder, Jugendliche* und ihre Familien so weit wie möglich verzichten. Die Aufforderung zur Leistungserbringung liegt jedoch dann vor, wenn bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten als Prämissen für eine Zugänglichkeit der institutionellen Strukturen vorausgesetzt werden. Das Konzept der Teilhabegerechtigkeit hingegen baut auf der Berücksichtigung der individuellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen der Individuen auf und impliziert darüber hinaus den Anspruch, ein Zusammenwirken individueller Ressourcen und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu ermöglichen, das befähigend auf die Individuen wirkt, statt Befähigungen als Zugangsvoraussetzungen einzufordern. Dieser Ansatz, entsprechende Kompetenzen und Fähigkeiten zu fördern und zu kultivieren, ist besonders mit Blick auf Kinder und Jugendliche* anzuwenden. Als Heranwachsende* können sie nicht über die vollständigen individuellen Möglichkeiten der Selbststeuerung und -bestimmung verfügen, sondern sind auf die Unterstützung durch externe Entwicklungsressourcen angewiesen. Die Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure liegt somit darin, strukturelle Voraussetzungen zu identifizieren, politisch einzufordern und konzeptionell zu gestalten, die soziale, kulturelle, ökonomische und geografische Bedingungen einbeziehen und die Entwicklung individueller Voraussetzungen stärken.
Zivilgesellschaftliche Organisationen bewegen sich daher in einem komplexen Aufgabengeflecht. Im Mittelpunkt steht das Ziel eines gerechten Aufwachsens und einer aktiven kulturellen Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen*. Auf den unterschiedlichen Ebenen von Bund, Ländern, Kommunen sowie auf internationaler Ebene gilt es, auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse im Kontext von Jugend, Bildung und Kultur sowie auf unterschiedliche Fach- und Politikinteressen zu reagieren und sie proaktiv mitzugestalten. Um das Ziel einer verbesserten Chancengerechtigkeit erreichen zu können, gehören zu den Zielgruppen neben den Kindern und Jugendlichen* selbst daher u. a. Politik, öffentliche Verwaltung und freie Träger, Partner aus den unterschiedlichen Leistungssystem von Kinder- und Jugendhilfe, Bildung und Kultur.
Das Subjekt im Mittelpunkt
Subjektorientierung als zentrales Paradigma des Konzepts der Teilhabegerechtigkeit verpflichtet die zivilgesellschaftlichen Akteure zu einer fortlaufenden kritischen Beurteilung gesellschaftlicher Praktiken und Strukturen bezüglich ihres Beitrags zu einer voll umfänglichen kulturellen Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen*. Die Orientierung am Subjekt geht in diesem Sinne damit einher, sich sowohl einer affirmativen Definition von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Strukturen, Organisationsformen sowie kulturellen Traditionen und Definitionen als auch einer Fraglosigkeit der eigenen Positionen, Strukturen und Angeboten eine an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen* orientierte Programmatik der Weiterentwicklung und Veränderung bestehender Realitäten entgegenzusetzen. Die erkenntnisleitende Frage ist immer wieder neu von den aktuellen Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen* aus zu formulieren und zielt auf deren Rolle als gleichwertige und gleichrangige Mitglieder* der Gesellschaft: Wie können jugend-, kultur- und bildungspolitische Entscheidungen dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen* in der Vielfalt ihrer Lebenslagen in vollem Umfang an ästhetischer, künstlerischer und kultureller Praxis teilhaben können? Wie können diese Gelegenheiten so angelegt sein, dass sie für alle Heranwachsenden* dauerhafte Handlungsräume darstellen? Wie können diese Handlungsräume als kreative, eigenverantwortliche, selbststärkende Lerngelegenheiten wirksam werden, die nicht durch sozialökonomische und soziokulturelle Auslesemechanismen reguliert werden? Sobald die Frage nach dem Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure zu einer verstärkten Partizipation an Bildungsprozessen, Kultur und Gemeinwesen ausgehend von den Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen* gestellt wird, muss diese Reflexion letztlich immer die Veränderungen von Inhalten, Ansätzen, Strukturen und Strategien antizipieren und darf sie nicht fürchten. Für das Handeln der Organisationen ist mit einem subjektorientierten Teilhabebegriff daher die Erweiterung ihrer jeweiligen fachspezifischen Perspektiven hin zu einer systemischen Einbettung und Reflexion der individuellen Bildungsprozesse in die gesellschaftspolitischen Realitäten verbunden. Alle Entscheidungen der Organisationen haben zu allererst der Frage standzuhalten, ob sie für alle Kinder und Jugendlichen* Zugänge zu Kunst, Kultur und Bildung öffnen und nachhaltig sichern. Auch wenn dies im Zweifelsfall zu schmerzhaften, das eigene Handeln betreffenden Veränderungen führen kann (vgl. Braun/Taube 2016).
