Schule und Theater
Schule und Theater – ein begrifflicher und inhaltlicher Bestimmungsversuch
Die Begriffe, die den schulischen Bereich „Theater“ beschreiben, sind vielfältig: Schultheater, Theater (in der Schule), Darstellendes Spiel, Darstellen und Gestalten, Schulspiel usw. Genauso vielfältig erscheinen die Organisationsformen dieses schulischen Feldes: Theater gibt es als Wahlpflichtfach, als Wahlfach, als Arbeitsgemeinschaft, in Form von Klassenprojekten oder auch in der Gestalt von klassenübergreifenden Projekten. Auf einer anderen Ebene findet Theater darüber hinaus in der methodischen Form des szenischen Lernens Eingang in den schulischen Unterricht. Der genaue Status des Theaters in der Schule ist allerdings von Schulart zu Schulart und von Bundesland zu Bundesland höchst unterschiedlich.
Die schultheatralen Aktivitäten finden sowohl in regulären Unterrichtsstrukturen, als auch in intensiven Arbeits- und Probenblöcken jenseits der regulären Unterrichtszeiten statt. Zumeist sind die betreuenden Personen LehrerInnen, die traditionellerweise den Titel „Spielleiter“, in neuester Zeit auch die Bezeichnung „Theaterlehrer“ – ein Begriff der die gleichberechtigte fachliche Relevanz des Theaters neben Musik und Kunst in der Schule betont bzw. betonen soll – tragen. Daneben ist eine Bedeutungszunahme von Kooperationen zwischen Schulen und Theatern bzw. KünstlerInnen zu verzeichnen, die dazu führt, dass vermehrt außerschulische Theaterprofis wie Theater- und TanzpädagogInnen, SchauspielerInnen oder RegisseurInnen in schulischen Kontexten tätig werden.
Im Kern konstituiert sich das Theater in der Schule dabei in all diesen Kontexten und Erscheinungsweisen als ein Praxisbereich, der das aktive Theaterspielen von SchülerInnen didaktisch und methodisch fokussiert. Theoretische Formen der schulischen Auseinandersetzung mit Theater kommen tendenziell ausschließlich in der gymnasialen Oberstufe vor.
Theater in der Schule kann demnach in einer allgemeinen Art und Weise verstanden werden als eine nicht berufliche Theaterform mit bzw. von Kindern oder Jugendlichen in ihrer sozialen Rolle als SchülerInnen, die im Rahmen der Grundsätze, Aufgaben und Ziele der Institution Schule stattfindet (vgl. Klepacki 2006). Dem Theater in der Schule ist damit ein spezifischer Bildungsauftrag zu Eigen.
Eigentümlich für den Status des Theaters in der Schule ist dabei, dass der Bereich einerseits über weite Strecken noch gekennzeichnet ist durch den strukturell schwierigen Status „Nicht-Fach“ und sich jedoch andererseits auszeichnet durch ein hohes Maß an pädagogischem Zuspruch. Auch wenn es momentan noch in vielerlei Hinsicht an empirischer Erforschung des Schultheaters mangelt, so sind doch die bildungs-, lern- und qualifikationstheoretischen Fundierungen des Schultheaters umfassend und von hoher Bedeutsamkeit für die Entwicklung dieses Bereiches (vgl. Klepacki/Zirfas 2009). Das Theaterspiel soll hierbei einen Raum bieten, in dem sich SchülerInnen ästhetisch bilden können und dadurch aber auch nützliche Kompetenzen erwerben, die sie im regulären Schulalltag nicht oder nicht in dieser Art und Weise bzw. nicht in dieser Intensität erwerben könnten. Ästhetische Bildung im Medium des Theatralen und qualifikationsbezogene Lernprozesse durch das Theaterspiel sollen in diesem Kontext jedoch nicht als Gegenpole aufgefasst werden, sondern als gleichwertige pädagogische Potentiale, die aus der praktischen Auseinandersetzung der SchülerInnen mit der Kunst des Theaters resultieren (vgl. Liebau/Klepacki/Zirfas 2009).
Genau diese beiden pädagogischen Aspekte sowie die erwähnte Doppelstruktur von geringem Institutionalisierungsgrad und hohem pädagogischem „Erwartungsdruck“ spiegeln sich auch in der historischen Entwicklung des Schultheaters wider.
Die historische Entwicklung des Schultheaters in Deutschland
Sowohl in pädagogischer als auch in ästhetischer Hinsicht zeigt die Geschichte des Schultheaters einerseits, dass die historisch spezifischen pädagogischen Begründungen, Erwartungshaltungen, Zuschreibungen jeweils mit bestimmten Realisierungsformen einhergingen und dass es andererseits stets wiederkehrende Argumentationsmuster für die pädagogische Leistungsfähigkeit des Theaterspiels in der Schule gab.
