Symbolische Formen, kulturelle Identität und die spätmoderne Gesellschaft: Eine kulturtheoretische Perspektive auf Ernst Cassirer, Judith Butler und Andreas Reckwitz
Abstract
Der Beitrag geht der Frage nach, warum der Kulturbegriff in den soziologischen und politischen Debatten der letzten Zeit an Bedeutung gewonnen hat. Ausgehend von den Analysen des Kultursoziologen Hubertus Busche werden die historischen Wurzeln der aktuellen Debatten um kulturelle Identität und Kulturrelativismus aufgezeigt. Davon ausgehend lässt sich in Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen ein zentraler Schnittpunkt zwischen universalistischen und konstruktivistischen Kulturtheorien, wie sie etwa von Judith Butler vertreten werden, identifizieren. Ihre Ideen werden auch in der aktuellen kultursoziologischen Diskussion in Deutschland aufgegriffen, wie sie vor allem durch Andreas Reckwitz‘ Diagnose der spätmodernen Gesellschaft angestoßen wurde. Hier lassen sich Anknüpfungspunkte an ein Modell performativer Identität erkennen, die weit über die Gendertheorie hinausweisen, ebenso wie Anknüpfungspunkte an Reckwitz' Diagnose einer hyperkompetitiven Singularisierungsgesellschaft.
Begriffsbestimmung
Dem Begriff der Kultur haftet traditionell etwas Konflikthaftes an. Überfrachtet mit semantischen Erwartungen neigt er einerseits dazu, in seiner normativen Universalität zu verblassen, andererseits in identitätspolitischen Debatten funktionalisiert zu werden. Hinzu kommt, dass Kultur theoretisch derzeit an Bedeutung gewinnt, so dass ihrer Bestimmung diskursiv nicht einfach ausgewichen werden kann, um sich ‚den eigentlichen Problemen’ zu widmen. Es bestimmt ja gerade die Konjunktur des Begriffs, dass an ihm soziale, politische und wirtschaftliche Probleme ausgehandelt werden.
Es ist schon häufig darauf hingewiesen worden, dass nichts auf diese Bedeutung verweist, wenn man den Ursprung des Begriffs betrachtet, der auf das lat. colere zurückgeht, der zwar auch schon eine verwirrende Bedeutungsfülle hat – von pflegen über beschützen und wohnen bis zu anbeten und bebauen – im Prinzip aber auf die Bearbeitung der Natur durch Feld- und Erntearbeit als Agrikultur zurückgeht. Der semantische Kontext der Kultur hat sich seit der Antike immer weiter ausgeweitet und beschreibt schließlich „jenen Komplex von Werten, Sitten und Gebräuchen, Überzeugungen und Praktiken, die die Lebensweise einer bestimmten Gruppe ausmachen.“ (Eagleton 2009:51).
Der metaphorische Ursprung trat dabei früh in den Hintergrund. Die Übertragung der ‚Kultivierung‘ von der äußeren auf die innere Natur wurde schon in der Antike vollzogen (Busche 2018). Und obwohl zunächst Körper und Geist gemeint waren, also die cultura corporis und cultura animi, hielt sich bis ins 18. Jahrhundert nur die Geisteskultivierung, die als „geistiger Ackerbau“ fortlebt in der Persönlichkeitsentwicklung als Kultivierung (Busche 2018). So gehen „gesteigertes Individualbewusstsein und die Säkularisierungstendenz der Aufklärung“ zusammen. Im 17. Jahrhundert wird aus der erworbenen Kultur, vor allem in Frankreich, der „Habitus“, der als Distinktionsbegriff soziale Hierarchisierungen markiert. Viel später, nämlich 1948, entlarvt T. S. Elliot den Entwurf eines allumfassend gebildeten Menschen mit perfekten Umgangsformen, Gelehrsamkeit, Abstraktionsvermögen, Kunstsinn und Mehrsprachigkeit als Fantasiegebilde; „…that the wholly cultured individual is a phantasm“ (Eliot 1962:23). Es ist dagegen Wilhelm von Humboldt, der die Vervollkommnung durch Kultur nun in seinen Bildungsbegriff aufnimmt und erstmals begrifflich unterordnet.
