Schiller revisited – Theoretisch-empirische Fundierungen der ästhetischen Dimension Kultureller Bildung
Kunst Politik Bildung – Schnittmengen und Verschiebungen im wissenschaftlichen Diskurs und in der pädagogischen Praxis
Abstract
Im Rahmen des Beitrags wird unter Bezugnahme auf Schiller (1795/2000) und eigener empirischer Untersuchungen (Borg-Tiburcy 2019) die ästhetische Dimension kultureller Bildung theoretisch und empirisch (wieder stärker) fundiert und so für den Diskurs um Kulturelle Bildung fruchtbar gemacht. Dabei wird „Kulturelle Bildung“ nicht nur als Containerbegriff konturiert, sondern auch die Bedeutung seiner Funktion für politische Debatten herausgearbeitet. Unter Berücksichtig zentraler Grundgedanken Friedrich Schillers wird eine Denkfigur reaktualisiert, die danach fragt, wie der Mensch es schaffen kann, eine freie Position zu den ihn bestimmenden Verhältnissen einnehmen zu können. Und so werden anschließend empirische Ergebnisse einer qualitativen Studie zur ästhetischen Dimension kindlicher Tätigkeit dargestellt und diskutiert. Dabei kann aufgezeigt werden, wie die Kinder sich im ästhetischen Zustand frei zur Realität verhalten können, ohne dass diese verloren geht oder geleugnet wird. Die politische Dimension dieser Ergebnisse wird in diesem Zusammenhang darin gesehen, dass – sozusagen als Ergänzungsentwurf zu den Slogans der gesellschaftlichen Teilhabe – spezifische Auseinandersetzungen im Kontext Kultureller Bildung auch schon bei Kindern eine Befremdung, Distanznahme und Neubefragung (zumindest) alltäglicher Phänomene ermöglichen.
1. Einleitung
Nimmt man einen diskursanalytischen Blick ein, scheint der Begriff ‚Kulturelle Bildung‘ zu einem Containerbegriff zu verkommen; „[v]ielfach mit Erwartungen überladen und (…) in seiner Zielformulierung zu wenig präzise, um kritisiert werden zu können“ (Weiß 2017: 14). In seiner Funktion als Containerbegriff ist er insbesondere für politische Debatten von Bedeutung (Beck 1997), da so mit hohen Zustimmungen gerechnet werden kann, ohne jedoch konkrete Versprechungen geben zu müssen. Ob jedoch die Relevanz und Bedeutung Kultureller Bildung durch diese Funktion gestützt werden kann, ist fraglich. Denn unter dem Slogan der gesellschaftlichen Teilhabe wird nur ein Aspekt Kultureller Bildung thematisiert. Eine andere Dimension, welche die Kulturelle Bildung wieder näher an die Ästhetische Bildung führen würde, wäre das Moment des „Herausfallen[s] aus der Kultur“ (Weiß 2017: 17). Damit sind Prozesse der Befremdung und der Distanzierung von alltäglichen Erkennens- und Verstehensformen gemeint. Um also den Aspekt der Distanznahme stärker in den Blick zu nehmen, soll auf grundlegende Gedanken Friedrich Schillers zurückgegriffen werden, um seine Figur der realen, aktiven Bestimmbarkeit zu reaktualisieren und im Diskurs um Kulturelle Bildung wieder stärker einzubringen. Im Rahmen des Beitrags wird daher unter Bezugnahme auf Schiller (1795/2000) und eigener empirischer Untersuchungen (Borg-Tiburcy 2019) die ästhetische Dimension kultureller Bildung theoretisch und empirisch (wieder stärker) fundiert.
So wird in Punkt 2 ‚Kulturelle Bildung‘ als Containerbegriff konturiert und diese Funktion in ihrer Bedeutung für den pädagogischen Kontext und Diskurs herausgearbeitet (Weiß 2017).
