Streitfall: Geht Theater nur im Theater? Oder: „Die Schule als kreativer Ort – ohne Alternative?“
Impulsbeitrag auf der Tagung „Vermessung Kultureller Bildung. Streitfälle" im Panel PRAXIS: „Streitfälle – Institutionen und Zuständigkeiten"
Zugegeben: Es klingt nach „Logelei", aber: Orte sind nicht kreativ – weder die Schule noch das Theater. Menschen können kreativ sein. Orte – und damit sind hier nicht nur Bauwerke, sondern auch Institutionen gemeint – können menschliche Kreativität zulassen, herausfordern, fördern oder nötig machen. Gerade stehen die Retter eines verletzten Höhlenforschers in der „Großes-Ding-Höhle" vor einer enormen kreativen Herausforderung. Ganz anders herausgefordert werden Schüler in ihrer täglichen Selbstbehauptung in der Schule, ohne Kreativität kommen sie nicht weit.
In der kulturellen Bildung wird gerne von Freiräumen für Kreativität gesprochen, z.B. unbegrenzte oder nicht bereits verplante Zeit, leere Räume, Bühnen, nutzbare Außenflächen. Bereits in den 80er Jahren wurde das Frankfurter Theater am Turm völlig zugebaut, d.h. die freie Bühne und der Saal wurden mit Gängen und kleinen Räumen gefüllt, damals eine völlig neue, kreative Theaterform, die sich in der Enge erfüllte. Wenn die Schule metaphorisch als kreativer Ort infrage gestellt wird, dann sind der strenge Zeittakt, die Lehrpläne, enge Klassenräume mit klaren Verhaltensvorgaben und definierten Leistungsanforderungen gemeint. Doch ohne Kreativität geht hier gar nichts, aber ganz anders als in Jugendzentren oder Theatern. Während Schüler Comics auf Rückseiten von Arbeitsblättern gestalten, suchen Regisseure fieberhaft nach Bühnenlösungen, die ihr Budget nicht überschreiten. Und noch ein Aspekt: Kreativität ist nicht einmal an sich schon „gut“, wenn wir z.B. an fantasiereiches Mobbing denken.
Wie sehr Schule auch immer künstlerische Kreativität verhindern oder fördern mag, sie ist als staatliche Institution in erster Linie nicht kreativ, sondern unvermeidlich. Wer gerne darüber diskutieren möchte, dass es eine völlig andere Schule im Sinne eines total reformierten Bildungssystems geben sollte, wäre gut beraten, den Hebel nicht am schwächsten Punkt, also der kulturellen/ästhetischen Bildung anzusetzen, sondern an tragenden Pfeilern wie den differenzierten, exkludierenden Schulformen, den PISA-Fächern, dem Klassensystem, dem System der Leistungsbewertung in Noten, der Auslese durch „Sitzenbleiben“ u.a.. Die ganze Gesellschaft sollte über Bildungsreform debattieren, und zu dieser Diskussion haben wir durchaus etwas beizutragen, aber wenn es um die Kinder und Jugendlichen geht, die zur Zeit und in den nächsten Jahren unsere Schulen besuchen, dann müssen wir uns auch etwas einfallen lassen, um ihnen kurzfristig und im Rahmen des noch vorhandenen Systems kulturelle Bildung zu ermöglichen. In diesem Sinne ist Schule unvermeidlich: Für die Kinder – und für uns. Sich im Besitz der Weisheit herauszuhalten, zurückzulehnen und den eigenen Garten sauber zu halten, genügt nicht, zumindest nicht für die anderen 99,99 % der Kinder.
