Szenische Konzerte für junges Publikum – Improvisation und Kommunikation zwischen Probe und Aufführung
Abstract
Der Schnittstellenbereich zwischen Theater und Konzert stellt einen kreativen Nährboden für die Erfindung, Entwicklung und Entstehung vielfältiger Aufführungsformen dar. Improvisation und Partizipation spielen im Kreationsprozess eine große Rolle – insbesondere bei Formaten, die speziell für ein junges Publikum konzipiert werden. Die Jeunesse-Oorkaan-Academy ist ein Meisterkurs für szenische Konzerte für junges Publikum. Inwieweit Improvisation eine Rolle im Entstehungsprozess der Konzerte spielt, untersucht die Autorin durch ethnographische Probenforschung. Im Rahmen ihrer Feldforschung wurden insbesondere die Fragen nach den Rollen der Künstler*innen im Entstehungsprozess, der Bedeutung der Konzerte als Beitrag der Kulturellen Bildung des jungen Publikums und einer Gattungsbestimmung der entstehenden Produktionen relevant.
Bei Angeboten von Theater-, Opern- und Konzerthäusern bemerkt der*die aufmerksame Beobachter*in wie die „Grenzen zwischen den Kunstgattungen in einander“ (Adorno 1967:168) fließen. Konzertante Aufführungen von Opern, Tanzchoreografien zu Konzertmusik, die Entwicklung von vielfältigen Musiktheaterformen, oder Konzerte, die von szenischen Elementen durchzogen sind, entdeckt man bei der Programmlektüre. Produktionen an diesen Gattungsgrenzen erarbeitet auch die Oorkaan-Compagnie aus Amsterdam. Die Produktionen der Oorkaan-Compagnie nehmen in der europäischen Musiktheater- und Konzertlandschaft eine vergleichsweise einmalige Stellung ein: Klassische Musik wird vornehmlich für ein junges Publikum aufgeführt. Das Konzert findet nicht in einem klassischen Konzertsetting statt, sondern die Musiker*innen agieren neben der musikalischen Darbietung gleichzeitig körperlich als Darstellende auf der Bühne. Dabei unterscheiden sich die Konzerte von moderierten Konzerten oder Musiktheaterstücken, in denen eine Handlung erzählt wird oder die Musikstücke mit Erklärungen begleitet werden. Die Darstellung in den theatralen Konzerten ist stattdessen ausschließlich dazu da, die Musik des Konzerts auf eine „theatrical and surprising“ (Oorkaan o.J.) Art zu präsentieren.
Die Produktionen, die so entstehen, werden regelmäßig ausgezeichnet. Oorkaan bietet Fortbildungen in der Oorkaan-Methode (Anm.: Eigenbezeichnung durch Oorkaan) an und seit 2021 gibt es die „Jeunesse-Oorkaan-Academy“ in Zusammenarbeit mit der Jeunesse Österreich und der Musik und Kunst Privatuniversität in Wien. Die Teilnehmenden dieser Kurse, die Musiker*innen, Regisseur*innen oder Theatermacher*innen sind, werden durch die künstlerische Leitung und andere Künstler*innen und Expert*innen (Tänzer*innen, Choreograf*innen, Schauspieler*innen) von Oorkaan angeleitet. Trotz des Anscheins, die Oorkaan-Methode sei ein Lehrbuch oder eine Schulungsmethode, den der Begriff „Methode“ suggeriert, wurde die Vorgehensweise der Oorkaan-Compagnie bisher weder in Forschung noch Lehre reflektiert. Welche Dramaturgien und Erzähltechniken werden verwendet? Welche Fertigkeiten brauchen Musiker*innen und Theatermacher*innen (Choreografie oder Regie), um solche Konzerte entwickeln zu können? Wie und warum funktionierten Ansprache und Kommunikation mit dem Publikum? Wie partizipieren Musiker*innen in der Entstehung und wie das Publikum in der Aufführung dieser Konzerte? Welche Rolle spielt Improvisation in der Entstehung, Aufführung und Erforschung dieser Konzerte?
Dieser Beitrag entstand aus der wissenschaftlichen Begleitung der „Jeunesse-Oorkaan-Academy“ im Frühjahr 2022. Die Teilnahme an der Masterclass war für mich, selbst Musiktheater- und Konzertvermittlerin, ein Forschungsaufenthalt. Mein Schwerpunkt liegt auf dem Entwickeln und Erforschen von musiktheatralen Projekten mit und für junge Menschen, abseits klassischer Opern und Konzerte. Im Beitrag wird als theoretischer Rahmen zuerst die Frage der Gattung für Oorkaan-Produktionen erörtert und Forschungsmethoden, die zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Meisterkurses und der theatralen Konzerte hilfreich sind, vorgestellt. Danach beschäftige ich mich mit den Erkenntnissen aus der Oorkaan-Academy. Wie entstehen die Konzerte in Zusammenarbeit zwischen Musiker*innen und Theatermacher*innen und welchen Anteil hat die Improvisation dabei? Wie wird das Publikum aktiviert und welche Erfahrungsräume eröffnen sich für junges Publikum? Offene Fragen für die Erforschung theatraler oder szenischer Konzerte und ein Ausblick in die Möglichkeiten für die Praxis schließen diesen Beitrag ab, der nur einen Einstieg in dieses noch wenig bearbeitete Feld der Konzerte und Musikvermittlung für junges Publikum leisten kann.