In Punkt 3 wird unter Berücksichtigung zentraler Grundgedanken Schillers aus seinem Werk „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ neben der aktuell im Diskurs vorherrschenden Konzentration auf Prozesse der Ästhetischen Alphabetisierung eine Denkfigur reaktualisiert, die danach fragt, wie der Mensch es schaffen kann, eine freie Position zu den ihn bestimmenden Verhältnissen einnehmen zu können (vgl. Borg-Tiburcy 2019). Schiller verbindet auf einzigartige Weise Annahmen zur Kunst bzw. Ästhetik mit politik- und gesellschaftsverändernden Momenten. Ob dies als Utopie zu betrachten sei, wurde vielfach im Diskurs kontrovers besprochen (Fuchs/Koch 2006; Zirfas 2014). Im Rahmen des Beitrags soll es allerdings nicht darum gehen, die Widersprüchlichkeiten oder utopischen Momente des Schillerschen Bildungsmodells zu rekonstruieren, sondern zentrale Grundgedanken Schillers im Sinne einer theoretischen Sensibilisierung und Reflexion für empirische Forschungen und für den Diskurs um Kulturelle Bildung fruchtbar zu machen.
So wird in Punkt 4 anhand empirischer Ergebnisse einer qualitativen Studie zur ästhetischen Dimension kindlicher Tätigkeit aufgezeigt, wie die Kinder sich im ästhetischen Zustand frei zur Realität verhalten können, ohne dass diese verloren geht oder geleugnet wird. So lassen sich die Kinder zwar von dem bestimmen, was sie erfahren, sie greifen aber zugleich auf ihre Fähigkeit zurück, sich gegenüber diesem sowohl distanzierend, reflektierend und formgebend zu verhalten.
Das Ziel des Beitrags ist es demnach, neben einer kritischen Haltung gegenüber der Verwendung des Begriffes ‚Kulturelle Bildung‘, eine spezifische Dimension kultureller Bildung wieder stärker in den Vordergrund zu rücken.
2. Kulturelle Bildung als Containerbegriff?
Nach Fuchs und Liebau (2012) sind Begriffe wie ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘ Containerbegriffe. Kombiniert man diese, entsteht ein noch größerer Container. Mit dem Attribut ‚Container‘ werden Begriffe gekennzeichnet, die nach Weiß (2017) viele Attribute enthalten, ein Phänomen vermeintlich bestimmen, aber zugleich unbestimmt, breit und abstrakt bleiben. Damit ist nach Weiß eine erste problematische Eigenschaft von Containerbegriffen benannt: „Sie sind derartig dehnbar, dass alles unter sie fallen kann“ (ebd.: 14).
Im pädagogischen Kontext funktioniert der Containerbegriff ‚Kulturelle Bildung‘ so, dass sich verschiedene bildungspolitische Forderungen mit bildungstheoretischen Fragmenten mischen.
Im UNESCO-Leitfaden für Kulturelle Bildung heißt es beispielsweise:
„Die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts verlangen zunehmend Arbeitskräfte [sic] die kreativ, flexibel, anpassungsfähig und innovativ sind, und Bildungssysteme müssen sich auf Grund dieser wechselnden Bedingungen weiterentwickeln. Kulturelle Bildung stattet die Lernenden mit diesen Fähigkeiten aus, die es ihnen erlauben, sich auszudrücken, ihre Umgebung kritisch wahrzunehmen und aktiv an verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens teilzunehmen. Kulturelle Bildung ermöglicht es auch einem Staat die Humanressourcen hervorzubringen, die zum Erschließen seines wertvollen kulturellen Kapitals notwendig sind“ (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation 2006: 5).
Es wird deutlich, dass Kulturelle Bildung hier in den ökonomischen und gesellschaftlichen Dienst genommen wird, ihr bspw. die Funktion zugeschrieben wird, Humanressourcen hervorzubringen. Weiß interpretiert diese Art der Redeweisen vor dem Hintergrund bildungspolitischer Sparzwänge, der Debatten nach PISA und der daraufhin erneut stattfindenden Marginalisierungen künstlerischer Fächer folgendermaßen: „Damit sie [Kulturelle Bildung] nicht an den Rand gedrängt [wird], muss ihre Bedeutung gehoben (…) und ihre unverzichtbare Relevanz verdeutlicht werden“ (Weiß 2017: 15).
Dass in diesem Zusammenhang die Forderung nach evidenzbasierten Argumenten im Hinblick auf Nützlichkeit, Wirkungen, Transferleistungen und Qualität stark gemacht wird, kann im Diskurs um Kulturelle Bildung schnell ausgemacht werden.
Interessant ist, dass bereits Schiller die Legitimationsnot anspricht, wenn es darum geht zu rechtfertigen, warum es sinnvoll sein kann, sich mit Fragen der schönen Kunst auseinanderzusetzen, vor allem wenn der Nutzen „als das große Idol der Zeit“ gefeiert wird (Schiller 1795/2000: 9, 2. Brief).