Gleichzeitig wird im 18. Jahrhundert die Kultur von der Person auf Völker und Epochen verschoben. Kultur beschreibt nun den gesellschaftlichen Entwicklungsstand einer Nation und bezieht als Aufklärungskritik Stellung, wo Menschheits- und Fortschrittsgeschichte allzu einseitig gleichgesetzt werden, wo der kritische Blick auf Europa und seine Kolonien fällt. Die Einwände gegen den kulturellen Universalismus werden bei Johann Gottfried Herder ausformuliert, der damit den modernen Kulturrelativismus theoretisch möglich macht: Jede Kultur hat ihre Zeit und ihren Ort und erklärt sich aus sich selbst heraus,
„[Herders] genialer historischer Sinn für das Individuelle eines jeden Volks- und Zeitgeistes sowie sein daraus entspringende Maxime, die Humanität vergangener Zeitalter auf keiner anderen Waagschale als ‘der damaligen Stufe ihrer Erkenntnisse und Kultur’ abzuwägen, lenken den Blick zunehmend auf das regional und historisch einmalige.“ (Busche 2018:13)
Nach Herder setzt eine zunehmende Präzisierungstendenz ein, zu definieren, was eine Kultur im Gegensatz zu einer anderen ausmacht. Innerhalb von naturalistischen Kulturtheorien erscheinen moderne pluralistische Modelle wie ein ‚Kulturverfall‘ und rufen Kritiker angeblich homogener Kulturen auf den Plan. (Busche 2018:15) In Herders Theorie sieht Busche eine Kritik am „Eurozentrismus avant la lettre“; auch so wird seine
„ethnographische Sensibilität für die durchgängige Individuiertheit ethnischer Formen zur Geburt des modernen, ethnologischen oder historischen Kulturbegriffs, dessen ‚semantische Karriere’ nach Luhmanns treffender Diagnose das Bewusstsein absoluter ‚Kontingenz’ verbreitet und ‚Indikator’ der heraufziehenden ‚Weltgesellschaft’ ist.“ (Busche 2018:14)
Mit der Entwicklung zur Industriegesellschaft sieht Busche einen turn von der Kultivierung des Inneren zur „Produktion von Kulturgütern“, was er als Übergang von der Praxis zur Poiesis beschreibt (Busche 2018:20) Zunächst kommt dieser an Produkten, Produktionen und Objektivierungen festgemachte Kulturbegriff in professionellen Handlungsfeldern der Kultur zum Ausdruck als empirische Seite des Kulturverständnisses: Sie wirkt im Kulturerbe ebenso fort, wie in Kulturbetrieben oder Kulturbranchen, sie ist Thema der Kulturmedien, Gegenstand der Kulturförderung und Ziel des Kulturtourismus. Sie ist als alltägliche Handlung ebenso präsent wie als Profession, als kommerzielles Produkt ebenso wie als herausgehobenes Erlebnis. Insbesondere in diesen Handlungsfeldern können auch eher veraltete Vorstellungen einer Hochkultur nivelliert, Zugänge gestaltet und sparten- oder themenübergreifende Programmatiken entworfen werden (siehe: Bettina Heinrich „Kunst oder Sozialarbeit? Eckpunkte eines neuen Beziehungsgefüges zwischen sozialer Arbeit und Kulturarbeit").
Für die Kulturwissenschaften relevant sind heute zum einen der differenzorientierte, relative Kulturbegriff, der den inter-, trans- und hyperkulturellen Gesellschaftsformen und -modellen als Folie dient, sowie in einer globalen (Wirtschafts-)welt als ‚interkulturelle Kompetenz’ gelebt oder gefordert wird (siehe: Bernd Wagner „Von der Multikultur zur Diversity"), zum anderen Kultur als Handlungsfeld und Aufgabe der Bildung, Gegenstand ästhetischen oder aisthetischen Erlebens, das heißt als Berufs- und Branchensparte oder Unterhaltungs- und Erlebnissphäre, die in Gesellschaften ‚geschaffen’ oder als selbstreflexives ‚Kulturerbe’ objektiviert, gefördert und erhalten wird.
Auf einer abstrakteren Ebene bleibt in der Spätmoderne Kultur als Lebensform und als künstlerische Schöpfung – als herausgehobene, ganz spezielle Art menschlicher Kultur. (Eagleton 2009:33) Im ersten Fall wird Kultur zu einem sehr konkreten Begriff, der an Normativität verliert, aber die je eigene Lebensform benennt und sichtbar macht. Daher ist sie im Kern eine Identitätskultur und sie definiert sich konstitutiv über den anderen (Eagleton 2001:41), was sie zu einem „Kampfplatz der Identitätspolitik“ macht (Assmann 2017:30, Eagleton 2001:60).
Im zweiten Fall bleibt die Normativität als Wert in bestimmten Werken erhalten, lebt jedoch nur noch in diesen fort. Es bleibt daher die Frage, ob die Ästhetik einerseits und die Kultur andererseits die gleiche epistemische Grundlage haben und welche Bedeutung dabei Innovationen in Technik, Wirtschaft, Politik, oder Wissenschaften zukommt. Ein solcher Kulturbegriff könnte den Wertgehalt, der in der Kunst verankert ist, mit anderen menschlichen Ausdrucksformen verbinden, die ebenfalls „Hervorbringungen“ einer Kultur sind. Ein solcher Kulturbegriff findet sich bei Ernst Cassirer.