Wer etwa wie Anne Bamford („The WOW-Factor“, 2006) nach sehr vielen wissenschaftlichen Studien die kulturelle Bildung begründet und belegt für unerlässlich, wertvoll und vielfältig bildend hält, sollte der Unvermeidbarkeit von Schule Positives abgewinnen: Unsere Gesellschaft bekennt sich damit zunächst unabhängig von Wohnort, sozialer Herkunft, Elternmotivation u.a. individuellen Lebensbedingungen zum Recht auf Bildung, auch wenn wir von einem System weit entfernt sind, das ich für qualitativ gut und gerecht oder auch nur funktionierend halten würde. Aber es gibt das Recht auf Bildung und es wird staatlich garantiert. Weil die Pflichtschule in diesem Sinne eine unverzichtbare Einrichtung ist, hat die Gesellschaft das Recht und die Pflicht, von schulischer Bildung das Bestmögliche zu fordern, also auch kulturelle Bildung. Niemand würde es gut finden, dass Mathematik, die deutsche oder englische Sprache oder anderes nicht unterrichtet wird, nur weil keine passenden Institutionen, Lehrkräfte, kein freier Raum o.a. vorhanden ist. Das muss auch für Musik, Bildkünste, Tanz und Theater gelten – denn auch für diese Fächer gilt, dass wirklich alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von konkreten Umständen und Zufällen nur in den Schulen mit diesen künstlerisch-kulturellen Ausdrucks- und Gestaltungsformen in Kontakt kommen können, damit sie ggfs. ihre Interessen und Begabungen überhaupt entdecken und entwickeln können. Das ist mit „Teilhabe“ gemeint und in den entsprechenden UN-Konventionen (Kinderrechte, kulturelle Vielfalt), dem Grundgesetz und anderen grundlegenden Dokumenten verankert. Vom Recht jedes Kindes auf Bildung und Zugang zu Kunst und Kultur gehen u.a. auch die UNESCO - „Road Map for Arts Education“ und deren Konkretisierung in der sog. „Seoul Agenda“ aus, auf nationaler Ebene findet sich das z.B. im Bericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“.
Gleiches Recht auf Teilhabe an kultureller Bildung bedeutet nicht „Gleichheit“ im Sinne von Gleichförmigkeit oder Qualität. Weder in der formalen noch in der non-formalen Bildung. Schulen sind im Detail sehr unterschiedlich und wir wissen nicht erst seit der Hatty-Studie, dass Lernmotivation und –erfolge entscheidend von den Lehrerpersönlichkeiten und dem Kontakt zwischen der Lehrkraft und dem jeweils einzelnen Schüler abhängt. Ähnliches gilt für Qualität: Sie ist nicht einfach da, sondern muss auf der Basis von professioneller Ausbildung täglich neu erkämpft werden, egal in welchem System. Wenn es aber das System gar nicht gibt, weil z.B. der Staat sich aus seiner Verantwortung für das Bildungssystem zurückzieht, die „Ressourcen knapp werden“, etc. – dann gibt es gar keine Grundlage für einen Kampf um Chancengleichheit, -gerechtigkeit und Qualität. „Das Schulsystem ist am Ende“ – das kann man mit Antje Klinge diagnostizieren, wenn man/frau will, mit wissenschaftlicher Erkenntnis hat das nichts zu tun und schon gar nichts mit der Zeit, bis ein solches Ende vielleicht einmal kommt.
Die Bildungsforscherin Prof. Anne Bamford weist nach, dass ästhetische Bildung nicht einmal erworben wird und dann als vorhanden vorausgesetzt werden kann, sondern dass die Bildungsprozesse des Theaterspielens in jeder Entwicklungsphase eine besondere Bedeutung und Wirkung haben, also vom Kindergarten bis zum Studium regelmäßig angeboten werden müssen. Das kann grundlegend und als Basisbildung nur die Schule und im aktuellen Schulsystem nur ein Fach leisten, wie wir am Beispiel Theater schmerzhaft erfahren:
Wenn das Darstellende Spiel nicht dem Zufall überlassen werden soll, den engagierte Lehrer, beflissene Eltern oder ehrgeizige Schulleiter gelegentlich herbeiführen, dann muss es in den jeweils geltenden schulischen Strukturen verankert werden. So lange das die Schulfächer sind und so lange schulische Ressourcen, wie z.B. Lehrerversorgung, Platz in der Stundentafel, Raumangebot, Weiterbildung u.a. an Fächer gebunden werden, kann Theater erfolgreich, beständig, zuverlässig, qualitativ gut und für alle Schüler nur als Schulfach bestehen und sich in der Konkurrenz mit anderen Fächern durchsetzen. Theaterarbeit in der Schule darf nicht irgendwie fortgebildeten Lehrern anderer Fächer überlassen oder gar als Teil des Deutschunterrichts gesehen werden. Erst mit der Einsicht, dass Theater nicht die Interpretation von Literatur mit anderen Mitteln ist, konnte sich das Schultheater in den 70er Jahren vom Deutschunterricht lösen und erkennen, dass Theater als eigenständige und umfangreiche künstlerische Disziplin in der Schule fehlte und von den Fächern Musik und Kunst ebenso wenig vermittelt werden kann wie in Deutsch. Wenn in Deutsch gesungen wird, im Sport getanzt und in Physik Bilder gezeichnet werden, dann ist das sinnvoll, aber kein Unterricht in Musik, kreativem Tanz oder Bildender Kunst.