Die eindeutige Subjektorientierung verlangt daher, Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen* zum einen unter den Fragestellungen der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit (vgl. Amsler 2007) von Angeboten der Kulturellen Bildung zu reflektieren. Während sich die Frage der Verfügbarkeit auf die vielfältigen lebensweltlichen und lokalen Kontexte bezieht, die eine kulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen* ermöglichen oder ihr im Wege stehen, fragt die Perspektive der Zugänglichkeit nach wirtschaftlichen wie auch sozialen und kulturellen Hürden, die diskriminierend und ausschließend wirksam werden. Beide Dimensionen stellen unverzichtbare Grundlagen für eine Analyse sowohl der eigenen Angebotspraxis als auch der politischen Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer sich die kulturelle Praxis von Jugendlichen* und Kindern wie auch das Engagement der Träger von Einrichtungen und Initiativen für Kulturelle Bildung realisieren können.
Produktive Selbstüberprüfung
Darüber hinaus müssen jedoch auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen anerkennen, dass sich die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen* als kulturelle und soziale Akteure durch ein selbstbestimmtes und aktives Handeln realisiert. Eine auf strukturelle Sicherung und Ausbau der Infrastrukturen in Kommunen, Ländern und Bund für die Förderung kultureller Teilhabe von Jugendlichen* und Kindern zielende Debatte muss daher immer eine subjektorientierte Strukturdebatte sein. Das heißt, sie muss berücksichtigen, dass der Einsatz für Teilhabe sich in Gestalt einer aktiven Mitbestimmung durch Jugendliche* und Kinder realisiert: Bedürfnisformulierung, eigene jugendkulturelle Praxis, aktive Kommunikation und ggf. Widerstand und Protest sind als entscheidungsrelevante Beiträge einzubeziehen. Dies bedeutet, dass sich die zivilgesellschaftlichen Akteure der kulturellen Kinder- und Jugendbildung zwei weiteren Dimensionen zur Überprüfung ihres Engagements aussetzen müssen. Diese Dimensionen werden durch die Fragen beschrieben, ob sie für alle Kinder und Jugendlichen* und ihre individuellen, sozialen und kulturellen Interessen und Voraussetzungen annehmbare Angebote vorhalten und inwiefern diese entsprechend individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse und Entwicklungen veränderbar sind (vgl. Amsler 2007). Diese Reflexion der eignen Angebotsstruktur ausgehend von den Perspektiven der Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen* entspricht der Figur einer von einem äußeren Standpunkt vorgenommenen Selbstbetrachtung. Eine produktive Selbstüberprüfung im Sinne einer Lebensbewältigung, in der die Reflexion von Erfahrungen in eine Veränderung der Handlungsmöglichkeiten, Deutungsmuster und Wertestrukturen einmündet, beschreibt nicht nur für Individuen, sondern auch für Organisationen nichts anderes als den Prozess des Lernens.
Lernen als emanzipatives Organisationsprinzip
Wenn zivilgesellschaftliche Organisationen sich nachhaltig für die Realisierung und Verbesserung von Teilhabechancen aller Kinder und Jugendlichen* einsetzen, dann kann dies gelingen, wenn sie einen bewussten, ergebnisoffenen und fortwährenden Lernprozess als ihr zentrales Organisationsprinzip verstehen. Der Auftrag, sich für Teilhabeförderung stark zu machen, kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn er stets an eine aktuelle und genaue Analyse gesellschaftlicher Realitäten vor dem Hintergrund des Leitziels einer umfassenden kulturellen Teilhabe und einer gerechten Kultur des Aufwachsens anknüpft. Zu den Kernaufgaben muss es also aus der Begründung eines subjektorientierten Teilhabebegriffs unumgänglich gehören, Innovation und Impulse, die eine Weiterentwicklung der bisherigen Fachpositionen bedeuten und bewirken, als zentrales Handlungsfeld zu gestalten. Die Chance einer innovationsorientierten Organisationskultur liegt darin, frühzeitig Handlungsbedarfe und aktuelle Herausforderungen zu erkennen.
