Solidarität probieren – Über den Versuch eines klassismussensiblen Modells von Vortragshonoraren

Thomas Blum, Stefanie Kiwi Menrath und Josefine Siebert im Gespräch. Die Fragen stellte Nina Stoffers als Critical Friend

Artikel-Metadaten

von Thomas Blum, Stefanie Kiwi Menrath, Josefine Siebert, Nina Stoffers

Erscheinungsjahr: 2025

Abstract

Im Rahmen der digitalen Vorlesungsreihe „Klassismus und Kulturelle Bildung“ im Jahr 2022 hat die Koordinierungsgruppe ein Modell zur solidarischen Honorierung entwickelt und angewendet. Die Gruppe kennt sich durch das gemeinsame Arbeiten im Cluster Diversität des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung.

Im nachfolgenden Gespräch erläutern Thomas Blum, Stefanie Kiwi Menrath und Josefine Siebert, wie sie sich dem Thema Klassismus in der Kulturellen und Hochschul-Bildung nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch näherten. Sie beschreiben die Motivationen für die Auseinandersetzung und die Entwicklung des Modells sowie die Erfahrungen, die sie damit im Rahmen der Vorlesungsreihe gemacht haben. Abschließend ziehen sie ein Resumee, welche Empfehlungen sie weitergeben können. Die Fragen stellte Nina Stoffers, die sich als Critical Friend der digitalen Vorlesungsreihe mit dem Thema beschäftigt hat und sich ebenfalls im Cluster Diversität engagiert.

Biografische und berufliche Positionierungen der Gesprächsteilnehmer*innen sind durch kursive Einrückungen markiert, um den Leser*innen deutlich zu machen, dass es sich um eine andere Textsorte handelt.

Was waren die Hintergründe?

NINA STOFFERS: Wir unterhalten uns heute zum Thema Solidarisches Honorar. Im Rahmen einer digitalen Vorlesungsreihe über Klassismus und Kulturelle Bildung habt ihr, Josefine, Kiwi und Thomas, gemeinsam mit Adrianna Hlukhovych ein solches ausprobiert. Ich würde gerne wissen, was ihr unter einem solidarischen Honorar versteht und wie und warum ihr auf die Idee gekommen seid, ein solidarisches Honorar-Modell auszuprobieren.

THOMAS BLUM: Wir wollten bei der Vortragsreihe gern ein möglichst faires Honorar für alle Vortragenden ermöglichen. Dafür haben wir in einem ersten Schritt versucht, eine angemessene Summe an Geld einzuwerben, die wir für die Honorare zur Verfügung stellen konnten. Das Besondere an unserem Herangehen war der zweite Schritt, in dem wir auf die Verteilung dieser Summe geschaut haben. Wir haben diese nicht gleich unter den Referierenden aufgeteilt, sondern unsere Idee war, dass diejenigen, die weniger Bedarf haben, weniger Honorar erhalten und diejenigen, die einen größeren Bedarf an Honorar haben, mehr Honorar bekommen.

Warum haben wir ein solches Modell ausprobieren wollen? 

Der Hintergrund hierfür liegt in der sozialen Ungleichheit in Deutschland, auf die wir reagieren wollten. Vermögen und Einkommen sind in Deutschland sehr unterschiedlich verteilt und das hat noch immer und derzeit sogar wieder vermehrt damit zu tun, in welche soziale „Gruppe“ man hineingeboren wird. In Deutschland ist die soziale Herkunft einer Person statistisch weiterhin das mit Abstand wichtigste Kriterium dafür, wie viel Vermögen diese Person hat (vgl. Statistisches Bundesamt 2024). Auch die Einkommen sind stark mit der sozialen Herkunft verbunden und ebenso das, was der Soziologe Pierre Bourdieu das soziale Kapital genannt hat, also zum Beispiel Netzwerke und Kontakte, die mich in meiner beruflichen Laufbahn unterstützen. Die ungleichen Möglichkeiten von Menschen etwa in den Bereichen Bildung, Arbeit oder Wohnen je nach ihrer Klassenherkunft und Klassenzugehörigkeit werden in den Sozialwissenschaften als Klassismus oder klassistische Diskriminierung beschrieben. Klassistische Diskriminierung ist dabei, wie beispielsweise die Autorin bell hooks schon früh zeigte, eng verbunden mit weiteren gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen wie Rassismus, Ableismus, Heteronormativität und Sexismus.