Dass Theaterarbeit ebenso wie andere Bereiche der kulturellen Bildung per se fächerübergreifend und projektorientiert ist, muss hier nicht betont werden. Die kulturelle Bildung hat also die geringsten Probleme mit Konzepten, die die Zukunft der ästhetischen Bildung in der Schule nicht in Fächern, sondern in Projekten sehen. Aber Schultheater als Noch-Nicht-Fach hat ein Problem mit dem billigen Verweis auf diese Zukunftsperspektive, mit der Bildungspolitiker seit langem gerne argumentieren, um die Einführung des Fachs DS zu verhindern, während sie bestehende Fächer stabilisieren. So lange Fächer die tragenden Pfeiler der Schule sind, ist die kulturelle Bildung am meisten bedroht, wenn Kultusminister von ihr schwärmen und empfehlen, die Freiräume in Schulen, die Nischen und die Kreativität zu nutzen anstatt auf künstlerischen Fächern zu bestehen. Aufgepasst! – wenn Kultusminister unsere Argumente übernehmen und „Nischen statt Normen!“ – „Musen (Künstler) statt Musiklehrer!“ - „Kreativität statt Kohle!“ – und neuerdings auch „Stifter statt Staat!“ fordern. Was in unserer Debatte kreativ gemeint ist, bedeutet beim Staat den Abschied aus der eigenen Verantwortung für die Bildung, vor allem für die kulturelle. Nachzulesen bei „Kinder zum Olymp“ und in den Empfehlungen der KMK zur Kulturellen Bildung vom Oktober 2013.
Auch wenn das ganze Leben lang „Bildung“ in verschiedenen Bezügen stattfindet, so bleibt die öffentliche Schule doch die Institution, die alle Menschen durchlaufen und die trotz großer Mängel die einzige Chance auf ein egalitäres und demokratisches Bildungssystem darstellt. Wer vom Staat nicht die grundlegende Reform der Schule fordert und auf die Integration der ästhetischen Bildung samt des Theaterspiels verzichtet, macht sich verdächtig, den Rückzug auf rein bildungsbürgerliche und elitäre Konzepte zu billigen. Diese Gefahr bergen die eigentlich wunderbaren Projekte wie z.B. „Kinder zum Olymp“ (Kulturstiftungen) oder „TUSCH“ (Theater und Schule), weil sie dazu tendieren, künstlerische Projekte nicht im Alltag der Schule anzusiedeln, sondern als besondere Einzelereignisse an Künstler und Kunstinstitutionen zu binden. Ein „Bündnis für Schultheater“ wäre die geeignete Maßnahme, um in der Schule eine Basis zu schaffen, auf die sich alle Akteure beziehen können: Einrichtungen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung, Amateurtheater, Theater aller Art. Wenn sie sich darauf verlassen könnten, dass in der Schule die Lust am und das Verständnis von Theater geweckt wird, hätten alle ihre begabten und interessierten Teilnehmer und Zuschauer. Musik und Sport zeigen, wie es geht, und das sogar auf der Basis einer veralteten Didaktik.
Dieses Plädoyer für kulturelle Bildung in der Schule bedeutet nicht, dass alles in Schule gelernt werden könne. Im Gegenteil: Natürlich gibt es die überragende und lebenslange informelle Bildung, die die Entwicklung von Menschen stark prägt und in der sie sich selber prägen. Die Basis, die Schule legt, bedeutet sowohl Chance als auch Beschränkung: Wer sich in irgendeiner Beziehung weiter entwickeln möchte, sich tiefer in etwas versenken möchte, seine Begabung ausbauen und seinen Interessen nachgehen will, kann das von Schule nicht erwarten, sondern braucht unbedingt non-formale Bildungsangebote. Diese müssen deswegen so vielfältig wie möglich ausgebaut und gefördert werden, aber anders als die schulische Grundbildung, die für jeden überall gewährleistet sein muss, orientieren sich Angebote und Institutionen im außerschulischen Bereich, auch in der kulturellen Bildung, an der Unterschiedlichkeit der Landschaft und der Akteure: Große Theater können nicht überall gebaut werden, hochmotivierte Musikschulleiter finden sich nicht überall, anregende Künstler mit pädagogischem Impetus kann man sich wünschen, sie müssen aber sich bereit-finden, usw..