Handeln für mehr kulturelle Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen* muss einerseits immer die Wirksamkeit von Lebenslagen auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und Biografien zum Ausgang nehmen. Andererseits müssen teilhabeorientierte Strategien und Konzepte zugleich aber immer auch nach strukturellen Ermöglichungsstrategien fragen, die in der alltäglich wirksamen kommunal-, landes- und bundespolitisch ermöglichten Infrastruktur Kultureller Bildung vor Ort angesiedelt sind. Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, verstanden als der Kontext für die Selbstbildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen*, kann daher auch nicht nur einem Politikfeld zugeordnet werden. Diese Überzeugung hat in den letzten Jahren nicht nur an Gewicht gewonnen, sondern ist zur Grundlage realer Politik geworden. Überall dort nämlich, wo kommunale oder regionale Gesamtkonzepte Kultureller Bildung die politische Querschnittsaufgabe nicht nur behaupten, sondern als Ziel ressortübergreifend abgestimmten und gemeinsam unterstützten politischen Handelns umsetzen. Wo Kulturelle Bildung als integraler Bestandteil von Jugendarbeit, Bildung und Kultur begriffen wird und der ganze Mensch als Subjekt kultureller Bildungsprozesse im Fokus der politischen Willensbildung steht, können die ressortübergreifenden Querverbindungen über das gemeinsame Handeln hinausgehend der Kulturellen Bildung als Allgemeinbildung zur Wirkung verhelfen.
Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass Kulturelle Bildung als Infrastruktur, Angebotsform und Bildungsoption Bestandteil des Sozialraums von Kindern und Jugendlichen* ist. Die Qualität dieser Kulturellen Bildung bemisst sich nicht nur danach, wie umfangreich und wie zugangsoffen die Angebote gestaltet sind, sondern auch daran, ob Kinder und Jugendliche* dadurch zur Teilhabe befähigt werden. Sozialräumlich orientierte Konzepte der Kulturellen Bildung sind auf Beteiligung aller Akteure angelegt. Zivilgesellschaftliche Vereine, Initiativen und Netzwerke sind ebenso einbezogen, wie die Kinder und Jugendlichen* selbst. Denn Teilhabe und Mitbestimmung müssen sich ergänzen, nur so besteht die Aussicht auch jene Kinder und Jugendlichen* zu erreichen, die die Chancen der konkreten Handlungsräume, die ihnen Kulturelle Bildung eröffnen kann, bislang noch nicht nutzen. Es gehört zu den Aufgaben der Verbände und Vereine mit fachlicher Diskussion und politischer Intervention das Umsetzungsproblem der Kulturellen Bildung auf gesellschaftlicher und individueller Ebene anzugehen und die Prinzipien von Teilhabe und Mitbestimmung in der Praxis der Kulturellen Bildung zu stärken.
Zivilgesellschaftliches Wächteramt und Öffentlichkeit
In diesem Sinne sind Kritik und Veränderungsanspruch verbandliche Grundlagen für eine wirksame Teilhabeförderung. Politische Lobbyarbeit und fachlicher Diskurs müssen insoweit Hand in Hand gehen, um in den unterschiedlichen Ressorts (Jugend, Bildung und Kultur) und auf den unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen Weichenstellungen für sozialen Wandel zu erreichen. Teilhabegerechtigkeit bedarf daher einer demokratischen Öffentlichkeit, die in unterschiedlichen Organisationsformen und Steuerungsebenen ausdifferenziert ist. Für zivilgesellschaftliche Organisationen ist daher ein politischer Umgang entscheidend, der die Trägerautonomie im Sinne der Subsidiarität, wie sie im §4 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes niedergeschrieben ist, wahrt. Keinesfalls dürfen zivilgesellschaftliche Organisationen auf die Rolle von Auftragnehmern oder Agenten einer staatlichen oder privaten Initiative reduziert werden (vgl. Bockhorst 2013: 9). Eine subjektorientierte Strukturdebatte, die auf die Förderung von kultureller Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen* zielt, bedarf daher auch in den Organisationen fortlaufender Debatten darum, wie in Bezug zu den jeweiligen Fördersituationen in den Kommunen, in den Ländern und im Bund erfolgreiche Veränderungsvorhaben und wirksame Kritik der bestehenden Verhältnisse gleichermaßen umgesetzt werden können.
Teilhabegerechtigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Im öffentlichen Diskurs wird der Wert von Diversität an Kulturen und Lebensentwürfen neuerdings in einem Maße offen in Frage gestellt, in dem wir dies bisher nicht kannten. Diese Stimmen repräsentieren nicht die Mehrheit – dennoch sind gesellschaftliche Debatten von einer viel stärkeren Polarität geprägt als in früheren Jahren. Dadurch wird das Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ umso wichtiger.
Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich dem Ziel der Teilhabegerechtigkeit verschrieben haben, können dies nur wirksam und glaubhaft tun, wenn sie sich für die Anerkennung von Diversität einsetzen und die Weiterentwicklung von Strukturen, Institutionen, Organisationen und ihren Verfahren aktiv betreiben. Wer ausschließlich Integration in ein bestehendes Sozial- und Kulturgefüge fordert, übersieht, dass ein demokratisches Miteinander ohne konkrete Erfahrungen der Teilhabe und des Mitentscheidens (im Sinne des Mitbestimmens und -gestaltens) nicht möglich ist: Zu viele Kinder, Jugendliche* und ihre Familien stehen vor strukturellen und institutionellen Hürden, die ihnen Anerkennung verwehren und die Wahrnehmung ihrer Rechte erschweren.