Der Fokus auf Qualitätsmanagement und Wirkungsforschung wird von Weiß jedoch kritisiert und sie formuliert die Forderung, dass sich Kulturelle Bildung solchen Vereinnahmungen gegenüber widerständig zeigen sollte. Sie problematisiert, dass die „Brauchbarkeit“ Kultureller Bildung vielfach nur von einer Seite der Medaille thematisiert wird. Dass die pragmatische Seite, „in welcher Kultur als die Gestaltung des Lebens gedacht wird und Bildung gelingt, wenn man im Vorhandenen zurecht kommt“, in den Vordergrund gerückt wird und diese Seite der Kultur so „in der Gefahr steht, das Bestehende zu bejahen und in den Dienst von gesellschaftlichen Interessen gestellt wird“ (Weiß 2017: 16, 17). Der Auszug aus dem UNESCO-Leitfaden hat dies exemplarisch gezeigt.
In dem Zusammenhang wird auch deutlich, dass es, um die Bedeutung Kultureller Bildung zu betonen, vielfach um das geht, was Mollenhauer (1990) mit Ästhetischer Alphabetisierung beschrieben hat: um eine Befähigung, produktiv und rezeptiv mit symbolischen Artefakten umzugehen, um die Befähigung, an Kultur teilzuhaben.
Weiß problematisiert die Betonung dieser pragmatischen Seite, also das Hineinführen in die Kultur, da damit ihres Erachtens nur eine Dimension Kultureller Bildung angesprochen ist und diese so lediglich in ihrer gesellschaftlichen Relevanz bestimmt und somit reduziert wird (Weiß 2017).
Auch wenn kulturelle Teilhabe und Inklusion in den aktuellen Debatten als etwas selbstverständlich zu Etablierendes gelten, sollte die exkludierende Seite Ästhetischer Bildung ebenso stark gemacht werden, auch wenn in einer ersten oberflächlichen Betrachtung exklusive oder exkludierende Prozesse nicht nur als höchst unzeitgemäß, sondern auch als normativ nicht anerkannt gelten (könnten). Mit dieser zweiten, anderen Seite kultureller Bildung thematisiert Weiß ein Herausfallen aus der Kultur. Sie benennt damit Prozesse, die einen nicht befähigen teilzunehmen, „sondern die eine[m] den Boden unter den Füßen wegzieh[en] und den Abgrund der Freiheit zeig[en]“ (ebd.: 17). Damit wird auf ästhetische Erfahrungen verwiesen, die Kulturelle Bildung zu etwas Außeralltäglichem werden lässt, die Distanz schafft zum Bekannten, Vertrauten, Unbekannten und Fremden.
Die Irritation und ggfs. das Scheitern beim Versuch „den symbolischen Gehalt eines künstlerischen Artefaktes mit den gewohnten und selbstverständlichen Deutungsmustern zu verstehen, zeigt die Grenze des kulturell bestimmten Verstehens“ (ebd.). Über diese Brüche und Irritationen wird jedoch die Möglichkeit geschaffen, eine Distanz zur kulturellen Wirklichkeit herzustellen. Solche Distanzierungspraktiken und -erfahrungen lassen sich nach Weiß nur schwer oder gar nicht in Kompetenzen eingrenzen oder erfassen, Qualitätsmanagement und Wirkungsforschung stoßen hier an ihre Grenzen. Bereits Mollenhauer formulierte, dass eine solche, eben benannte Ästhetische Bildung Sperrgut für die Pädagogik sei und zerstückelt werden müsse, wenn sie in die Kiste passen solle. Laut Weiß (2017) ist die Ästhetische Bildung zerstückelt worden und was von ihr in die pädagogische Kiste passt, wird heute Kulturelle Bildung genannt. Die eben schon benannten Distanzierungsprozesse Ästhetischer Bildung passen weder in die pädagogische Kiste noch sind sie derzeit im Container ‚Kulturelle Bildung‘ zu finden. Diese Problematik der Passung ist nicht neu, aber es scheint, dass diese zweite Dimension Kultureller Bildung bzw. die exkludierende Seite Ästhetischer Bildung in den Redeweisen über Kulturelle Bildung derzeit an den Rand gedrängt wird.
Um den Aspekt der Distanznahme wieder stärker in den Blick zu rücken, soll nun auf grundlegende Gedanken Schillers (1795/2000) zurückgegriffen werden, um seine Figur der realen, aktiven Bestimmbarkeit zu reaktualisieren und im Diskurs um Kulturelle Bildung wieder stärker einzubringen.