Die Frage der Gattung
„This method is an approach of how to create staged concerts with only musicians on stage who play the music by heart. They appear on stage as physical performers, music is their language, they hardly speak any words. An Oorkaan-production is, like in a concert, based on and about the musical repertoire and not based on a story or anecdote. […] The method focuses on the creation of scenic material based on the music.” (Oorkaan, o.J.)
Die von Oorkaan entwickelten staged concerts oder theatrical concerts (vgl. Oorkaan o.J.; Anm.: in diesem Beitrag werde ich die nach der Oorkaan-Methode entwickelten Konzerte theatrale Konzerte nennen, um eine klare Unterscheidung zu anderen szenischen Konzerten zu kennzeichnen) kombinieren auswendig gespielte Musik, Geräusche, Bewegungsimprovisationen, szenische Aktionen, Kostüm, Bühne und Licht zu Aufführungen für meist junges Publikum. Die Arbeit mit diesen Mitteln des Theaters lässt auf den ersten Blick eine Einordnung unter der Definition Musiktheater zu. Oorkaan selbst stellt die Musik, die musikalische Exzellenz seiner Performer*innen und damit das Konzert in den Mittelpunkt: „music is the prime focus and all the performers are musicians“ (Oorkaan o.J.). Man kann sich den Oorkaan-Produktionen also von Seiten des Musiktheaters und des Konzerts annähern.
Im klassischen Musiktheater liegt der Schwerpunkt auf dem Erzählen einer Geschichte durch Musik und Text mit Hilfe anderer medialer Theaterelemente (wie Kostüm, Licht). Es hat sich im Theater und Musiktheater in den letzten zwei Jahrzehnten allerdings die sog. postdramatische Wende (vgl. Hartung 2020) vollzogen. Postdramatisches Theater löst sich von Narration und Textdominanz (vgl. Lehmann 1999), verschiedene Elemente einer Aufführung stehen gleichberechtigt nebeneinander und eine Verschränkung mit anderen Künsten, wie Video, Performance, Musik oder Tanz sind möglich (vgl. Hartung 2020:51).
Diese Merkmale des postdramatischen Theaters lassen sich auch in den Produktionen der Oorkaan-Compagnie finden. Dazu gehört auch der Umgang mit theatralen Zeichen, bei dem beide Ebenen eines Zeichens (die inhaltlich-repräsentierende und die zeichengebende) gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Der Vorgang des Zeichengebens gewinnt dadurch an Bedeutung (vgl. Hartung 2020:48). Musikalisch gesprochen kann das bedeuten, dass nicht nur der Klang, sondern auch die Klangerzeugung wichtig ist. Die Dramaturgie ändert sich von einer textzentrierten hin zu einer visuellen Dramaturgie und wird damit zum „Theater der Szenografie" (Lehmann 1999:159).
Weitere für die Gattungsbestimmung der theatralen Konzerte interessante Konzepte sind die Diskursfelder des instrumentalen Theaters und des „Composed Theatres“ (Rebstock/Roesner 2012) wie sie Matthias Rebstock (vgl. Rebstock 2016) beschreibt. Beide Formen tragen Merkmale, die sich auch bei den theatralen Konzerten finden lassen. Instrumentales Theater zielt auf eine Theatralisierung des Musizierens (vgl. Roesner 2003:36) selbst ab, indem es „Konzertmusik in dramatische Handlung zu verwandeln“ (Rebstock 2016:57) versucht. Das Composed Theatre ist als Sammelbegriff für Theaterformen zu verstehen, die sich durch den Einsatz kompositorischer Verfahren auszeichnen und wesentlich von einer musikalischen Denkweise geprägt sind. Dabei werden auch neue Konzepte von Arbeit und Autorschaft im Musiktheater verhandelt.
Von Seiten des Konzerts kann man sich der Gattungsbestimmung annähern, da – laut Oorkaan – der Hauptfokus innerhalb der Produktion auf der Musik liegt. Der Konzertbegriff und das Konzertwesen unterlagen in der Vergangenheit vielfältigen Veränderungen. Martin Tröndle beschreibt (vgl. Tröndle 2018:26) eine prozesshafte Entwicklungsgeschichte des Konzertes in der er „akustische, architektonische, performative etc. Aspekte“ (Tröndle 2018:26) sammelt und die ständige Suche nach größtmöglicher Aufmerksamkeitsbindung in den Mittelpunkt der Entwicklung verschiedener Aufführungsformen stellt. Dieses Konzept der größtmöglichen Aufmerksamkeitsakkumulation (vgl. Tröndle 2018:27) ermöglicht für die Betrachtung von Aufführungsformen „ein Verständnis, das weniger werk- oder personenzentriert ist, als vielmehr die Differenz zum bis dahin Bestehenden und seine Potentialität in den Mittelpunkt rückte“ (Tröndle 2018:28). Im Konzertwesen, betont Tröndle, kann dieses Verständnis auf verschiedene Bereiche – unter anderem auf Konzertformate, wie szenische Konzerte - angewandt werden. Problematisch ist, dass die Bezeichnungen inszeniertes oder szenisches Konzert sehr unspezifische Begriffe sind. Unter diesen Bezeichnungen finden sich in der Praxis moderierte Konzerte, halbszenische Opernproduktionen, pädagogische Konzerte oder Konzerte, die durch Schauspielszenen ergänzt werden. Szenische Konzerte werden oft im Kontext der Musikvermittlung durchgeführt (vgl. Rebstock 2016:573) und werden deshalb häufig über ihre pädagogische Zielsetzung definiert:
„Ein inszeniertes Konzert setzt sich dieselben Ziele wie ein moderiertes Konzert, nämlich das Publikum durch Erklärungen, Ansagen, Überraschungen, Beschreibungen, Vorstellungen, Geschichten uvm. durch das Konzert zu begleiten und zu führen. In vielen Konzerten werden der Moderator/die Moderatorin und/oder die MusikerInnen in Szene gesetzt und übernehmen eine Spielrolle.“ (Spitz o.J.)