STEFANIE KIWI MENRATH: Die Felder Wissenschaft und Kunst, in denen wir uns mit dieser Reihe bewegen, sind zwei Felder, in denen Menschen in sehr unterschiedlichen Situationen arbeiten. Manche haben eine lebenslange Professur mit Verbeamtung und andere arbeiten in prekären Verhältnissen, zum Beispiel mit freiberuflichen Lehraufträgen oder als freie Künstler*innen und Vermittler*innen. Diese Menschen bringen sehr unterschiedliche Bedarfe an Honorar mit und eine Vortragsreihe sollte die unterschiedlichen Positioniertheiten berücksichtigen. Wir wollten innerhalb der Vortragenden eine solidarische Umverteilung ermöglichen.

Ich zum Beispiel arbeite an der Uni mittlerweile auf einer festen Professur und habe mehr finanzielle Sicherheit als viele andere, die bei der Vortragsreihe mitgemacht haben. Ich bin selbst Erstakademikerin und habe biografisch durchaus Klassismus-Erfahrungen gemacht. Insofern berühren mich die Themen oder haben mich existenziell lange berührt. Als privilegierte Professorin spüre ich jetzt umso mehr die Verantwortung eine Veränderung anzustoßen.

JOSEFINE SIEBERT: Wir wollten im Rahmen der Vorlesungsreihe nicht nur inhaltlich, sondern auch auf organisatorischer Ebene klassismussensibel handeln. Wir hatten recht früh die ersten Ideen zu einer klassismussensiblen Bezahlung und sind dann in die Recherche nach bereits vorhandenen Modellen gegangen. Wir wussten zwar noch nicht so genau wie wir vorgehen, da es nicht viele Methoden oder Informationen dazu gab, aber haben uns entschieden, genau das transparent zu kommunizieren. Die Hoffnung war, dass sich die Referierenden mit uns in einen Prozess begeben. Auch weil wir nicht wussten, ob und wie das Konzept am Ende aufgeht, war uns diese Transparenz sehr wichtig.

Ich bin bei einer alleinerziehenden Mutter mit meinem Bruder im südöstlichsten Zipfel von Sachsen aufgewachsen, mit nicht so viel Geld, aber einer großen Liebe zu Büchern und habe den zweiten Bildungsweg hinter mir: Realschule, Fachoberschule, dann Studium und aktuell eine befristete Promotionsstelle an der Uni. Ich habe bisher die Erfahrung gemacht, für wenig Geld viel zur arbeiten und bin irgendwie davon ausgegangen, dass das „normal“ ist, weil es allen Menschen in meinem Umfeld so geht. Durch die Auseinandersetzung mit Klassismuskritik habe ich begonnen zu verstehen, dass es nicht „normal“ und schon gar nicht in Ordnung, sondern eine Schieflage ist. Diese sichtbar zu machen und Veränderungen zu beginnen, indem wir mit einer anderen Form der Bezahlung arbeiten, ist für mich sehr wichtig. 

NINA STOFFERS: Da ich im Rahmen dieses Gesprächs nicht nur Fragen stelle, sondern mich auch inhaltlich involvieren möchte, will auch ich einen persönlichen Einblick und eine Positionierung zum Thema geben. 

Ich komme aus einem klassisch bildungsbürgerlichen Haushalt, wobei es in einem Teil der Familiengeschichte Phasen der materiellen Armut und des sozialen Abstiegs gab, von denen drei Generationen betroffen waren. Das habe ich zwar nicht selbst erlebt, aber meine Erziehung war davon geprägt. Das Familiennarrativ hat aufgrund dessen den Wert von Bildung und die darauf aufbauende Möglichkeit der Erlangung finanzieller Unabhängigkeit betont. In meiner Jugend bin ich durch die Trennung meiner Eltern zwischen Einfamilienhaus und Hochhausblock groß geworden und das hat mich einmal mehr sensibilisiert, dass Unterschiede und (soziale) Zuschreibungen gemacht werden, z.B. durch die Wohnadresse und die finanziellen Möglichkeiten der Elternteile.  