3. Schiller – Reale und aktive Bestimmbarkeit des Menschen
Die Entzweiung von Gefühl und Ratio, von Vernunft und Sinnlichkeit ist kennzeichnend für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und durchzieht nach Schillers Zeitdiagnose nicht nur das einzelne Individuum, sondern auch die Gesellschaft (Parmentier 2010). Dabei scheint eine Verbesserung des Staates für Schiller solange nicht möglich, wie die innere Zerrissenheit des Menschen fortdauert (Schiller 1795/2000: 7. Brief). Der Beweggrund für das Verfassen der Briefe bzw. die diesen zugrundeliegenden Fragen scheinen aus Schillers Enttäuschung über die Französische Revolution hervorzugehen, denn
„[a]n die Stelle der Ideale von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit war (…) die Schreckensherrschaft der Revolutionäre über ihre (…) Gegner und ein weithin eingeschüchtertes, verängstigtes Volk getreten, obwohl dessen Befreiung das eigentliche Ziel der Revolution gewesen war“ (Dietrich et al. 2013: 35).
Somit bleibt als Mittel, um die Entzweiung zu überwinden, nach Schiller nur die Erziehung. Den Menschen durch Erziehung vernünftig zu machen, ist nach Dietrich et al. (2013) ein klassisches Instrument der bürgerlichen Aufklärung. Schiller scheint jedoch zu der Einsicht zu kommen, dass es nicht ausreicht, lediglich an die Vernunft zu appellieren, es müsse vielmehr der ganze Mensch verändert werden. Denn die Geschichte habe gezeigt, dass eine aufgeklärte Vernunft noch lange nicht ausreiche, um für vernünftig gehaltene Ideen (bspw. demokratische Staatsformen) in die Wirklichkeit umzusetzen (ebd.). Die Veränderung des Menschen, die Zusammenführung von Vernunft und Sinnlichkeit könne nach Schiller nur durch ästhetische Erziehung erreicht werden, da im Falle einer eher auf Wissensvermittlung oder auf Disziplin und Zucht orientierten Erziehung die Bedürfnisse des Gemüts entweder ignoriert oder unterdrückt würden, es also in beiden Erziehungsformen eben nicht zu einer Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit käme (Parmentier 2010). Schillers Fazit lautet also: „es giebt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht“ (Schiller 1795/2000: 90, 23. Brief).
Der Anlage nach begreift Schiller den Menschen in einer idealen Einheit zugleich als Natur- und Vernunftwesen (Müller 2006). Dabei wäre die Doppelnatur des Menschen im Idealfall so angelegt, dass „seine Triebe mit seiner Vernunft übereinstimmend genug sind, um zu einer universellen Gesetzgebung zu taugen“ (Schiller 1795/2000: 15, 4. Brief). Schiller geht insgesamt davon aus, dass jeder Mensch (der Mensch in der Zeit) im Prinzip die Möglichkeiten (der Mensch in der Idee) in sich trage, einen solchen Idealzustand (zumindest temporär) zu erreichen. Die Aufgabe des Menschen bzw. das, was er anstreben sollte, würde demnach darin bestehen „sowohl die eigenen Kräfte (…) auszubilden als auch mit der Gesamtidee des Humanitären in Übereinstimmung zu bleiben“ (Dietrich et al. 2013: 37). Auch wenn sich die Realisierung dieses Ideals nicht erreichen lässt, hat es nach Müller dennoch eine „regulative Funktion für das tatsächliche Leben: es weist die Richtung an, in der der Mensch den Ausgleich zwischen seiner sinnlichen Existenz, die ihn mit der Welt verbindet, und der geistigen Existenz, die ihn mit dem Reich der Vernunft verbindet, anstreben kann“ (Müller 2006: 98).
Der Mensch werde nach Schiller also mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert, die er in Einklang bringen müsse, wenn er Mensch werden wolle. Dietrich et. al. formulieren dies in Anlehnung an Schiller folgendermaßen: „wenn er Eigenes, Inneres nach außen bringt und entfaltet, ohne dabei gegen die ihn umgebende Welt rücksichtslos oder gleichgültig zu sein, sondern in ihr den Stoff für seine Erfahrungen und seine Bildung findet“ (ebd.: 38).