Tröndles Konzept, neue Konzertformen in Differenz zu bisher Bestehenden zu diskutieren und auch Mischformen wie szenische Konzerte im Hinblick auf ihren Umgang mit Musik und deren Aufführung zu betrachten, erscheint für diese Arbeit hilfreicher als die enger gefasste Definition eines szenischen Konzerts als Vermittlungskonzept. Inszenierten Konzerten werden außerdem Möglichkeiten eingeräumt, experimentell neue Formate auszutesten: „Staged concerts tend to rethink and to reflect on 'traditional' concert modes […] and usually aimed to present ways of 'theatricalising the concert hall'“ (Hübner 2013:57).
„Es gehört zum Grundcharakter der Künste seit dem 20. Jahrhundert, die etablierten terminologischen Grenzen und Gattungen zu unterlaufen. Ihr eigentliches Metier ist das Dazwischen: das, was sich eindeutigen Zuschreibungen entzieht. Das ‚Musiktheater‘ wird so manchmal zu einer spezifischen Perspektive, aus der man Phänomene betrachten kann.“ (Rebstock 2016:564)
Eine intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Formaten an den Gattungsgrenzen wird sowohl von Seiten der Musikwissenschaften als auch der Musiktheaterforschung gefordert. Ein „neues Verständnis der Aufführungskultur und zeitgemäße vielfältige Aufführungsformate“ (Tröndle 2011:38) sind nötig und dafür bedarf es in beiden Wissenschaften einen offenen Blick für grenzüberschreitende Formate:
„Die Öffnung der Perspektive in der Betrachtung des Aufführungsortes von Musik, vom bloßen Hör-Raum gleichermaßen hin zum Schau-Raum, könnte sowohl für die traditionelle Musikpraxis als auch für die traditionelle Musiktheorie weiter fruchtbar gemacht werden: Im Ausschöpfen des visuellen Potentials von Musikaufführungen und dem Gestalten des Schauraums Konzertsaal […]. Den neuen Formen müsste eine aisthetisch orientierte Musikwissenschaft, welche die visuelle wie auch die auditive Wahrnehmung gleichermaßen virulent werden lässt, zur Seite gestellt werden.“ (Schwarz/Simon 2011:212)
Auch im Konzertwesen verschwimmen die Grenzen zwischen den Künsten, ähnlich wie im postdramatischen (Musik)Theater. „Literatur, Film, Ballett, Lichtregie und Video drängen in den Konzertsaal […] die Rituale des Konzertbetriebs [werden] hinterfragt und zunehmend durch offene Erlebnisfelder ersetzt.“ (Fein 2011:242) Es wäre kurzsichtig, szenischen Konzerte nur im Kontext von Musikvermittlung zu verorten, wie Rebstock es tut (vgl. Rebstock 2016: 573), da die Entwicklung neuer experimenteller Konzertformate neben den Vermittlungsgedanken auch Aspekte des Marketings, der Finanzierung und der medialen Aufmerksamkeit (vgl. Fein 2011:242) mitbehandelt. In der Idee des „RegieKonzertes“, lassen sich die Anforderungen an ein Konzert der Zukunft abbilden. Dabei gibt es einen
„Konzertdramaturgen und […] Musikkurator, der über die Konzertform nachdenkt, um ihr neue Nahrung zu geben; der dem Konzertleben aus einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Kunst neue Impulse gibt; der die Ohren der Zuhörer lang und spitz machen möchte. Das kreative Potenzial in der Ausformulierung von konzertdramaturgischen Konzepten scheint mir jedenfalls unerschöpflich, und es bietet die Chance […] die Musik zu befragen, also nach Berührungspunkten zur Gegenwart und unserer Gesellschaft zu suchen. […] Auch das Zukunftskonzert hat sein Zentrum im intensiven Musikerlebnis.“ (Fein 2011:243f.)