Kultur als Erkenntnistheorie: Ernst Cassirer
Die Kulturtheorie Ernst Cassirers (* 1874, Breslau † 1945 New York) hat im Zuge der Entwicklung u.a. der cultural studies ab etwa den 1960er-Jahren eine Renaissance erlebt (Bachmann-Medick 2018:32, Assmann 2017:24) – vergleichbar mit Abi Warburg für die Kunstwissenschaften und Walter Benjamin für die Medienwissenschaften. Inwiefern die Rezeption von Cassirers Schriften in den USA und England – er publizierte nach seinem durch die Nationalsozialisten erzwungenen Exil ab 1933 in englisch – dazu führte, dass Cassirer auch in Deutschland wieder vermehrt rezipiert wurde, kann hier nicht geklärt werden. Auffällig ist jedoch, dass er als Vorläufer einiger Grundzüge der cultural studies gelesen wird, insbesondere im Hinblick auf sprachliche Realitätszugänge sowie auf das Modell einer generell symbolgenerierenden Erkenntnis im Sinne des „Primats der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung“. (Cassirer 2011:43) Assmann sieht sowohl die deutschen Kulturwissenschaften als auch die britischen cultural studies als Erneuerer der Geisteswissenschaften bzw. der humanities. Dabei gab es in Deutschland einen shift von mentalistischen Modellen (also der cultura animi, die Busche auf Cicero zurückführt, die den Geist in den Mittelpunkt stellen zum Symbol, während in England die Dekonstruktion eines als elitär wahrgenommenen literarischen Kanons im Zentrum stand. Man könnte auch sagen, dass die Kulturwissenschaften eher philosophisch, die cultural studies politisch ausgerichtet waren (Assmann 2017:20).
Für die Kulturtheorie und die cultural studies wurde leitend, dass Menschen sich kulturell offenbar darin unterscheiden, wie sie sich selbst symbolisch modellieren, da ihre Sprache, ihre Mythen – verstanden als vorwissenschaftliche Welt- und Selbstmodelle – ihre Kunst und ihre technischen Entwicklungen Ausdruck ihrer Welterklärung sind. Dazu müssen symbolische Formen aber als grundsätzlich selbstreflexive Sichtweisen der Welt verstanden werden. Kulturelle Phänomene treten nicht eigentlich in Erscheinung, sondern formen die Erkenntnis eher grundlegend. Die Kulturtheorie Ernst Cassirers kann daher als erste und einzige kulturtheoretisch geprägte Erkenntnistheorie verstanden werden. Im Hinblick auf das „kritische Denken“ schreibt Cassirer in seinem kulturphilosophisches Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929):
„Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht. Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur.“ (Cassirer 2010:11)
Indem Cassirer die Kulturwissenschaften in Abgrenzung zu den exakten Wissenschaften definiert, erscheint Kultur als Gegenbegriff zur Natur – verstanden als Gegenüberstellung vom ‚menschengemachten’ im Unterschied zum ‚vorgefundenen’ in der Welt. Seine epistemologische Wende liegt nun darin, dass er den unmittelbaren Zugang zum Wirklichen durch die Naturwissenschaften nicht nur anzweifelt, sondern ihre Methoden selbst zu symbolischen Formen erklärt. Damit schaffen sie den Gegenstand ihrer Erkenntnis als „mathematisch-symbolischen, zeichenhaften Raum“ (Müller-Funk 2021:78), der die Grenze der Erkenntnis markiert und gleichzeitig die Realität symbolisch erschafft. Wie sich zeigen wird, kommt Judith Butler auf anderen Wegen zum gleichen Schluss (Müller-Funk 2021:81). Die Vorwegnahme konstruktivistischer Ansätze liegt so gesehen darin, dass Cassirer „Erkenntnis als kulturelles und ästhetisches Tun deutet; das die ‚Wirklichkeit’ nicht abbildet, sondern gestaltet […] als soziale und kulturelle Welt.“ (Müller-Funk 2021:54 f.)
Eine weitere Konsequenz dieser erkenntnistheoretischen Wende innerhalb der Kulturtheorie ist eine Art vorweggenommene semiotische Wende, wonach sich das Augenmerk auf die Beschaffenheit eben jener Bilder, Symbole und Zeichen konzentrieren und deren besondere Formgebung analysieren sollte. Damit gewinnt Cassirers Kulturtheorie zwangsläufig eine ästhetische bzw. eine medientheoretische Dimension.