Und noch ein anderer Aspekt muss m.E. beachtet werden – hier wieder am Beispiel des Theaters: Die Verabschiedung vom klassischen Deutschlehrer-Schultheater bedeutete auch die Lösung vom Staatstheater als alleinigem Vorbild und Orientierungsmarke. Mit dem Begriff Darstellendes Spiel wurde das aktiv Spielerische des Schauspiels betont und die theatrale Auseinandersetzung mit der Welt als Kern Darstellender Kunst benannt. Diese Fachbezeichnung entlastet das Schultheater von der Orientierung an den Stadt- und Staatstheatern und eröffnet die Möglichkeit, sich wirklich auf die Schüler als Theatermacher einzulassen, ohne sie zu Schauspielern im Kleinformat ausbilden zu müssen. Wir wissen nicht, ob das der Grund war, dass die Theater das Schulfach DS nie auch nur annähernd so stark unterstützt haben wie die Musikinstitutionen das Fach Musik. Es wird vielleicht zu wenig gesehen, dass Schultheater sich immer auch mit professionellem Theater in vielen Theaterbesuchen und -gesprächen auseinandersetzt und dass Theaterschüler später selbstverständlich zum besten und verlässlichsten Publikum gehören, das die Theater sich wünschen können.
Damit sind wir beim Thema „Qualität“: Einer der Anne-Bamford-Sätze, die in Kongressen zu hören sind, lautet: „Bad arts education is worse than no arts education“. Ein wohlfeiler Merksatz, über den man sehr gut nachdenken sollte, bevor man ihn zur Handlungsmaxime macht. Er bedeutet auch: Kulturelle Bildung ist verzichtbar! Würde das auch für schlechten Englisch- oder Matheunterricht gelten? Und implizit bedeutet dieser Satz auch, die Wirkung kultureller Bildung sei vollständig kalkulierbar. Wir wissen, dass Lernen und sich Bilden stark mit den Lernenden zu tun hat, wer in kultureller Praxis was, wieviel und wie lernt, erfährt und sich aneignet, das ist zwar planbar im Sinne von Zielen, aber in der Bildungswirkung für jeden einzelnen nicht kalkulierbar.
Was in unserer Arbeit schlecht und gut ist, halte ich noch längst nicht für ausdiskutiert und trotz Standards wird immer ein großer Bereich bleiben, in dem wir Qualität – z.B. die von theaterpädagogischer Leistung - individuell unterschiedlich einschätzen und in diverse Relationen setzen. Eins aber scheint klar, und meine Erfahrung gilt nicht nur für die Theaterpädagogik: Theaterlehrer brauchen eine Ausbildung in Darstellendem Spiel, deren Qualität auf einem didaktischen Konzept des Fachs beruht und auf überprüfbaren Standards der Lehrerbildung, die vor allem auch praktische Ausbildung voraussetzen. Nur so kann die Qualität von Schultheater nachhaltig gesichert werden und anerkannt und folgenreich in die gesamte Lern- und Schulkultur einwirken, anstatt im besten Falle exotisch zu bleiben.
Man spricht in der kulturellen Bildung dank BKJ auch mal miteinander – doch mehr übereinander – wenn überhaupt. Es gibt Publikationen der einen und der anderen, die wissen nichts voneinander. Es gibt viele Festivals, auf denen man die anderen nie sieht. Und es gibt tausendfach tägliche Praxis, über die es nicht viel mehr gibt als Vorurteile. Diese Verallgemeinerungen entsprechen meinen Beobachtungen der vergangenen 25 Jahre und ich nehme an, dass sie nicht nur für die Akteure im Bereich der Theaterpädagogik gelten, sondern für das ganze Feld der kulturellen Bildung. In meinem Bereich teilt sich die Szene in Publikationen, Veranstaltungen und Organisationen auf, innerhalb der Teilbereiche gibt es viel Kontakt, dazwischen wenig:
- Professionelles Theater als Staats- oder Kinder- und Jugendtheater und Freies Theater,
- Schultheater,
- Amateurtheater,
- Theaterpädagogen in Theatern, in Zentren oder im Freien.
Meines Erachtens brauchen wir eine diese Bereiche übergreifende Diskussion und Verständigung dringend, gerade weil einerseits alle ein relativ gefestigtes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein erarbeitet haben und weil andererseits die Sicherheit schwindet, dass unsere Existenz und Entwicklungsmöglichkeiten ad infinitum gewährleistet sind. Die Theater sorgen sich um ihr Publikum, die Theaterpädagogen um die Erschließung und Finanzierung ihrer Arbeitsfelder, das Amateurtheater um seine Anschlussfähigkeit und das Schultheater um seinen Status in der Schule „nach PISA“.