Ich finde es bemerkenswert, dass es kaum erprobte Modelle gibt, die auf die bestehende Ungleichheit reagieren. In letzter Zeit nehme ich zunehmend wahr, dass „neue“ Ansätze entwickelt werden, aber angesichts der weit verbreiteten Ungleichheit bleibt es eine Tatsache, dass es wenig groß angelegte Modelle gibt, die eine breite Aufmerksamkeit erlangt haben. Es erscheint mir absurd, dass wir über ausreichend Daten verfügen, aber diese nicht in konkrete Lösungen umsetzen. Deshalb sehe ich es als unsere Verantwortung an, dass wir mit diesen Informationen arbeiten und sie nutzen, wo wir den Gestaltungsspielraum dafür haben.

Als Geschäftsführerin der Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Sachsen habe ich an verschiedenen Punkten die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen: Wir überlegen zum Beispiel, wie können die Gebühren für unsere Bildungsangebote für die Teilnehmenden so niedrig wie möglich oder kostenlos angeboten werden? Oder wo ist eine Staffelung sinnvoller, weil es eine Art Solidarmodell ist und die „Gießkannenmethode“ ökonomische Ungerechtigkeiten weiter verfestigt? Oder: Wer erfährt von unseren Angeboten, welche Netzwerke haben wir, d.h. wen erreichen wir, wen erreichen wir nicht? Auch Fragen wie: Wer wird für eine Jury oder einen Beirat angefragt, d.h. nach welchen Kriterien wird jemand ausgewählt, der*die über Zugänge entscheidet, spielen eine Rolle. Denn diese Punkte betreffen Fragen nach Chancen- und Zugangsgerechtigkeit und sind damit eine Form des sogenannten „Gatekeeping“ – ein Begriff, der verbildlicht aufzeigt, dass der Zugang für jemanden oder für bestimmte Gruppen aufgrund von Kriterien wie sozialen, ökonomischen oder kulturellen Unterschieden (ggf. unbewusst) erleichtert oder beschwert wird. Diese Fragen sind zentral für die kulturelle Teilhabe – und gerade deshalb ist es meine Verantwortung in einer Position, die mit Gestaltungsspielraum und Entscheidungsmacht ausgestattet ist, diese Fragen zu stellen und strukturell Veränderungen anzugehen. Doch zurück zu eurem Vorgehen für das Modell: 

Wie seid ihr konkret vorgegangen? 

JOSEFINE SIEBERT: Prozesshaft. Wir haben besprochen, wo wir als Veranstalter*innen hinwollen und den Referierenden unser Ziel beschrieben; auch dass wir in dem Moment noch nicht sagen können, wie wir das solidarische Honorar umsetzen werden. Vor allem haben wir alle Referierenden gefragt, ob sie diesen Weg mitgehen wollen. Dann haben wir einen Reader als Handreichung  zusammengestellt, in dem wir Informationen zur Selbsteinschätzung gesammelt und den Referierenden geschickt haben. Nachdem alle zugesagt hatten, haben wir das Rechenmodell entwickelt.

STEFANIE KIWI MENRATH: Wir wollten einen Rahmen schaffen, damit die eingeladenen Referent*innen untereinander solidarisch sein können. Einbezogen wurde dabei, dass es unterschiedliche Arbeitsverhältnisse und unterschiedliche ökonomische Hintergründe, aber möglicherweise auch Unterschiede im sozialen und kulturellen Kapital bei den Referent*innen gibt. Die Handreichung sollte helfen, diese Themen transparent und besprechbar zu machen. Es gibt immer noch sehr viel Zurückhaltung, wenn es ums Sprechen über Geld und Gehälter geht, gerade in Deutschland. Die Handreichung sollte die Referent*innen darin unterstützen, ihre Position zu reflektieren und so eine Honorarforderung benennen zu können. Diese Honorarwünsche mussten natürlich nicht begründet werden. Wichtig war uns auch das Prinzip der Anonymität, dass also weder Name noch Summe unter den Referent*innen bekannt wurden. Allerdings gab es letztlich viele Personen, die ihre Honorarwünsche begründet haben. Dieser moralische Druck ist immer noch da. Wenn wir mehr Übung mit solchen Modellen hätten, dann hätten wir vielleicht auch nicht mehr diesen Rechtfertigungsdruck, sondern würden unsere Honoraransprüche einfach als Ergebnis einer nüchternen politischen Analyse betrachten.