Aber auch eine pluralistische Wende kann in Cassirers Theorie abgelesen werden, indem man das Verhältnis der symbolischen Formen untereinander bestimmt und analysiert. Und das heißt nichts Anderes, als dass weitere Formen der Erkenntnis, etwa in ästhetischen Zusammenhängen, gleichwertige Erkenntnisformen sind.
„Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entschiedenen Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich bildende, nicht bloß nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ‚Bedeutung’, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen ihre eigenen Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind.“ (Cassirer 2010:7)
Interessant bei Cassirer ist also nicht nur die eigentümliche Symbolwelt, die Erkenntnis zu einem produktiven, schöpferischen Akt macht, sondern vor allem auch die Ebenbürtigkeit aller Arten von Erkenntnis, in Kunst, Technik, Religion oder Recht, die allerdings offenbar hermetisch nebeneinander existieren, mitunter sogar konkurrieren. Keine Erkenntnis ist empirisch zu nennen, da ihr die Symbolbildung als Bedingung immer schon zugrunde liegt.
Theorie wäre demnach nicht länger ein Gegenstück zur Praxis, sondern eine ganz spezifische Form von kulturell relevantem Handlungsvollzug. Dies gibt der Wissenschaft ihre ethische Grundlage, sodass die „Erforschung, Analyse und Beschreibung von Kultur niemals wertneutral und unpraktisch ist, sondern diese Kultur immer selbst verändert.“ (Müller-Funk 2021:80).
Nach Andreas Reckwitz erhält Cassirer Aktualität für die Sozialwissenschaften aus jener symbolischen Welt- und Wirklichkeitskonstruktion, die vor allem in hermeneutischen und strukturalistischen Kulturtheorien weitergeführt wird. Eine Kulturtheorie macht für Reckwitz jedoch nur Sinn, wenn sie auch Aufschluss über die moderne Gesellschaft insgesamt bietet. (Reckwitz 2000:722.) In diesem Zusammenhang konstatiert er, dass sich insbesondere kulturwissenschaftliche Perspektiven mit postmodernen Phänomenen auseinandersetzen, die sich als „deutlich komplexer“ erweisen, als mit dem Aufkommen des Begriffs Post- bzw. Spätmoderne in den 1980er-Jahren absehbar war. Eine nähere Untersuchung dieses Themenkomplexes arbeitet Andreas Reckwitz in seiner Gesellschaft der Singularitäten aus.
Die kulturelle Performanz der Ungleichheit: Andreas Reckwitz
In seinem Aufriss der Moderne systematisiert Reckwitz bekanntlich die bürgerliche, industrielle Moderne ab dem 18. Jahrhundert und die Spätmoderne, die er mit dem Jahr 1980 beginnen lässt. Bezogen auf die westliche Moderne markiert er verschiedene politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, die sich nach einer Logik des Allgemeinen entfalten. Bestimmend für dieses Modell ist seine Anwendbarkeit als allgemeingültiges Muster auf praktisch alle Phänomene in Technik, Wirtschaft, Politik und Kultur. Davon unterschieden ist seiner Meinung nach ab der Spätmoderne das Aufkommen einer Kulturalisierung und Singularisierung, die sich gesellschaftlich am Übergang von der Massen- zur Kulturproduktion, sowie am Megatrend Digitalisierung festmachen lässt. (Reckwitz 2018:47).
Die Kulturalisierung greift zumindest in dieser Konstruktion erstaunlich wenig auf kulturtheoretische Fundamente zurück. Kontur gewinnt das Phänomen dagegen zum einen aus dem Begriff der Creative Class, also der Entstehung einer erstmals umfassenden Kreativbranche, die ab den 1980er-Jahren den kulturhistorischen Übergang von der kulturkritisch verstandenen ‚Kulturindustrie’ zum kulturaffirmativen Verständnis der Kulturwirtschaft markiert, zum anderen aus einer umfassenden Ästhetisierung des Lebensstils. Dabei entwickelt sich die Kulturalisierung als Herausbildung einer Kulturökonomie, wie sie in der Film-, Musik- und Computerspielbranche, im Marketing und in der Werbung, in den Kunst- und Designmärkten zum Ausdruck kommt. Andreas Reckwitz hatte diese These bereits in Die Erfindung der Kreativität (2012) ausgearbeitet und darin die systematische Abgrenzung der creative industries zum Ökonomiemodell bei Max Weber entwickelt (Reckwitz 2012a:20ff., 133 ff.). Für Reckwitz sind es ‚die Kreativen’, die zu Botschaftern eines ästhetischen Lebensstils werden, der ganz wesentlich vom Außen, der „Performanz“ (Reckwitz 2018:51) und des Ausdrucks geprägt ist. Individualisierung, in der Moderne noch ein Garant gegen die Vereinnahmungen einer Massengesellschaft, wird nun selbst zu einem massenhaften Phänomen, ein scheinbarer Widerspruch, den Reckwitz in der These zuspitzt, die Besonderheit von Subjekten und Objekten trete eben massenhaft auf.