Oorkaan versucht mit seinen Produktionen, die erstmal genau das sind – ein RegieKonzert –, das visuelle Potential der Musik und des Konzerterlebnis auszuschöpfen und Konventionen in Frage zu stellen. Dadurch soll die Musik aber nicht in eine unwichtige Position gedrängt werden, sondern die Wahrnehmung von Musik wird vielfältiger, damit „sie eben nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen gehört wird“ (Schwarz/Simon 2011:212). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Oorkaan-Methode beginnt mit der Auswahl der Forschungsmethoden.
Forschungsmethodische Zugänge: Probenforschung und Publikumsbeobachtung
Die Erforschung künstlerischer Proben ist eine junge Disziplin, die sich in den Theater- wie auch in den Musikwissenschaften aktuell entwickelt. Die disziplinäre Etablierung der Theaterprobenforschung kann man als ein Resultat einer zunehmend „praxeologisch ausgerichteten Theaterwissenschaft“ (Quick 2020:39) verstehen. Es gehe dabei nicht nur um die Probe selbst, sondern auch um die Entstehung ästhetischer Phänomene und kollektiv-kreativer Produktionsräume. Da in der Probe Konzept und Improvisation oder Ungeplantes immer wieder aufeinandertreffen, ist es bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Probe wichtig, der Improvisation und dem Unerwarteten oder Unplanbaren in der Erforschung und damit auch in den gewählten wissenschaftlichen Methoden einen Freiraum und Stellenwert einzuräumen. In der Probenforschung werden oft Methoden aus der ethnographischen Forschung angewendet, die unter anderem dem Grundsatz folgen, „menschliches Verhalten und Handeln einer prozessualen Sicht zugänglich zu machen“ (Kühl u.a. 2009:18). Eine zentrale ethnographische Arbeitsweise ist die teilnehmende Beobachtung, bei der Forscher*innen in das zu untersuchende Feld hineingehen und dort an der Interaktion teilhaben. Sie sammeln dort durch ihre Beobachtungen und durch eigene Handlungserfahrungen Informationen und setzen diese miteinander in Beziehung, um ein möglichst vollständiges Bild der untersuchten Phänomene und ihres Kontexts zu erhalten.
Aus zwei Gründen sind ethnographische Arbeitsweisen für Forschungsfragen in den Theater- und Musikwissenschaften ertragreich. Erstens eignen sich diese Methoden dazu, Phänomene, die noch wenig erforscht sind, grundlegend in den Blick zu nehmen: Der explorative Charakter ermöglicht es, erste Bilder zu entwerfen, die dann als Grundlage für weiterführende Forschungsfragen dienen können. Zweitens werden Phänomene in ihrem alltäglichen Kontext untersucht. Die Methoden sind darauf ausgerichtet, das zu erforschende Feld in möglichst geringem Maße zu beeinflussen, anstatt eine Laborsituation zu erschaffen, die die Phänomene verändern könnte. Einer der ersten Arbeitsschritte ist die Bestimmung des zu erforschenden Feldes. Aufgrund der besonderen Probensituation im Meisterkurs, in dem Coaches, Theatermacher*innen und Musiker*innen nicht nur die Proben, sondern auch den Rest der Probenphasen (Mahlzeiten, Freizeit, Übernachtung) gemeinsam verbringen, wird auch außerhalb der eigentlichen Probe viel über die Arbeit gesprochen und reflektiert. Somit bietet es sich an, diese Situationen mit in die Beobachtung einzuschließen und sich nicht nur auf die Probensituation zu konzentrieren. Dieses umfangreiche Beobachtungsfeld bringt Vor- und Nachteile mit sich. Es entsteht eine Fülle an Material und Daten, deren umfassende Auswertung noch nicht abgeschlossen ist. Ausgangspunkt für den hier vorliegenden Beitrag ist ein selektiv analysiertes Datenmaterial, das sich auf die Forschungsfragen dieses Beitrags beschränkt.
Eine einzelne Forschungsfrage stand zu Beginn der Arbeit noch nicht fest, was für Feldforschung allerdings bereichernd und nicht hinderlich sein kann. Das Forschungsfeld wird zwar durch die Forschungsfrage definiert, aber die genaue Forschungsfrage lässt sich oft erst im Feld und während der Beobachtung finden (vgl. Quick 2020:45). Auch im hier beschriebenen Projekt war die finale Forschungsfrage zu Beginn noch nicht im Detail formuliert. Im laufenden (Forschungs-)Prozess kann das vielfältige Material immer wieder im Hinblick auf neue Fragestellungen gesichtet und ausgewertet werden. Die ständige Anwesenheit von mir als Forscherin/Beobachterin, aber auch Dramaturgin, Vermittlerin und damit Teil der Gruppe, führt bei allen Teilnehmenden schnell zu einem ungezwungenen Umgang auch in Anwesenheit von Notizblock und Kamera. Das ist vor allem hilfreich im Hinblick auf die Grundsituation, dass eine Probe eigentlich ein geschützter und abgeschlossener Raum ist (vgl. Matzke 2010:170). Komfortzonen der eigenen künstlerischen Tätigkeit und des persönlichen Wohlbefindens auf der Bühne werden erkundet und zuweilen auch verlassen. Ein geschützter Raum zum Probieren muss also trotz der Datensammlung gewährleistet werden. Künstler*innen müssen von Anfang an über den Forschungsprozess informiert werden und mit der Datensammlung einverstanden sein. Bei der Beobachtung erstellte Dokumente (Mitschriften, Gesprächsnotizen) sind in der Auswertung anders zu behandeln als probenimmanente Dokumente (Regiebuch, Strichfassung von Noten) oder explizit für die Forschung geführte Interviews oder Literatur und andere Medien zum Thema (vgl. Quick 2020:52). Es ist nicht möglich, alle Proben und Gespräche uneingeschränkt zu begleiten, da teilweise parallel gearbeitet wird, deshalb muss in der Auswertung beachtet werden, dass es Lücken in der Dokumentation und Beobachtung gibt. (vgl. Bachmann 2009:248-271). Gerade wenn die Funktion der Forschenden durch Aufgaben innerhalb der Probensituation, wie in meinem Fall, ergänzt wird, empfiehlt es sich bei der Feldforschung das Konzept der „Dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz (Geertz 1987) zu nutzen. Dieses sagt aus, dass der Forschende seine eigene Rolle und Herangehensweise mit in die Beschreibung und Interpretation des Beobachteten aufnimmt: In die Daten sind also stets eigene Erwartungen und Hintergrundwissen mit eingeflossen.