NINA STOFFERS: Üblicherweise ist es so, dass bei einer Ermäßigung nachgewiesen werden muss, dass die Person berechtigt bzw. bedürftig ist. Das kann als Versuch einer gerechteren Verteilung verstanden werden – allerdings funktioniert dieses Modell häufig nicht, sondern schafft neue Probleme, etwa, dass viele Menschen es als demütigend empfinden, die Bedürftigkeit nachzuweisen. Sind euch andere Modelle der solidarischen Vergütung bekannt, auf die ihr für euer Modell Bezug genommen bzw. die ihr als Anregung oder Vorbilder genommen habt?

THOMAS BLUM: Ja, zum Beispiel die taz, die Tageszeitung, die hat drei verschiedene Abo-Modelle. Man kann einen höheren Betrag im Monat bezahlen, das ist dann das sogenannte solidarische Abo. Es gibt ein Abo, was im Prinzip das „normale“ Abo wäre und es gibt ein vergünstigtes Abo. Wir haben unser Modell auch mit Abstufungen strukturiert, nur nicht mit der Frage: „Wie viel musst du bezahlen?“, sondern mit der Frage „Wie viel willst du verdienen?“

KIWI MENRATH: Eine Inspiration findet sich auf jeden Fall auch in der feministischen, aktivistischen Geschichte der Klassismuskritik: das Umverteilungskonto einer Prolo-Lesbengruppe (die Selbstbezeichnung „Prolo“ als Aneignung der abwertenden Fremdbezeichnung „Proll“). Martina Witte (2013) hat davon berichtet, dass eine Gruppe aus der linksautonomen, feministischen Szene in Berlin in den 1990er Jahren dieses anonyme Umverteilungskonto betrieben hat, bei dem vermögendere Menschen aus der Community Geld einzahlen und andere Menschen anonym Geld abheben konnten. Das Konto war eine praktische Konsequenz aus den Diskussionen über die Klassenunterschiede auch in der Frauen/Lesben-Bewegung.

JOSEFINE SIEBERT: Da unser Budget begrenzt war, haben wir nach einer Lösung gesucht, wie wir mit festem Budget Spielraum in den Honoraren finden können. Dafür haben wir uns angeschaut, was (im Jahr 2022) in Unikontexten im kulturellen Bereich üblicherweise für einen Panelbeitrag und für einen Einzelvortrag gezahlt wurde. Das waren für den Panelbeitrag 200 Euro und für den Einzelvortrag 300 Euro. Diese Zahlen haben wir als Mittelwerte genommen, auf Solidarität gehofft und den Referent*innen folgende Höchstsummen kommuniziert: Bitte geben Sie einen Betrag von 0 – 300 Euro für einen Panelbeitrag und 0 – 400 Euro für einen Einzelbetrag an. Und diese Rechnung ist aufgegangen – viele haben auf Honorar verzichtet und so anderen die Höchstsummen ermöglicht! Und es ist sogar noch ein wenig Geld übrig geblieben, das wir auch noch verteilt haben. Ich gebe ein Beispiel: Eine Person hat für einen Panelbeitrag 300 Euro als Bedarf gemeldet und dieses gewünschte Honorar erhalten. Das entspricht einem Mehrbedarf von 50% im Vergleich zum Mittelwert von 200 Euro. Unter den Personen, die Mehrbedarf angemeldet hatten, haben wir das übriggebliebene Geld dann auch noch in Anteilen aufgeteilt.

STEFANIE KIWI MENRATH: Im Ergebnis konnten alle ihre gewünschten Summen (bzw. sogar noch mehr) erhalten. Dadurch, dass viele auf Honorar bzw. auf Anteile von Honorar verzichtet haben, konnten alle, die sich mehr gewünscht haben, als wir im Mittelwert vorgesehen hatten, die gewünschte Summe (oder mehr) erhalten.

THOMAS BLUM: Für die Vortragenden, die weniger Honorar haben wollten als das Mittel, hieß das, sie wussten nicht, mit wem konkret sie solidarisch sind. Der Philosoph Hans Jonas hat in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ den Begriff der „Fernstenliebe“ dem Begriff der Nächstenliebe entgegengestellt. Ein Konzept der Zuwendung zu jenen, die mir fern sind, die ich nicht kenne. Zu jemandem, die vielleicht auf der anderen Seite der Welt wohnt und vom Klimawandel anders betroffen ist als ich. Oder zu jemandem, der aus einem ganz anderen Milieu kommt als ich und ganz andere Orte aufsucht und mir, obwohl wir vielleicht nur ein oder zwei Kilometer voneinander entfernt wohnen, niemals begegnen wird.