Auf den ersten Blick basiert Reckwitz‘ Diagnose auf der Modernitätskritik des 20. Jahrhunderts, die stets entweder die Errungenschaften oder die Kosten des modernen Fortschritts hinterfragt hat. Neben der schon erwähnten Argumentationstradition der Frankfurter Schule, gehört soziologisch z. B. auch Ulrich Beck (1986) dazu. In den vergangenen Jahren nimmt diese Kritik jedoch vermehrt die Romantik als gegenläufige oder mitlaufende Bewegung in den Blick (siehe: Benjamin Jörissen „Subjektivation und „ästhetische Freiheit“ in der post-digitalen Kultur"). In der zunehmenden Ästhetisierung der Lebenswelt erweitert sich nach Reckwitz das zeitdiagnostische Vokabular um die romantischen Ideale der Expressivität, Ästhetik, Affektivität, Sinnlichkeit oder Naturverbundenheit. Es gehört zu seinen zentralen Thesen, dass die Werte der Romantik zur Grundlage der Singularisierung und Kulturalisierung in der westlichen Gesellschaft werden. Ein wesentliches Movens in diesen Überlegungen ist die theoretische Verklammerung von Ästhetik, Expressivität und Valorisierungen im weitesten Sinne. Ideengeschichtlich bezieht sich Reckwitz auf Charles Taylors „Quellen des Selbst“ (Taylor 1996). In Reckwitz‘ Spätmoderne werden diese Phänomene an die Kulturökonomie gekoppelt. Sein Ansatz ist erkennbar von ästhetischen Theorien geprägt, wo er über den kulturellen Eigenwert bzw. von Eigenkomplexitäten – jene „eigene irreduzible innere Dichte“ (Reckwitz 2017:53) – spricht, die eben nicht nur einen besonderen Unterschied oder eine ontologische Differenz bezeichnen, sondern das Objekt der Vergleichbarkeit überhaupt entziehen. Differenzen tauchen in der Logik des Singulären als qualitative Differenzen, als Inkommensurabilität auf, deren Maß nicht bestimmt werden kann. Phänomene, die auf diese Art einzigartig sind, können nicht primär aus zweckrationaler Perspektive erfasst werden, sie sind ästhetisch (siehe: Ursula Brandstätter „Ästhetische Erfahrung"). Kulturalisierung basiert daher nicht nur auf der einfachen Annahme, dass „das Soziale durch Sinnzusammenhänge geformt und codiert“ (Reckwitz 2017:75) ist, sondern Objekten oder Subjekten haftet ein besonderer Wert an und diesen Wert haben sie „aus eigenem Recht“ (Reckwitz 2018:51). Daher bildet die Ästhetik die unübersehbare Folie dieser Singularitäten:
„Exakt jene Einheiten des Sozialen, also diejenigen Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeit und Kollektive, die gesellschaftlich singularisiert werden, erhalten ebenjene Qualitäten, um in diesem sozialen Kontext zu Einheiten der Kultur zu werden. Die singulären Einheiten des Sozialen werden zu Kultureinheiten, und der Prozess ihrer Singularisierung ist eben ein Prozess ihrer Kulturalisierung.“ (Reckwitz 2018:77)
Dieses eher klassische Ästhetikverständnis, welches das Nicht-Notwendige, Überflüssige meint, bildet die Basis für kulturelle Prozesse, in denen der intrinsische Wert von Dingen und Ereignissen in ästhetischen Kategorien des Narrativen, Hermeneutischen, Gestalterischen oder Ludischen in Erscheinung tritt.
Durch die Kulturalisierung des Sozialen und die hohe Bedeutung der Singularisierungstendenzen in westlichen Gesellschaften, aber auch in global aufstrebenden Schwellenländern in Asien und Amerika, wird das Verhalten zur Kultur wichtiger als die Kultur selbst. Daher bilden die im romantischen Ideal der Authentizität wurzelnden spätmoderne Werte der Selbstverwirklichung die Basis des Lebensgefühls seit den 1980er-Jahren. Es sind, so Reckwitz, ‚Selbstverwirklichungssubjekte’, die in einer neuen Mittelschicht der spätmodernen Gesellschaft danach streben, Leistung, Pflichtbewusstsein, Status und andere eher moderne Werte mit ihren Zielen der Authentizität und der Expressivität zusammenzubringen. Sozialgeschichtlich waren ‚Statusinvestition’ und ‚Selbstverwirklichung’ Gegensätze; bis in die 1980er-Jahre hinein war Selbstverwirklichung geradezu das Gegenteil jeder modernen Status- und Rationalisierungsidee.