Um diese Aufgabe mit ihren sich entgegenstehenden Anforderungen erfüllen zu können, werde der Mensch (als transzendentales Subjekt) – nach Schiller – von zwei Kräften angetrieben, die er den sinnlichen, bzw. Stofftrieb, und den vernünftigen, bzw. Formtrieb, nennt. (Anm.: Rittelmeyer betont in diesem Zusammenhang, dass die von Schiller bezeichneten Triebe nicht in einem psychologischen, sondern vielmehr in einem anthropologischen Sinne verstanden werden müssen und als zentrale Begriffe seines Menschenbildes, seiner Bildungstheorie verstanden werden können (Rittelmeyer 2005: 45)).
Dem Stofftrieb wird die Sinnlichkeit, Empfindung, das Gefühl, die lebendige Materie zugesprochen. Er unterliegt einem ständigen Wandel und Veränderungen. Nach Schiller erleidet der Mensch die Sinnenwelt (Schiller 1795/2000: 102, 25. Brief).
Der Formtrieb wiederum soll mithilfe der Vernunft die wechselhaften Empfindungen und Affekte in geordnete Bahnen lenken (Dietrich et. al. 2013). Dieser kann sich – im Gegensatz zum Stofftrieb – auf beständige Gesetze berufen, das Subjekt erhält durch ihn die Möglichkeit der Distanznahme zur Welt und zur Sinnlichkeit (ebd.: 39). Mithilfe des Intellekts und seiner Gestaltungskraft kann das Subjekt die äußere und innere Welt formen und aktiv auf diese einwirken.
Die Tendenz zu einem der beiden Triebe scheint dabei eher der Normalzustand zu sein, denn Schiller merkt an, dass ein Wechselverhältnis beider Triebe als Idealfall verstanden werden müsse, dem der Mensch sich zwar temporär (im ästhetischen Zustand) annähern könne, den er jedoch nie vollkommen erreichen werde (Schiller 1795/2000: 14. Brief). Dieser Idealfall jedoch wird als Auflösung der inneren Zerrissenheit des Menschen betrachtet und verkörpert Schillers „Idee seiner Menschheit“ (ebd.: 55, 14. Brief).
Wo beide Triebe zusammen wirken, entstünde nach Schiller ein dritter Trieb, den er Spieltrieb nennt und der Stoff- und Formtrieb miteinander vereinen würde. Mit dem Spieltrieb beschreibt Schiller den ästhetischen Zustand des Menschen. Nach Rittelmeyer entwickelt Schiller im 15. Brief den für sein Gesamtwerk zentralen Gedanken, „dass der Spieltrieb unser ästhetisches Erleben ermöglicht bzw. konstituiert“ (Rittelmeyer 2005: 60).
Den ästhetischen Zustand, die reale und aktive Bestimmbarkeit, grenzt Schiller insbesondere von einer passiven Bestimmbarkeit ab. Mit der passiven Bestimmbarkeit ist zunächst ein Zustand beschrieben, in dem die „Realität“ auf noch vielfältige Art und Weise auf das Individuum einwirken kann (ebd.: 13).
Zunehmend finden jedoch – hält man sich bspw. die Entwicklung eines Kindes vor Augen – eine notwendige Engführung dieser Bestimmbarkeit sowie begriffliche Fixierungen statt. Die bestimmbare Realität wird durch Erziehungs- und Sozialisationsprozesse zu einer bestimmten Realität (Rittelmeyer 1990). Diese ist dann weitgehend vorgegeben (bspw. durch moralische Regeln oder vorgegebene gesellschaftlich-kulturelle Deutungsmuster) und schränkt dadurch die Bestimmbarkeit des Kindes ein (Rittelmeyer 2005: 13).
Soll das Individuum ein freies Verhältnis zur Welt, zur Realität entwickeln, muss es „wiederum in einen Zustand der Bestimmbarkeit geraten“ (Rittelmeyer 1990: 119). Ein Zustand der passiven Bestimmbarkeit kann jedoch nicht mehr erreicht werden. So stellt sich die Frage
„[w]ie also (…) das Kind, (…) der sich bildende Mensch von solchen vorgegebenen Mustern frei werden und in einen Zustand der ‚aktiven Bestimmbarkeit‘ kommen [kann], in dem Passivität und Aktivität, angeregt werden und schöpferisches Denken wie Handeln gleichermaßen wirksam sind?“ (Rittelmeyer 2005: 74).