Eine solche Solidarität mit dem Unbekannten ist eine große Herausforderung. Eigentlich auf einen Teil seines Honorars solidarisch verzichten zu wollen, aber dann nicht zu wissen, mit wem und für wen man jetzt auf Honorar verzichtet. Vielleicht „cheatet“ die andere Person ja oder braucht es gar nicht dringender als man selbst, sondern hat nur andere Ansprüche. Das war, wie sich in manchen Gesprächen herausstellte, für einige herausfordernd.

Welche Herausforderungen gab es?

NINA STOFFERS: Du sprichst die Herausforderungen an – welche gab es in dem Prozess? Welche Punkte sind wichtig, wenn ich das Modell ausprobieren möchte?

STEFANIE KIWI MENRATH: Eine ungelöste Frage ist: Verteilen wir nur an Menschen, die auch ein Bedürfnis artikulieren und einfordern? Das ist eine von den grundsätzlichen Herausforderungen solcher Umverteilungsmodelle: Dass Menschen sich unterschiedlich selbst einschätzen, je nach Erfahrungen, Positionen, biografischen Erfahrungen, ökonomischer Position; dass sie mehr oder weniger geneigt oder erfahren darin sind, Forderungen auch wirklich zu artikulieren oder sich doch eher zurückzunehmen. Bei dieser Selbsteinschätzung gibt es intersektionale Verflechtungen und auch wir haben keine endgültige Lösung: einerseits geht es darum, zu einer ehrlichen Selbstreflexion zu kommen, was die Honorar-Bedürfnisse angeht, und andererseits darum, intersektional zu reflektieren, wer solche Bedürfnisse aufgrund welcher Erfahrungen bzw. Sozialisation auch als Ansprüche einfordert bzw. wie wir ermutigen können, diese habituellen Muster auch zu überschreiten.

THOMAS BLUM: Das ist ein total spannender Punkt. Es gibt in Deutschland schon seit einigen Jahrzehnten Versuche von gemeinsamen Ökonomien. Zum Beispiel in Kommunen oder Gemeinschaftsprojekten wie in Niederkaufungen bei Kassel, in denen viele Menschen zusammenleben und was sie verdienen auf ein Konto überweisen. Und dann haben alle den gleichen Zugriff auf dieses Konto und nutzen es für ihre alltäglichen Ausgaben. Interessanterweise zeigen Studien, dass dieses Modell nicht für diejenigen am schwierigsten ist, die mehr einzahlen, als sie sich nehmen, sondern häufig umgekehrt für diejenigen, die mehr nehmen, als sie einzahlen. Im Kontext der Ringvorlesung haben wir bemerkt, dass es unglaublich schwierig ist zu sagen: „Es ist okay, dass ich als jemand, der sich sein Studium selbst finanzieren musste, der zuhause keine Unterstützung bekommen hat und der gerade noch dabei ist, Bafög und Bildungskredit abzubezahlen, jetzt bei diesem Panel 100 Euro mehr bekomme als eine andere Person, die diese finanziellen Hürden nicht hat, aber genauso kompetent ist wie ich.“ Das hat auch etwas mit einer dominanten Vorstellung einer Leistungsgesellschaft zu tun, in der unterschiedliche Startpositionen ignoriert werden.

NINA STOFFERS: Damit geht es um Fragen nach Leistung, Vergütung und Gerechtigkeit. Es werden zahlreiche Aspekte angesprochen, die letztlich auf das ökonomische Kapital hinauslaufen. Das soziale Kapital spielt aber ebenfalls eine Rolle und muss Teil der Debatten um Ungleichheit und Ungerechtigkeit sein, da das Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ oft nicht angewendet wird.

THOMAS BLUM: Häufig wird von einer sogenannten Leistungsgesellschaft gesprochen. Diese Beschreibung ist jedoch für unsere Gesellschaft aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive nicht angemessen.