Die Gleichzeitigkeit von Statusinvestition und Selbstverwirklichung sieht Reckwitz heute in den Kontexten der Kulturökonomie verwirklicht, vom Start-up bis zur/zum Influencer*in. Der Zusammenhang von Ökonomie und Kultur und die Ausbreitung des kulturellen Kapitals hat jedoch entsprechende Kehrseiten, weil der singularistische Lebensstil eben nicht nur Chancen potenziert, sondern auch Enttäuschungen vervielfacht. Selbstverwirklichung verlangt nach kulturellen Mitteln, die vielen nicht zur Verfügung stehen. Der in der Kultur der Spätmoderne empfundene Lebenserfolg kann eine Fallhöhe subjektiv wahrgenommenen Versagens und entsprechende Defiziterfahrungen erzeugen (Reckwitz 2017:342 f., Reckwitz 2018:59). Wo Valorisierungen, kompetitive Sichtbarkeits- und Performancemärkte bestimmend sind, entstehen zwangsläufig Entwertungen. Der Mangel an kulturellen Ressourcen, um mit Unverfügbarkeit, Enttäuschung und negativen Effekten in der Gesellschaft der Singularitäten umzugehen, bestimmt laut Reckwitz ihre spezifische Ausprägung von Ungleichheit (Reckwitz 2017:346 f.) In einer Alltagslogik des ‚muddling through’ gibt es einen kurzen Zeithorizont des Handelns, Widrigkeiten des Lebens sind sogleich existenzbedrohend.
Das Risikomanagement in dieser Gesellschaft wird an das Subjekt delegiert. Dass die strukturellen Bedingungen der spätmodernen Gesellschaft nicht gekannte Herausforderungen für individuelle Lebenslagen mit sich bringen, hatte schon Ulrich Beck in den 1980-er Jahren herausgearbeitet: Die Verbindung institutioneller Konstellationen mit der unmittelbaren Individualbiografie ist demnach einer der zentralen neuen Risikokontexte des spätmodernen Lebens (Beck 1992:210). Moderne Freisetzungsprozesse, wie sie oben beschrieben wurden, haben laut Beck eine liberalisierte Gestaltungsmacht zur Folge, die paradoxerweise nicht Freiheiten, sondern Abhängigkeiten potenziert, vor allem von Markt und Wettbewerb in den Bereichen Bildung, Arbeit, Soziales und Gesundheit. Anders als Beck sieht Reckwitz jedoch in dieser Abhängigkeit produzierenden Freisetzung nicht den Preis einer spätmodernen „klassenlosen“ Gesellschaft, sondern im Gegenteil Anzeichen einer neuen ‚Klassenstruktur‘; das entscheidende Phänomen, an dem eine neue akademische Mittelklasse festgemacht werden kann, ist nach Reckwitz die Kultur (Reckwitz 2017:276).
Dies hat zwei Konsequenzen: Ungleichheiten, die etwa auch schon Ulrich Beck diagnostiziert hatte, werden kulturwissenschaftlich und nicht mehr nur sozialwissenschaftlich ausgedeutet und befragt. Zweitens werden kulturelle Themen zu den entscheidenden Handlungs- und Bewertungsfeldern eines apertistisch-differenziellen globalen Liberalismus (Reckwitz 2017:371), der wiederum Wettbewerb und kulturelle Differenz, also Singularisierung fördert und gegen eine kulturessentialistische Gegenbewegung zu erwehren sucht. Der neue apertistisch-differenzielle Liberalismus wertet die kulturelle Artikulation von Minderheiten auf und gründet nun politisches Handeln nicht nur auf bürgerlichen Rechten, sondern in qualitativer Hinsicht auf kulturelle Vielfalt.
Hinter den Debatten um den universalistischen liberalen Kulturbegriff und der differenziellen, neoliberalen Kulturtheorie spielen sich immer noch Erörterungen der Autonomie des Subjekts bzw. die Hinfälligkeit essentialistischer Begriffssysteme ab. Das selbstbestimmte Subjekt als Träger einer Identität ist selbst eine Idee des bürgerlichen Liberalismus, denn sie ist auch und vor allem zunächst rechtlich gebunden an einen Bürger als verantwortlichem Mitglied der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird die Loslösung der sozialen Identität von Klasse oder Herkunft hin zu einer konstruktiven Aufgabe des Einzelnen erst verständlich. Jedoch ist gerade in den Kulturwissenschaften der Spätmoderne die Vorstellung der Identität eines autonomen Subjekts von eher poststrukturalistisch orientierten Positionen bezweifelt worden. Auch interaktionistische Modelle – wie sie derzeit vor allem in der gender-Debatte leitend sind – denken Identität eher als performative Konstruktion, um ontologischen Ballast abzuwerfen, aber auch weil eine essentialistische Fixierung eher mit Skepsis betrachtet wird.