Über die Probensituation hinaus wurde im Zuge des Meisterkurses auch eine Aufführungssituation geschaffen, in der ein Testpublikum von ca. 20 Kindern und ihren erwachsenen Begleitpersonen zu einem Wandelkonzert, bestehend aus acht Miniaturen (Kurzkonzerten mit je ca. sechs Minuten Länge), eingeladen wurden. Den Kindern wurde erläutert, dass die Künstler*innen ihre Rückmeldungen benötigen, um gute Konzerte spielen zu können. Die Rückmeldungen wurden nach jeder Miniatur über ein Stimmungsbarometer und im Anschluss an das Wandelkonzert im persönlichen Gespräch mit Kindern und Erwachsenen eingeholt. Darüber hinaus ergab sich die Möglichkeit, Daten aus der Publikumsbeobachtung zu sammeln, da das Wandelkonzert und auch die Kinder gefilmt wurden und die Gespräche im Anschluss in Notizen und Gedächtnisprotokollen festgehalten wurden.
Tatsächlich haben sich Forschungsfragen innerhalb der Beobachtung im Feld ergeben oder geschärft. Im Zentrum stehen für diesen Beitrag die Fragen, wie Improvisation in der Produktion der theatralen Konzerte verwendet wird und wie dadurch Wahrnehmungs- und Erlebnisräume für das (junge) Publikum geschaffen werden.
Improvisation in der Probe
Improvisation ist, wie seine lateinische Wortherkunft (lat.: improvisus – nicht vorhergesehen) sehr treffend beschreibt, das Spiel mit dem Unvorhersehbarem. Es kann damit als Gegenstück für die Inszenierung einer Textvorlage oder einer nach kompositorischen Grundsätzen angeordneten Struktur verstanden werden. Da im Probenprozess für die Oorkaan Produktionen vornehmlich Bewegungen improvisatorisch ausprobiert und erarbeitet werden und weniger musikalische Improvisation genutzt wird, macht es Sinn, sich die Rolle von Improvisation im Tanztheater und Schauspiel anzusehen. Im Tanz beispielsweise spielen zwei Konzepte von Improvisation eine Rolle:
„Zum einen die Risiko-orientierte, die revolutionäre Seite der Improvisation, die im Bruch der Regel, im Aufstand gegen das poetische, das soziale, das politische Gesetz den Impuls zur Wahrnehmung und Verwirklichung von etwas ästhetisch oder politisch Neuem setzt. Und zum anderen eine Idee von Improvisation, die in der improvisatorischen Bewegung die Chance sieht, kreatives Handeln jenseits von Körper-Techniken und -Semiotiken, gerade im Spiel mit den Codes und im Löschen der Matrix zu provozieren.“ (Brandstetter 2015:184)
Nutzt man die Improvisation für kompositorische Arbeit an einer Choreografie oder einem Stück, werden den Darsteller*innen oft Improvisationsaufgaben gestellt, aus denen Bewegungsmuster entwickelt werden, die dann im Probenprozess zu Bewegungssequenzen des Stücks verarbeitet werden (Vgl. Brandstetter 2015:190). Die so gefundenen Bewegungen entstehen erstmal ohne Interpretationsanspruch oder Ausdruckswunsch als ästhetisch-körperlicher Ausdruck, deshalb kann diese Art von Bewegungsfindung gut in die Oorkaan-Methode integriert werden. Dabei wird diese körperliche Improvisation nur im Entwicklungsprozess des Stückes eingesetzt. Jede Improvisation benötigt als Grundlage einen Rahmen oder ein Regelsystem innerhalb dessen improvisiert wird, oder mit dem im Laufe der Improvisation gebrochen wird. Hier ist dieser Rahmen einerseits die Notation der Musik und wird andererseits von den konventionellen Regeln eines klassischen Musikkonzerts gebildet, das klare Positionen und Haltungen von Musiker*innen fordert und dessen Bühnensetting auch oft durch kulturelle Vorprägung vom Publikum erwartet wird. Darüber hinaus fordert das Musizieren selbst schon bestimmte physische Bewegungen und Vorgänge:
„The musician reacts to the sound the instrument makes, as well as to the mechanic or physical reactions the instrument provides, which are in turn provoked by the musician's initial physical act of pressing a key, plucking a string, and so on. These physical acts [are] the musician's gestures […].” (Hübner 2013:39)
Improvisiert wird innerhalb der Proben z. B. in Aufgaben, die den Ensembles gestellt werden. Das Anliegen ist es, die Musik und Bewegungsmöglichkeiten sowie Komfortzonen der Musiker*innen kennenzulernen. In einer Probe in der Oorkaan-Academy sollen die Musiker*innen eines Quartetts