Ich bin als weiß positionierter Junge in einem westdeutschen Vorort mit meiner alleinerziehenden Mutter und meiner Schwester in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus aufgewachsen. Meine Mutter kommt aus einem kleinen Dorf auf dem Land und hat nach der achten Klasse auf der Volksschule eine Lehre gemacht und dann mit 16 Jahren begonnen zu arbeiten. Wir hatten recht wenig Geld, fuhren nicht wie andere Kinder von meiner Schule in den Urlaub, hatten aber auch nie Hunger und konnten meines Wissens auch alle benötigten Schulmaterialien finanzieren. Am Ende der Grundschule habe ich von der Klassenlehrerin eine Empfehlung für die Hauptschule erhalten. Ich war im Unterricht immer problemlos mitgekommen. Im Nachhinein führe ich diese Empfehlung darauf zurück, dass diese Lehrerin sich damals nicht vorstellen konnte, dass „jemand wie ich“ auf eine andere Schule als eine Hauptschule gehen könnte. Durch eine Intervention meiner Mutter ging ich trotzdem auf das Gymnasium, studierte und promovierte später. Es waren jedoch nicht meine guten Leistungen in der Schule, die mir den Schritt auf das Gymnasium ermöglicht haben, sondern die Unterstützung und das Engagement meiner Mutter.

Im Jahr 2024 lebte in Deutschland etwa ein Fünftel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze, darunter etwa 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche. Gleichzeitig besitzen derzeit FÜNF Menschen mehr Vermögen, als die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen, also mehr als 40 Millionen Menschen (vgl. Statistisches Bundesamt 2024). Diese enorme soziale Ungleichheit in Deutschland lässt sich über ungleiche Leistung nicht erklären. Der Soziologe Ulrich Bröckling (2007) betont, dass wir nicht in einer Leistungsgesellschaft leben, wie das häufig vermittelt wird, sondern in einer Wettbewerbsgesellschaft. Eine Leistungsgesellschaft wäre eine Gesellschaft, in der Menschen, die viel leisten auch entsprechend entlohnt und anerkannt werden würden. Dies würde idealerweise nicht nur die berufliche Leistung betreffen, sondern auch die Leistung im Bereich der Fürsorge für Kinder, im Haushalt, in der Pflege. Eine Wettbewerbsgesellschaft hingegen funktioniert so, dass die Menschen im Wettbewerb zueinander stehen und hier Menschen, die qua Herkunft einen Vorteil haben, beispielsweise durch ein Erbe und durch Netzwerke, auch dann oft besser gestellt sind, wenn sie weniger talentiert sind und weniger leisten als andere. Anders als eine Leistungsgesellschaft ist eine Wettbewerbsgesellschaft außerdem eine, in der es immer Verlierer geben muss, denn nur so funktioniert Wettbewerb.

NINA STOFFERS: Ihr habt euch inhaltlich auf verschiedene Weise mit dem komplexen Thema beschäftigt. Ihr habt ein Modell entwickelt und es ausprobiert. Seid ihr während des gesamten Prozesses immer wieder auf diese Punkte gestoßen? Oder habt ihr, nachdem der Rechenweg festgelegt und Rückmeldungen eingegangen waren, einfach weitergemacht? Ich würde gerne wissen, ob es fortlaufend Diskussionen gab? Bis zum Schluss blieben sicherlich auch Zweifel und Unsicherheiten. Gab es noch andere Aspekte oder Herausforderungen, die bisher nicht zur Sprache kamen?

JOSEFINE SIEBERT: Wir sind während des Entwicklungsprozesses immer wieder in den Austausch mit den Referierenden gegangen und haben Rückmeldungen bekommen. Diese betrafen nicht nur ihre Eindrücke, sondern auch konkret unsere Ideen. Es gab konstruktive Kritik, insbesondere in Bezug auf die Frage, wie wir Transparenz schaffen und Solidarität zeigen können. Wir haben im Laufe des Prozesses erkannt, dass wir transparent machen müssen, wer wir sind, wie wir organisiert und wie auch wir selbst als Veranstaltende finanziert sind. Das war für uns ein zentraler Lernpunkt, da solche Veranstaltungsreihen häufig so organisiert werden, dass die finanzielle Struktur auf organisatorischer Ebene nicht immer transparent ist. Auch die Frage, wer bei dem solidarischen Honorar mit wem solidarisch ist, also die Referierenden untereinander, ist von uns zu Beginn nicht so klar beantwortet worden. Unser Konzept konnte vor allem auch durch den Austausch mit den Referierenden wachsen.