Insbesondere bei Judith Butler lässt sich eine Verschiebung in Richtung einer interaktionistischen Ethik aufzeigen. Die Auflösung der Zeitperspektive in eine momenthafte, stets neu ansetzende intersubjektive Aushandlung von Identität führt im Kern zu einer diskursiven sozialen Dynamik, ermöglicht kulturelle Artikulationen und befreit Individuen innerhalb des Diskurses von normativen Zuschreibungen. Wie kaum eine andere hat Butlers Gendertheorie Bedeutung und Gewinn einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf historisch und systematisch fixierte Begriffssysteme deutlich gemacht (Kimmich 2003:41). Ähnlich wie bei Cassirer, gewissermaßen als seine spätmoderne Anwendung, geht diese Betrachtungsweise mit der Strategie einher, die grundsätzlich symbolische Konstruktion insbesondere der natürlich erscheinenden Phänomene aufzuzeigen. Eine solche Konstruktion erblickt Judith Butler im biologischen Geschlecht (engl. sex).
Kultur als subversive Praxis: Judith Butler
In ihrem Standardwerk Das Unbehagen der Geschlechter (1991) führt Judith Butler bekanntlich die Idee aus, dass das biologische Geschlecht (sex) der Geschlechtsidentität (gender) nicht als Ursache zugrunde liegt, sondern beide Teil einer kulturellen Konstruktion sind. In ihrem Verständnis von Geschlecht scheint das biologische Geschlecht einer natürlichen Gesetzmäßigkeit zu entspringen, ist jedoch Ergebnis diskursiver und performativer Praktiken. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist dabei das theoretisch unterbestimmt bleibende Verhältnis zwischen sex und gender, zumal sich feministische Theorien traditionell eher mit den gesellschaftlichen Mechanismen befasst haben, die Geschlechtsidentität bestimmen. Dagegen kann ein Modell vor-sprachlicher oder vor-kultureller Existenz des biologischen Geschlechts laut Butler nicht erklären, was es im Einzelnen determiniert. Sie folgert daraus, dass es der begrifflichen Bestimmung nach keinen Unterschied geben kann zwischen sex und gender bzw. Natur und Kultur. Beide seien Teil einer kulturellen Konstruktion, in der das biologische Geschlecht in einem epistemologischen Naturalisierungseffekt verschleiert ist (Butler 1990). Dazu schreibt Butler:
„Whether gender or sex is fixed or free is a function of a discourse which, it will be suggested, seeks to set certain limits to analysis or to safeguard certain tenets of humanism as presuppositional to any analysis of gender. The locus of intractability, whether in “sex” or “gender” or in the very meaning of “construction,” provides a clue to what cultural possibilities can and cannot become mobilized through any further analysis. The limits of the discursive analysis of gender presuppose and preempt the possibilities of imaginable and realizable gender configurations within culture.“ (Butler 1990:13)
Die Schranken des Diskurses legen die realisierbaren Konfigurationen der Kultur, also ihre Begriffssysteme, fest, wohingegen binäre Strukturen als universelles Gesetz oder allgemeingültige Vernunft erscheinen. Diesem Verständnis des Konstruktivismus fügt sich Ernst Cassirers oben zitiertes Diktum „aus der Kritik der Vernunft wird die Kritik der Kultur“ ein. Die normierenden Aspekte des Diskurses gilt es daher als historische, kulturell bedingte Kontingenzen offenzulegen und zu durchbrechen. Der permanente Verweis auf jene Themen, Subjekte, Phänomene und Identitäten, die ausgeschlossen sind, stellt sich als ein politisches Programm dar, das ebenso notwendig wie schwierig erscheint, da der „hegemoniale Diskurs“ des Ausgeschlossenen bedarf, um die Macht des scheinbar naturgesetzlichen binären Modells aufrecht zu erhalten.