Dies könne nach Schiller nur durch den ästhetischen Zustand, durch den Zustand einer realen und aktiven Bestimmbarkeit geschehen. Die paradox anmutende Figur der realen aktiven Bestimmbarkeit ist notwendig, da
„[d]ie Bestimmung, die das Individuum durch sinnliche Wahrnehmungen empfangen hat, (…) festgehalten werden [muss], weil es die Realität nicht verlieren darf; zugleich aber muß diese Realität, insofern sie Begrenzung ist, aufgehoben werden, weil eine unbegrenzte Bestimmbarkeit stattfinden soll“ (Rittelmeyer 1990: 119, Hervorh.i.O.).
Rittelmeyer veranschaulicht dies am Beispiel eines Malers, der nicht nur einer Idee folgt oder diese umsetzt (Formtrieb), sondern sich im Prozess der Bildgestaltung auch „durch das jeweils Entstandene“ (ebd.: 118) oder im Entstehen Begriffene, immer wieder zu neuen Ideen oder auch Korrekturen anregen lässt (Stofftrieb). Dabei wird mit dem ästhetischen Zustand die Möglichkeit geschaffen, sich „den realen Dingen und Verhältnissen in freier und aktiver Bestimmbarkeit gestaltend und verstehend zuzuwenden“ (ebd.: 118).
Erst in diesem Zustand „erfährt der Mensch (…) die Idee seiner Menschheit“ (Rittelmeyer 2005: 59, Hervorh.i.O.). Es wird deutlich, dass hier ästhetische, anthropologische und moralische Fragen eng miteinander verknüpft werden und der ästhetische Zustand mit Zirfas gesprochen so „als Probier- und Experimentierfeld der Freiheit ausgewiesen [wird]“ (Zirfas 2014: 205). Die ästhetische Erfahrung wird damit als etwas konzipiert, dass den Menschen in zweifacher Hinsicht emanzipiert und zwar, indem sich „[d]as Subjekt einer ästhetischen Erfahrung (…) frei gestaltend ebenso zu dem [verhält], was seine Sinne ihm als Stoff zuführen, als auch zu dem, was sein Bewusstsein als kulturelles Formenrepertoire bereithält, um den Sachen einen Sinn zu geben“ (Müller 2004: 69). Auch wenn das Subjekt hier scheitert, ist laut Müller davon ein Bereich betroffen, der sich „nicht vor den theoretischen und praktischen Urteilen legitimieren muss“ (ebd.) und somit das (vermeintliche) Risiko einer Erweiterung, Veränderung oder Umorganisation von Erfahrung eingegangen werden kann. Dörpinghaus nennt es die „Entlastung vom So-sein-Müssen hin zum Anders-sein-Können im Bereich des Möglichen und des Als-ob“ (Dörpinghaus 2006: 60).
4. Die ästhetische Dimension kindlicher Tätigkeit
Im Rahmen einer empirischen Untersuchung zur ästhetischen Dimension kindlicher Tätigkeit wird deren bildungstheoretische Relevanz insbesondere an der von Schiller konzipierten und von Rittelmeyer transformierten realen und aktiven Bestimmbarkeit entfaltet (Borg-Tiburcy 2019).
Die Studie wird als Grundlagenforschung in der qualitativ-rekonstruktiven Kindheitsforschung und im Schnittfeld von phänomenologischen und wissenssoziologischen Perspektiven verortet. Im Zuge dessen wurden mithilfe teilnehmender Videographie Interaktionen, Gestaltungs- und Ausdruckspraxen von Kindergruppen im Alltag einer Kindergartengruppe in den Blick genommen. Dabei interessierten vor allem Prozesse, in denen ein Thematisch-Werden sinnlicher Eindrücke zum Ausgangspunkt oder zum Thema gemeinschaftlicher Praxen wurde. Somit rückte ein ästhetisches Wahrnehmen in Abgrenzung zu einem aisthetischen Wahrnehmen in den Blick (Mollenhauer 1996; Schmücker 2014; Seel 2003). Die damit eingenommene Perspektive legte den Fokus vor allem auf die Prozesshaftigkeit von alltäglichen Praxen, in denen ästhetische Bedeutungsgehalte entstehen und gestaltet werden. Der Fokus auf Alltagsphänomene grenzte sich von einem engen Kulturbegriff und von einem Verständnis ab, welches Bildung automatisch als ästhetisch begreift, wenn Kunst nur irgendwie beteiligt ist. Somit wurde nicht allein der Gegenstand der Auseinandersetzung als Erkennungsmerkmal ästhetischer Bildungsbewegungen betrachtet, sondern eine spezifische Art und Weise der Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Welt, die unter Berücksichtigung zentraler Grundgedanken Kants (1790/1974), Schillers (1795/2000) und Cassirers (1944/2007) sowie Positionen aus dem allgemein- und elementarpädagogischen Diskurs zur ästhetischen Tätigkeit theoretisch-heuristisch konzipiert und empirisch fundiert werden konnte (vgl. ausführlich Borg-Tiburcy 2019).