„…das Stück noch einmal spielen, aber dabei den Raum erkunden und ausprobieren, welche Bewegungen sie während des Spielens machen können, ohne den Kontakt zueinander zu verlieren, oder dass die Qualität ihres Spiels leidet. Am Anfang stehen sie etwas unbeholfen im Raum. Dann geht [Spieler1] los und wandert durch den Raum, […] [Spieler4] sinkt bei einer langsamen Passage in sich zusammen. Er geht in die Knie, lässt sich auf die Seite fallen, legt sich auf den Boden, die anderen unterbrechen ihre Bewegungen und schauen ihm spielend zu. Er will wieder aufstehen und versucht sich am Ellbogen abzustützen. Dabei rutscht ihm das Mundstück aus dem Mund. Sein Spiel unterbricht. Eine der Spielerinnen kichert in ihr Instrument, [die Theatermacherin] lacht auf. Er steht auf und steigt wieder in die Musik ein.“ (Nerbl 2022)
Er scheitert beinahe an der Aufgabenstellung, da er nicht mehr aufstehen kann, ohne sein Spiel zu unterbrechen. Die improvisatorisch gefundene Bewegungsmöglichkeit wird aber von der Theatermacherin übernommen und im weiteren Probenprozess ins Gesamtkonzept hinein komponiert (vgl. Nerbl 2022). Diese Form der Probenarbeit setzt ein neues Selbstverständnis der Musiker*innen voraus. Die Arbeit am musikalischen Stück rückt in den Hintergrund – dieses soll zum szenischen Probenbeginn schon fertig einstudiert und auswendig spielbar sein. Die Musiker*innen werden von „nur“ musizierenden Künstler*innen zur*zum Musikerperformer*in. Die musikalische Persona (vgl. Auslander 2015 und 2021) gehört zu jedem*jeder Musizierenden dazu.
„The term persona, with its intrinsic ambiguity, seems a good way of identifying a role that is performed for an audience in an aesthetic context and that is not identical with the same person’s self-presentation under other circumstances, but that is also clearly not a fictional character.” (Auslander 2015:68)
Jede*r Musiker*in kreiert im Auftritt eine musikalische Persona, egal ob im Orchestergraben oder beim Rockkonzert. „This term includes playing style, outer appearance such as clothing and habitus. This specific set of elements, different from musician to musician, constructs the reference point for an audience when seeing a musician on stage.” (Hübner 2013:22). Die Arbeit eines*einer Musikerperformer*in geht über das Musizieren hinaus. Hübner nennt das die Erweiterung (vgl. Hübner 2013:67) der Praxis des*der Musiker*in. Es hängt vom Selbstverständnis der Musiker*innen ab, ob das, was auf der Bühne zu tun ist, als Erweiterung des Berufes im Verhältnis zu dem erlebt wird, was gewohnt ist und was ihre Identität als ausübende*r Musiker*in impliziert. Hübner unterteilt die Erweiterungen in verschiedene Stufen, abhängig vom Eingriff in die originäre Arbeit der Musiker*innen – das Musizieren. Es beginnt beim Hinzufügen äußerer oder kontextueller Elemente, wie Umgebung und Aussehen (theatralische Umgebung, Kostüm), geht über eine veränderte räumliche Anordnung, die schon eine erhöhte Präsenz der Spielenden verlangt, über Bewegungen der Spielenden zwischen ihren Einsätzen als Musiker*innen, bis hin zu performativen Aufgaben, die z.B. aus der Klangproduktion resultieren oder auch Text und Sprache miteinschließen können. Dass sich die Persona der Musiker*innen mit der Oorkaan-Methode verändert, zeigt sich bereits deutlich. Welche Auswirkungen das auf Ausbildung, Selbstverständnis und Wahrnehmung durch das Publikum hat, ist noch nicht abschließend geklärt.
Wahrnehmungsräume für junges Publikum
In der Oorkaan-Academy wird deutlich, wie die durch Improvisation entstandenen theatralen Konzerte Wahrnehmungsräume für ihr Publikum schaffen. Die Konzertsituation im Rahmen der Oorkaan-Academy besteht aus zwei Teilen. Einmal aus kurzen theatralen Konzerten (3-5 Minuten je Miniatur) und zweitens aus der anschließenden Begegnung von Musiker*innen, Theatermacher*innen und Publikum. Dabei werden die Konzertorte zu Begegnungsorten und die Kinder können die Räume und Instrumente erkunden.