Eine Herausforderung war der organisatorische Aspekt, dass wir zunächst auf alle Zusagen der Referierenden – nicht nur für den angefragten inhaltlichen Part, sondern auch für diesen Honorarfindungsprozess – warten mussten, bevor wir den nächsten Schritt gehen konnten. In der Zwischenzeit gab es Absagen und Zusagen, was die Planung erschwerte. Wir mussten den gesamten Prozess so lange offenhalten, bis wir alle Selbsteinschätzungen der Referierenden erhalten hatten. Dies erforderte einen höheren Kommunikationsaufwand als erwartet – sowohl nach außen, mit den Referierenden, als auch innerhalb unseres Teams. Die ständigen Abfragen und Abstimmungen waren zwar anstrengend, aber diese intensive Arbeit war auch produktiv, weil wir so flexibel bleiben und Neues ausprobieren konnten.

STEFANIE KIWI MENRATH: Idealerweise sollte sich die inhaltliche Planung nicht mit der Finanzplanung zeitlich überschneiden. Die Referent*innen müssen alle bestätigt sein und ihre Honorar-Bedürfnisse angemeldet haben, bevor man mit der Umverteilung beginnt. Aber das braucht sehr viel Zeit, und die haben wir an der Universität nicht, die immer stärker neoliberal umstrukturiert wird. Es stellt sich die Frage, was wir innerhalb dieser Struktur überhaupt bewirken können. Es gibt Einschränkungen, wie etwa eine Gesamthöhe der Honorarsumme, auf die wir erstmal keinen Einfluss hatten. Aber uns war es auch wichtig, nicht nur Honorare für die Referierenden einzuwerben, sondern – in einem späteren Schritt – auch Gelder für die Textproduktion bereitzustellen. In der akademischen Welt ist es üblich, dass Textproduktion nicht entlohnt wird – und das geht natürlich an vielen Arbeitsrealitäten vorbei, die mit Stundenhonoraren arbeiten oder Schreibzeiten nicht als Arbeitszeit in einer Festanstellung unterbringen.

THOMAS BLUM: Ich erinnere mich an eine ausführliche Rückmeldung, die wir erhalten haben zu diesem Spannungsverhältnis, in dem wir uns bewegen. Die Kritik war, dass die Veranstaltung die beteiligten Institutionen – in unserem Fall zwei Hochschulen und das Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung – unterstützt, sich symbolisch zu inszenieren. Denn auch eine kritische Veranstaltung stützt das Gefüge selbst, wenn sie innerhalb dieser Strukturen stattfindet. Insofern war die Kritik berechtigt, da wir durch unsere Entscheidung, die Veranstaltung in diesem institutionellen Kontext abzuhalten, auch eine stabilisierende Funktion für diese Strukturen übernommen haben. Offen ist, ob die Alternative, ohne institutionelle Förderung zu arbeiten, für die Vortragenden attraktiver gewesen wäre. Es ist leider nicht meine Erfahrung, dass Vortragsreihen, die nicht institutionell gefördert sind, ein besseres Honorar bieten können – und ein gutes Honorar zu zahlen war uns wichtig. Dennoch – ich finde, es ist auch ein Preis, den wir zahlen, wenn wir uns im institutionellen Kontext verorten und damit potenziell dazu beitragen, dass Institutionen, die auf struktureller Ebene nicht klassismuskritisch aufgestellt sind, potenziell stabilisiert werden.

JOSEFINE SIEBERT: Wir haben die Universitäten immer als Finanzierungsquelle genannt, aber wir sind in meiner Wahrnehmung stark als Cluster-Gruppe aufgetreten, nicht als Vertreter*innen der Institutionen, die das Geld bereitgestellt haben. Ich habe die Veranstaltungsreihe in ihrer Wirkung nach außen eher als eine gemeinschaftliche Initiative wahrgenommen, die von uns als Cluster getragen wird.

Wie lauten Eure Schlussfolgerungen?

NINA STOFFERS: Könnt ihr das von euch entwickelte Modell weiterempfehlen?

THOMAS BLUM: Ja, ich finde es gut. Natürlich sind wir in zehn Jahren klüger, wenn wir das Modell mehrmals angewendet haben und auf neue Herausforderungen gestoßen sind. Wir könnten dann noch gezielter auf bestimmte Aspekte wie die Selbsteinschätzung eingehen und es auch theoretisch besser einordnen, dass es um eine Solidarität mit unbekannten Menschen geht. Das Thema „Selbsteinschätzung“ war in diesem Prozess wirklich eine Herausforderung, und ich denke, es wäre hilfreich, dieses Thema klarer im Vorhinein mit den Referierenden zu fokussieren.