Die gesellschaftlich etablierten Individuen, Gruppen und Organisationen, zu denen auch zivilgesellschaftliche Organisationen der Kulturellen Bildung zählen, müssen nicht nur für marginalisierte Individuen und Gruppen eintreten, sondern sie vollumfänglich einbeziehen. Denn Teilhabe realisiert sich nicht allein durch die Verteidigung von Rechten, sondern durch die gemeinsame Veränderung von Gesellschaft durch inklusive Prozesse. Erst wenn alle ihre Rechte im Alltag sowie in den institutionellen und organisierten Zusammenhängen erfahren können, wenn es nicht nur um Erprobungsräume, sondern um Ernst-Situationen geht, ist die gemeinsame Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft möglich.
Diese Fragen drängen, denn wenn das gesellschaftliche Gleichgewicht aus den Fugen zu geraten droht, sollte nicht nur der Staat seiner Verantwortung nachkommen. Auch die Zivilgesellschaft muss sich selbst aktivieren und dabei von der öffentlichen Hand unterstützt werden. Zivilgesellschaft schafft öffentliche und partizipative Aushandlungsorte für Konflikte und Divergenzen. Sie fördert das gesellschaftspolitische Engagement von Bürger*innen und Trägern und agiert als konstruktiv-kritischer Partner des Staats.
In der jüngsten Zeit, als viele Menschen schutzsuchend nach Deutschland kamen, konnten die zivilgesellschaftlichen Träger verlässliche und belastbare Strukturen anbieten. Organisationen und Fachkräfte* aus Haupt- und Ehrenamt hatten Erfahrung damit, wie man Interessen von Bürger*innen aufgreifen kann und was Ehrenamtliche* brauchen. Zivilgesellschaftliche Akteure bringen Gestaltungskompetenzen und Erfahrungen ein, um Orte der Begegnung und der Debatte organisieren, moderieren und gesellschaftspolitisch vertreten zu können.
Fazit
Zivilgesellschaftliche Interessenvertretung ist im Idealfall nah am Menschen. Sie bringt Stimmen zu Gehör und argumentiert aus den Lebenslagen der Menschen heraus. Sie ist auf die Veränderung nicht zufriedenstellender Lebenslagen ausgerichtet. In einem zweiten Schritt fragt sie, welche Strukturen Politik und Verwaltung für die notwendigen Veränderungen bereithält. Erweisen diese sich als unzureichend, versucht zivilgesellschaftliche Interessenvertretung darauf hinzuwirken, dass sich politische Förder- und Steuerungsstrukturen entsprechend verändern und weiterentwickeln.
Zivilgesellschaftliches Mandat und politisches Mandat teilen sich ein gemeinsames Fundament, nämlich die Verfasstheit unseres Staates als demokratischer Staat. Ihm geht es darum, das Gemeinwesen in Anerkennung der Individuen zu gestalten. Diese Gestaltungsaufgabe ist ohne Zivilgesellschaft nicht realisierbar, denn sie ist durch staatliche Organe allein nicht zu leisten.
Alle Akteure sind jedoch gefordert, nachdrücklich und beharrlich den gesellschaftspolitischen Sinn und Nutzen zivilgesellschaftlicher Interessenvertretung durch Verbände zu verdeutlichen und erfahrbar zu machen. Zu schärfen ist der eigene Zivilgesellschaftsbegriff, der wesentlich die demokratische Verfasstheit der Verbände betont und ihr zivilgesellschaftliches Kritikmandat verdeutlicht. Dies bedeutet auch, dass die Verbände, z. B. die der Kulturellen Bildung, sich auch in ihren Binnenstrukturen als Verhandlungsräume ausgestalten müssen. Denn zivilgesellschaftliche Organisationen und Netzwerke sind – vor Ort ebenso wie auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene – vor allem dann wirkungsfähig, wenn sie sich als Wertegemeinschaften verstehen und dies in eine politische Agenda übersetzen können.
Dies hat unmittelbaren Einfluss auf das Selbstverständnis und den Auftrag zivilgesellschaftlicher Trägerstrukturen Kultureller Bildung im Handlungsdreieck und als Gegenüber von Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik, in den kooperativen sektoren- und ebenenübergreifenden Netzwerkstrukturen und nicht zuletzt in der Konzeption und Praxis, das heißt in der Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen*.