Konzerte, die aus dem Zusammenspiel von körperlicher Improvisation und Musik entstehen, weisen nicht zwangsläufig eine stringente Erzählung oder Handlung auf. Es ist möglich, dass beim einzelnen Zuschauenden eine eigene Interpretation entsteht, die Konzerte tragen aber auch das Risiko oder die Möglichkeit von Frustration, Langeweile, aber auch einer Überforderung durch Komplexität (vgl. Brandstetter 2015:196). Diese breiten Möglichkeiten des Konzerterlebens führen zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen. Erstens kann es bei diesen Produktionen sinnvoll sein, dem Publikum die Möglichkeit der Nichtpartizipation zu geben und es nicht mit einer Art Partizipationszwang zu überfordern (vgl. Zirfas 2015:o.S.). Es gibt Kinder, die begeistert einen Rhythmus, den sie in der Musik hören, mitklopfen, tanzen oder das Geschehen kommentieren; es gibt aber auch Kinder, deren gesamte Aufmerksamkeit mit dem Verfolgen von Klängen und Bewegungen gefesselt ist und die an der Grenze zur Überforderung nicht auch noch körperlich aktiv werden können (vgl. Nerbl 2022). Zweitens kann es unterschiedliche Erwartungshaltungen beim Publikum geben. Die Gespräche mit den zuschauenden Eltern und Begleitpersonen der Kinder zeigen, dass in der Erwartungshaltung der Eltern genauere Geschichten, Moderationen oder Beschreibungen des zu Erlebenden erwartet werden. Bei einem Teil des Publikums gibt es den Wunsch nach Sinnzuschreibung oder Interpretation. Die theatralen Konzerte eröffnen allerdings nur Räume für die Zuschauer*innen, die sich nicht in richtig und falsch unterteilen lassen, sondern in denen die Wahrnehmung des Publikums als Teil des Schaffensprozess zwischen Künstler*innen und Zuschauer*innen eine bedeutungsvolle Rolle einnimmt (vgl. Brandstetter 2015:195). Der Wunsch nach Deutungsmöglichkeiten wird von den Eltern auch auf ihre Kinder projiziert. Eine Mutter ist nach dem Konzert besorgt, dass ihre Tochter „der Geschichte nicht folgen“ könnte und nicht wüsste, „was sie hier lernen und verstehen sollte“, weil ja in diesen „Stücken gar nichts gesprochen oder erklärt wurde“ (Nerbl 2022). Die Mutter übersieht die Reaktionen und Teilhabe ihrer eigenen Tochter. Diese kann auf Nachfrage einzelne für sie interessante Momente im Konzert mit den Aktionen der Musiker*innen und der Stimmung der Musik beschreiben. Frustration aufgrund von Nicht-Verstehen war im Gespräch mit der Tochter nicht zu bemerken. Die Reaktionen der Kinder sind unmittelbar und spontan auf einzelne Situationen innerhalb der Konzerte. Besondere Bewegungen oder Klänge bleiben bei Kindern im Gedächtnis oder aktivieren sie direkt im Konzert zu Reaktionen oder im Anschluss zu eigenen Handlungen. Ähnliches lässt sich im Tanztheater beobachten:
„Wahrgenommene Muster lassen sich in vielerlei raum-zeitliche, kulturelle, narrative oder abstrakte Kontexte stellen und, wenn erwünscht, mit Bedeutung erfüllen. […] Die Freiheit des Zuschauers, Muster zu erkennen (oder wiederzuerkennen), ist virtuell grenzenlos.“ (Brandstetter 2015:195)
Produktionen eines „Theater des Hörens“ (Plank-Baldauf o. J., zit. n. Schaback 2020:24) möchten dem Publikum ermöglichen, einen eigenen Zugang zu Musik zu finden und Neugierde auf Hörerlebnisse zu schüren. Dabei handelt es sich oft um „performative[n] Inszenierungen, bei denen kaum mehr klassisch erzählt wird, sondern Klänge und Geräusche für sich stehen“ (Schaback 2022:o.S.). Vom Publikum erwartet man eine „voraussetzungslose Haltung des Zuhörens, die […] sich nicht von Klischees und vorgegebenen Meinungen treiben lässt und sich die Freiheit bewahrt, selbst die scheinbar unbedeutsamsten Dinge neu zu entdecken“ (Schaback 2022:o.S.). Gerade bei Kindern geht man davon aus, dass voraussetzungsfreies Zuhören und Erleben einfacher möglich seien, da sie noch offener auf verschiedene Musik- und Klangerlebnisse reagieren können, da Geschmack und Prägung noch nicht endgültig abgeschlossen und ausgebildet sind (vgl. Plank-Baldauf 2017). Im Musiktheater für junges Publikum liegt der Fokus, anders als bei szenischen Konzerten mit hauptsächlich pädagogischem Anspruch, auf einem „Erleben und [einer] sinnliche[n] Erfahrung innerhalb der theatralen Fiktion. Es versteht sich nicht als reine Bildungsinstitution, sondern ermöglicht eine Kunsterfahrung, bei der die Wahrnehmung und das ästhetische Erleben im Vordergrund stehen.“ (Plank-Baldauf 2021:o.S.). Auch als Zuschauer*in kann man „durch das Moment der ‚Einfühlung‘ zu einem Teil der theatralen Handlung“ (Plank-Baldauf 2021:o.S.) werden und somit an einem Theater- oder Konzerterlebnis teilhaben. Ermöglicht wird diese Teilhabe dadurch, dass gelungene Produktionen die Zuschauer*innen „in den Zustand des Staunens […] versetzen [können], ohne dabei die Grenze der Überforderung zu überschreiten“ (Plank-Baldauf 2021:o.S.).