Seit Ende des 15. Jh.s war zunächst die Entstehung eines humanistisch geprägten Schultheaters zuerst in lateinischer, später auch in deutscher Sprache zu beobachten. In Anlehnung an die Unterrichtsziele der humanistisch-protestantischen Gymnasien sollte das Theaterspiel vor allem die Beredsamkeit schulen und moralisch wirksam werden. Gegen Mitte des 16. Jh.s erhielt das protestantische Schulspiel seinen katholischen Gegenpol in Form des Jesuitentheaters, das sehr viel mehr als das wortzentrierte humanistische Theater in einer performativen und effektgeladenen Inszenierungs- und Spielweise emotional wirksam werden wollte.
Im 17. und 18. Jh. lässt sich insbesondere mit der Entwicklung eigener schuldramatischer Werke sowie mit der Entstehung des Kinder- und Jugendschauspiels der Aufklärung eine weitere Fokussierung der Wirkungsabsichten auf Sprachkompetenzerwerb und auf Vermittlung von Vernunft und Moral feststellen.
Nachdem das Theater in der Schule seit Ende des 18. Jh.s offenbar an Bedeutung verlor, ist seit dem Beginn des 20. Jh.s ein deutlicher Aufschwung zu verzeichnen. Im ersten Drittel des 20. Jh.s waren es im Kern die Jugendbewegung, die sogenannte Laienspielbewegung und die Reformpädagogik, die die modernen Ansätze des Schultheaters und der außerschulischen Theaterpädagogik begründeten. Stilmittel wie das chorische Spiel, die Betonung der Spielergruppe und des Spielprozesses, die Suche nach eigenen theatralen Ausdrucksmitteln und die Eröffnung von subjektiven Erfahrungsmöglichkeiten im Theaterspiel standen hierbei im Zentrum. Einen weiteren Impuls für die Entwicklungen im Schultheater gab die Lehrstücktheorie Bertolt Brechts, die reformpädagogische Ideen mit einer politischen Wirkungsabsicht verbanden.
Nachdem nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der sogenannten Musischen Bildung zunächst die individuelle Entfaltung und allgemeine Persönlichkeitsbildung im Theaterspiel stark gemacht wurden, zeigte das Schultheater der 1970er Jahre ganz zeitgemäß eine deutliche politische Tendenz, ein Interesse an Fragen der Sozialisation sowie eine Fokussierung kreativer Gruppenprozesse.
Seit den 1980er Jahren ist schließlich sowohl eine Tendenz zur Professionalisierung der SpielleiterInnen sowie zur ästhetischen und methodischen Ausdifferenzierung von Spielformen zu beobachten als auch eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Formen des zeitgenössischen Theaters zu verzeichnen. Hier ist es insbesondere der Ansatz des Postdramatischen Theaters, der seit der Jahrtausendwende mit seiner Absage an die textlich-logische Zentriertheit des Theaters und seinen Fokus auf körperlich-performative Erzeugungen emergenter ästhetischer Situationen dem Theater in der Schule vielfältige Impulse geliefert hat (vgl. Klepacki 2005).
Aktuelle fachliche Entwicklungen und Tendenzen
Darstellendes Spiel oder Theater gibt es an den ca. 37.000 allgemeinbildenden Schulen in der Bundesrepublik in höchst unterschiedlichen Formen. Seitdem die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2007 sogenannte Einheitliche Prüfungsanforderungen für das Darstellende Spiel verabschiedet hat, existiert Darstellendes Spiel/Theater in nahezu jedem Bundesland in der Sekundarstufe II als Unterrichtsfach, das hier ausschließlich von TheaterlehrerInnen unterrichtet wird. In elf Bundesländern (Stand 2012) kann ein Schüler in diesem Fach die Abiturprüfung ablegen, die anderen fünf Bundesländer werden hier folgen müssen: Laut KMK-Beschluss sollte die Abiturprüfung im Darstellenden Spiel/Theater bereits 2010 in allen Bundesländern verwirklicht sein.
In der Sekundarstufe I ist das Bild wesentlich vielfältiger. Darstellendes Spiel/Theater gibt es hier in einigen Bundesländern als Fach, das entweder als Pflichtfach in der Stundentafel in einzelnen Jahrgangsstufen verankert ist oder das alternativ zu Kunst oder Musik gewählt werden kann. In der überwiegenden Zahl der Bundesländer aber existiert Darstellendes Spiel/Theater „nur“ in der Form von frei wählbaren Arbeitsgemeinschaften, die häufig jahrgangsübergreifend, zum Teil auch im Fächerverbund mit den anderen Künsten organisiert sind (vgl. Mönch 2008).
Letzteres gilt auch für die Primarstufe. In dieser Stufe wird sehr viel Schultheater gespielt, als Fach ist es aber in 15 Bundesländern noch nicht verankert. Es taucht hier wie in der Sekundarstufe I vor allem in der Form von Arbeitsgemeinschaften beziehungsweise freien Wahlkursen als Additivum zur Stundentafel auf, zum Teil allerdings wird auch Theater in den einzelnen Klassen im regulären Unterricht gespielt (vgl. Assies 2008). Von alldem bildet seit dem Jahr 2011 das Bundesland Hamburg die große Ausnahme: Hier ist das Fach Darstellendes Spiel/Theater regulär in allen Schulformen und in allen Jahrgangsstufen fest in der Stundentafel verankert und mit entsprechenden Curricula versehen. Es ist davon auszugehen, dass auch hier die anderen Bundesländer „nachziehen“ werden. In zahlreichen Bundesländern existieren bereits Modellversuche mit sogenannten „Theaterklassen“. Dabei werden bei Schuleintritt SchülerInnen, die einen Profilschwerpunkt auf den Theaterbereich legen wollen, in Klassen zusammengefasst, die dann zusätzlich zur „normalen“ Stundentafel zwei Unterrichtsstunden verpflichtend Theaterunterricht erhalten.