Wie Judith Butler sich der Aufgabe stellt, in ontologischer Zeitlosigkeit fixierte Begriffssysteme subversiv zu unterlaufen, hängt zentral mit ihrer Verbindung von Performativität, Diskurs und Identität zusammen. Im Anschluss an John L. Austins Sprechakttheorie ist „Geschlechtwerdung“ ein illokutionärer Akt, in dem Handlung und Aussage zusammentreffen. Die Konstruktion überträgt Butler auf das biologische Geschlecht, die Performativität des Diskurses liegt demnach in seiner Eigenheit, hervorzubringen, was beschrieben wird. Im Übergang von der „Verabschiedung des Begriffs der Expression, des Ausdrucks, zum Begriff der Performation“ (Kämpf 2006:246) sieht Butler die unabweisbare Grundlage ihrer Theorie, die ohne Subjekt als Urheber von Handlungen und Einstellungen auskommen soll. Es sind vielmehr die symbolischen Kontexte, in die Butler ihre anti-essentialistischen Überzeugungen einbettet: Der hier ausschlaggebende Diskurs ist, wie Foucault sagt, nicht immer kontrollierbar, er verselbständigt sich mitunter und trägt auf diese Weise eine gewisse Macht in sich, die ohne Subjekt als Träger dieser Macht bleibt: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“ (Foucault 1991:11)
Die Identität wird auch im zweiten von Butler herangezogenen sprachphilosophischen Kontext aufgelöst, der Iterabilität bei Jacques Derrida. In ihr sieht Butler den Auslöser für eine kulturelle und historische Transformation, denn nur, wenn Dinge im Sinne einer Iterabilität nicht immer das Gleiche bedeuten, ist Veränderung denkbar, eröffnen sich Möglichkeiten der Verschiebung von Definitionen und Normen. Die Hervorhebung der Kontingenz von Begriffen durch die Iterabilität versteht Butler als subversive kulturelle Praxis.
Auf dieser Grundlage ist die Diagnose des von Normen geprägten Diskurses übertragbar auf andere Phänomene, die diskursiv aufgebrochen werden können, um Normierungen aufzulösen oder zumindest Alternativen einzubringen. Rose und Koller sehen gerade in diesem Ansatz „ein Potential für Bildungsprozesse […], die darin bestünden, neue Artikulationen vorläufiger und wandelbarer Identitäten hervorzubringen, die Identitätszuschreibungen durch vorherrschende Diskurse aufgreifen und dabei umdeuten, verschieben bzw. so verändern, dass sie neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen.“ (Rose, Koller 2012:93)
Andreas Reckwitz erblickt in der Theorie der Performativität Judith Butlers ebenfalls mehr, als die gender-Problematik nahelegt. Die Überlegungen zur Performanz bei Butler haben, wie seine Theorie der Singularitäten zeigt, eine ethische Relevanz, die über die Gendertheorie weit hinausgeht: „Sie laufen (…) auf einen kritisch-kulturtheoretischen Bezugsrahmen zur Analyse von Praxis und Subjektivität insgesamt hinaus.“ (Reckwitz 2000:710) Als solche gibt sie einer praxeologischen Theorie Anstöße, im Hinblick auf die in der Praxis vollzogene Subjektproduktion, die Auflösung der kontinuitätsbezogenen Identität sowie die schließlich in Gesellschaft der Singularitäten ausgeführte Verbindung von Performativität und Affektorientierung.
Insbesondere in der in jedem Moment neu erschaffenen performativen Identität von Subjekten sieht Reckwitz in einer kultursoziologischen Ausdeutung Butlers – trotz aller Unterwerfung unter einen vorsubjektiven Diskurs – die Idee eines souveränen Subjekts, das „seine eigene ‚verkörperte‘ Ausführungs- und Aufführungspraxis“ (Reckwitz 2017:711) wird. Dieser Autonomiegedanke gepaart mit ethisch und sozial entlastend wirkenden Offenlegungen subjektiven „Misslingens“ normgerechten Verhaltens oder normstiftender Erzählungen findet nahtlos Anschluss an Reckwitz‘ Diagnose einer „hyperkompetativen“ Gesellschaft.
Bei Butlers Bezügen auf einen Humanismus bleibt jedoch die Frage, wie dieser konkret ausgestaltet wird und welche Rolle die Kultur dabei überhaupt spielen kann, „wenn sie nicht in einen aufgeklärten politischen Kontext eingestellt wird.“ (Eagleton 2001:182) Darin aber liegt die eigentliche Aufgabe der Kulturtheorie und macht sie politisch und gesellschaftlich unverzichtbar. Ralf Konersmann entdeckt ähnlich wie Judith Butler in der
„spezifisch kulturphilosophische[n] Einstellung alle Chancen der hermeneutischen Bewegungsfreiheit und Blickpunktvermehrung, wie sie die Eigenart und Gegebenheitsweise des kulturellen Feldes mit sich bringt. Die kulturphilosophische Perspektive gestattet es, die lapidare Eindeutigkeitssuggestion und ‘Evidenz’ des Vorgegebenen auszusetzen, weitere Aspekte hinzuzuziehen und das ganze Spektrum der Alternativen durchzuspielen. Kultur […] ist die Bewahrung des Möglichen. Die Weite ihres Horizonts ist der Lohn der Kontingenz.“ (Konersmann 1996:354)