STEFANIE KIWI MENRATH: Ich finde das Modell ebenfalls gut, aber es braucht viel Zeit und eine detailliertere Planung. So wie Thomas denke ich auch, dass die Selbsteinschätzung stärker thematisiert werden sollte, z.B. in einer Handreichung, die intersektionale Verstrickungen problematisiert und auf habituelle Muster hinweist. Es ist klar, dass solche Prozesse mehr Kommunikation erfordern als Veranstaltungsreihen, die den üblichen Weg der Honorarverteilung gehen. Dabei müssen wir einerseits Möglichkeiten finden, anonym Umverteilungsansprüche zu formulieren und andererseits auch insgesamt sehr viel mehr über Geld und soziale Ungleichheiten sprechen, um das Thema aus der Scham heraus zu heben.

JOSEFINE SIEBERT: Ich würde zusätzlich zu der Selbsteinschätzung auch die Frage der Solidarität von Anfang an stärker einbeziehen. Auf organisatorischer Ebene braucht es auch eine faire Verteilung der Mehrarbeit, die durch dieses Honorar-Modell anfällt. Am besten wäre es von Beginn an eine detaillierte Liste mit Ressourcen und Aufgaben anzufertigen, um sicherzustellen, dass alle wissen, wer in der Projektgruppe für was verantwortlich ist. Noch ein Punkt gehört für mich dazu: Ideal wäre es, gar keinen maximalen Betrag zu haben, sondern diese den Bedürfnissen der Referierenden entsprechend anpassen zu können.

STEFANIE KIWI MENRATH: Ja, und wenn wir mit einer solchen offenen Summe in eine institutionelle Diskussion gehen, könnten wir auch zeigen, wie groß die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen und den realen Budgets ist. Dies könnte auch als Vorschlag wahrgenommen werden, die Organisation Universität diskriminierungskritisch weiterzuentwickeln.

THOMAS BLUM: Ich finde es auch wichtig, dass wir innerhalb unseres Teams die finanziellen Bedürfnisse und unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigt und finanziell reagiert haben. Diese Reflexion auch über die eigenen Bedingungen sollte in solchen Prozessen immer mitgedacht werden.

NINA STOFFERS: Ich danke euch sehr für diesen Einblick in eure Erfahrungen mit dem Modell und in eure Reflexion des gemeinsamen Prozesses. Ihr habt viel über die guten Erfahrungen mit dem Modell gesprochen und auch darüber, was ihr ändern würdet. Es scheint mir, als liege ein wichtiger Lernprozess darin, sich selbst und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen transparent einzubeziehen. Das Modell funktioniert nicht als One-Fits-All-Lösung, sondern muss stetig weiterentwickelt und an die jeweiligen Institutionen und Bedingungen angepasst werden. Dann kann daraus eine reale Veränderung bewirkt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Verwendete Literatur

  • Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA.
  • Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • hooks, bell (2021): Die Bedeutung von Klasse. Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind. Münster: UNRAST.
  • Jonas, Hans (2020): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Seeck, Francis (2024): Klassismus überwinden. Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft. Münster: UNRAST.
  • Statistisches Bundesamt (2024): Sozialbericht 2024 - Ein Datenreport für Deutschland. Online unter: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/sozialbericht-artikel.html (letzter Zugriff am 24.06.2025).
  • Witte, Martina (2013):  Klassismuskritik und gelebte Umverteilung. Die Geschichte einer Berliner Prolo-Lesbengruppe. In: Rudolf, Christine / Heide, Doreen / Lemmle, Julia / Roßhart, Julia/Vetter, Andrea (Hg.): Schneewittchen rechnet ab. Feministische Ökonomie für anderes Leben, Arbeiten und Produzieren (S. 82-90). VSA: Verlag Hamburg. Online unter: https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Rudolf_ua_Schneewittchen.pdf (letzter Zugriff am 24.06.2025).

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Thomas Blum, Stefanie Kiwi Menrath, Josefine Siebert, Nina Stoffers (2025): Solidarität probieren – Über den Versuch eines klassismussensiblen Modells von Vortragshonoraren. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/solidaritaet-probieren-ueber-den-versuch-eines-klassismussensiblen-modells (letzter Zugriff am 12.07.2025).

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