So vielfältig und unterschiedlich wie sich die Situation des Faches in den einzelnen Bundesländern darstellt, so unterschiedlich ist auch die Lage hinsichtlich der Ausbildungssituation (siehe Ulrike Hentschel „Theaterpädagogische Ausbildung“) der LehrerInnen in den einzelnen Bundesländern. Reguläre Lehramtsstudiengänge gibt es lediglich in fünf Bundesländern beziehungsweise sechs Universitäten oder Hochschulen. Zu diesen zählen die Kooperation der HBK Braunschweig, der TU Braunschweig, der HMT Hannover, der Universität Hannover und der Universität Hildesheim, die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die Universität Bayreuth, die Universität der Künste Berlin, die Hochschule für Musik und Theater Rostock und die Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. In Rheinland-Pfalz soll zudem 2012 ein neuer Ausbildungsstudiengang entstehen (genauere Darstellung vgl. Linck 2008).
In allen anderen Bundesländern sind die FachlehrerInnen für Darstellendes Spiel/Theater auf Weiterbildungsangebote angewiesen, die wiederum sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. In einigen Bundesländern schließen mehrjährige Weiterbildungen mit einem Staatsexamen im Fach Darstellendes Spiel/Theater ab. In anderen Bundesländern besteht lediglich die Möglichkeit, an Fortbildungen teilzunehmen, die zum Teil von staatlichen Institutionen, zum Teil von freien Trägern angeboten werden.
Die TheaterlehrerInnen sind in den einzelnen Bundesländern in Landesverbänden organisiert, die je nach Bundesland höchst unterschiedliche Mitgliederzahlen aufweisen. Die Landesverbände wiederum haben sich zu einem Bundesverband zusammengeschlossen, der seit dem Jahr 2009 den Namen Bundesverband Theater in Schulen (BV TS) führt. Mit ca. 3.000 Mitgliedern gilt diese Organisation als ein relativ starker Verband. Der Bundesverband fordert und fördert die deutschlandweite Etablierung des Schulfaches Theater und die Bereitstellung von Theaterangeboten für alle SchülerInnen, damit allen Kindern und Jugendlichen ein breites ästhetisches Gestaltungsrepertoire in den Darstellenden Künsten wie Theater, Tanz, Performance und Film erschlossen wird und sie ihr Verständnis von sich selbst und der Welt im Theaterspielen erforschen, deuten und reflektieren können. SchülerInnen aller Schularten und aller Jahrgangsstufen sollen so zu aktiver und kreativer Teilhabe am gesell schaftlichen und kulturellen Leben befähigt werden. An die Forderung nach einer fachlich institutionalisierten Verankerung des Unterrichtsangebotes im Bereich Darstellendes Spiel/Theater, schließt sich die Forderung nach einer grundständigen Ausbildung im Fach Theater in allen Bundesländern an. Nach Auffassung des Bundesverbandes soll verbindlicher Unterricht im Fach Theater ausschließlich – wie in allen anderen Schulfächern auch – von ausgebildeten LehrerInnen gegeben werden. Das wiederum schafft die Basis von Kooperationen aller Art mit außerschulischen Partnern beziehungsweise Institutionen.
Als Kernaufgabe sieht der Bundesverband zudem die jährliche Ausrichtung des bundesweiten Festivals „Schultheater der Länder“, das von den Kultusministerien der Länder und von der Körber-Stiftung (ab 2012 von der Stiftung Mercator) gefördert wird und inzwischen Europas größtes Schultheaterfestival ist. Es findet jedes Jahr zu einem fachbezogenen Thema in einem anderen Bundesland statt. 16 von einer Jury ausgewählte Gruppen und eine Gastgruppe aus dem europäischen Ausland präsentieren hier ihre Produktionen. Eine Fachtagung, Werkstätten, Fachforen und Aufführungsbesprechungen und -analysen erweitern das Festival. Die Zeitschrift „Fokus Schultheater“ dokumentiert jährlich die fachlichen und praktischen Ergebnisse des Festivals.
Insgesamt zeigt sich somit das Theater in der Schule als ein sehr dynamischer Bereich, der seit geraumer Zeit sowohl in bildungspolitischer als auch in methodisch-didaktischer und ästhetischer Hinsicht zugleich innovative und strukturschaffende Entwicklungen erfahren hat. Charakteristisch für diese hier dargestellten Traditionen, Perspektiven und Tendenzen ist vor allem eine im positiven Sinn andauernde wissenschaftliche Erforschung und eine fachlich-politische Reflexion und Kommunikation über das Theater in der Schule und darüber, was es ist, was es sein kann und was es zukünftig sein soll.