Die im Konzert entstehenden Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume ermöglichen den Kindern, sich in einzelne Situationen einzufühlen und diese mit ihren eigenen Interpretationen zu füllen. Die Kinder spielen Bewegungen und Elemente aus den Konzerten nach, ohne dass sie dazu aufgefordert werden, kommen mit Musiker*innen ins Gespräch und fordern sie dazu auf, ihre Instrumente zu erklären und auszuprobieren (vgl. Nerbl 2022).
Ausblick
Der primäre Anspruch der Oorkaan-Produktionen ist nicht Wissen zu vermitteln, sondern Freude am Zuhören und Zuschauen zu bereiten und Neugierde zu wecken, aktiv an der Welt der Musik teilzuhaben.
Es entstehen durch die improvisatorischen Probenprozesse Produktionen für junges Publikum, die den Anspruch haben, musikalisch exzellente Hochkultur zu präsentieren. Gleichzeitig müssen in den Produktionen Aspekte der Vermittlung, Publikumsansprache und Kulturellen Bildung mitgedacht werden. Künstlerische und Kulturelle Bildung müssen immer breitere und komplexere Themenfelder vermitteln und bearbeiten, da kulturelle Konventionen bei diversen Zielgruppen nicht mehr vorausgesetzt werden können, wie aktuelle Forschungen, u.a. zur Enkulturation des Kulturpublikums (vgl. Meroth/Strauss 2022), zeigen. Das heißt einerseits, dass man als Kunst- und Kulturschaffende niederschwellige Angebote und Zugänge schaffen muss. Andererseits bedeutet es aber auch, dass man auf mehr Offenheit für neue Aufführungsformen hoffen kann.
In den Probenbeobachtungen von Oorkaan wird klar, dass keine reine Konzertform entsteht. Es geht konzeptionell alles von der Musik aus, aber es werden nicht immer alle entstehenden Handlungen und Bewegungen zur Unterstützung der Musik eingesetzt. Es kann passieren, dass das Spiel auf der Bühne so wichtig wird, dass es zeitweise den gleichen Stellenwert bekommt wie die Musik. Trotzdem liegt der Fokus der Produktion darauf, die größtmögliche Aufmerksamkeitsbindung des (jungen) Publikums zu erreichen. Das wird durch die Aktivierung verschiedener Sinne angestrebt. So entsteht eine ‚Musik zum Sehen‘ (vgl. Schwarz/Simon 2011:212) oder ein ‚Theater zum Hören‘. Ob dies als Konzert oder als Musiktheater eingeordnet wird, ist eine Frage der Perspektive des Betrachters (vgl. Rebstock 2016:564). Aus der Erfahrung heraus, welche Erwartungshaltung mit dem Begriff szenisches oder theatrales Konzert beim Publikum geweckt wird, ist es für Produktionen dieser Art wichtig die Bezeichnung klar zu wählen. Konzert legt den Fokus auf die Musik, eine Produktionsbezeichnung, die eine größere Nähe zu Musik- oder Tanztheater zulässt, könnte allerdings manchen Erwartungshaltungen des Publikums besser begegnen.
In der Probenphase der Oorkaan-Academy wurden die performativen Aufgaben oder Bewegungen von der Musik oder Partitur inspiriert und entstehen durch Improvisation. Oorkaan legt den Fokus auf die Motivation für eine Bewegung, dabei können Effekte wie erhöhte Präsenz und neue Ebenen des Geschichtenerzählens (vgl. Hübner 2013) entstehen, das ist aber nicht automatisch der Fall. Deshalb benötigt diese Art von Konzerten in einem späteren Probenabschnitt eine Dramaturgie, in der Idee eines „ersten Publikums“. Um vom Probenprozess zu einem aufführungsreifen Produkt zu kommen, benötigen diese Produktionen einen „Blick von außen", der die Bedürfnisse und Wahrnehmung des Publikums im Fokus behält.
Das Publikum wird im Moment des Konzertes aktiviert, kann dran teilhaben und neue Erfahrungsräume für ästhetisches Erleben kennenlernen. Sicherlich ist damit die Rolle des Publikums und die Wirkung der theatralen Konzerte auf ihr junges Publikum noch nicht abschließend untersucht. Es ist nötig, in den Daten der Feldforschung Zusammenhänge von Szene, Musik und Aktivierung der Kinder herauszufiltern und zu analysieren, um z. B. Aussagen darüber treffen zu können, wie Bewegung und Musik in Kombination die Kinder als Publikum ansprechen und welche Assoziationsräume sich für sie eröffnen können.