Dabei konnte rekonstruiert werden, dass sich Kinder im Zuge gemeinschaftlicher Herstellungs- und Verstehensprozesse ästhetischen Sinns bspw. von der (realen) sinnlich-materiellen Präsenz von Gegenständen affizieren lassen und sich zugleich durch die Verwendung eines kulturellen Formenrepertoires aktiv dazu verhalten bzw. darauf antworten (vgl. ausführlich hierzu Borg-Tiburcy 2018). Es konnte gezeigt werden, dass und wie die Kinder wieder bestimmbar werden und zwar indem diese eine andere bzw. spezifische Weise der Gegenstands- oder Phänomenrezeption vollziehen. Zu betonen sei in diesem Zusammenhang, dass die Kinder im Zuge ihrer Tätigkeit wieder bestimmbar werden, da zum einen Aspekte der Realität aufgegriffen werden und diese zum anderen unter Berücksichtigung spezifischer Deutungs- und Bedeutungsfolien zum Ausdruck gebracht werden.
Bildungstheoretisch ist bspw. ein reales und aktiv bestimmbares Sehen und Hören von besonderem Interesse, da die Kinder sich dabei von einer alltäglichen, gewohnten, oftmals identifizierenden oder klassifizierenden Gegenstandsrezeption oder Gegenstandswahrnehmung distanzieren, obwohl und weil sie diese bereits beherrschen, ein begriffliches Unterscheidungsvermögen also vorhanden ist und Realität so bereits (begrifflich) bestimmt ist.
So entwickeln zwei Kinder, die in einer Kindergartengruppe an einem Leuchttisch sitzen und auf diesem Steine in unterschiedlichen Formen, Farben und unterschiedlicher Beschaffenheit ablegen, ästhetische Sinnzusammenhänge, die bspw. verbalsprachlich in Form von produktiven Assoziationen zum Ausdruck gebracht werden: „Der sieht doch, der sieht, der sieht doch so wie Feuer aus, oder?“ (vgl. hierzu ausführlich Borg-Tiburcy 2019).
Dabei konnte rekonstruiert werden, dass es nicht darum geht, den roten Stein als einen roten Stein zu erkennen – auch wenn das Kind nicht mehr so tun kann, als wüsste es nicht, dass das ein roter Stein ist –, sondern sich von der sinnlichen Präsenz so herausfordern zu lassen, dass gleichsam eine „neue visuelle Erfahrung“ (Müller 2006: 106) entsteht, die den Menschen – und hier wird dann der Bezug zu Schiller gelöst –
„weder näher an seine ursprüngliche Natur, noch näher an einen Idealzustand der Vollkommenheit heran[führt], [sondern] (…) ihn lediglich aus seinen fest gefügten Formen konventionell-identifizierenden Sehens [löst] und (…) ihm [so] den Zustand eines unbestimmten, und daher[,] (…) frei und aktiv bestimmbaren Sehens [erschließt], das immer wieder auf sich selbst zurückkommt“ (ebd.).
Durch das aktiv bestimmbare Sehen, das im Zuge der Analysen als eine Wechselwirkung zwischen sehendem und wiedererkennendem Sehen in Anlehnung an Imdahl rekonstruiert wurde, kommt somit eine „Reflektion der Materialität des [Aus]Sehens [des Materials]“ (ebd.) zum Ausdruck. Bildungstheoretisch ist dies von besonderem Interesse, da das Kind mit der Herstellung ästhetischen Sinns nicht nur eine eigene und vor allem freie Position zum Realen, zur Sinnlichkeit, einnimmt, sondern auch zum kulturellen Formenrepertoire, in das es durch Sozialisations- und Erziehungsprozesse hineinwächst. Mit Müller kann also zusammengefasst werden, dass das „Subjekt einer ästhetischen Erfahrung (…) sich frei gestaltend ebenso zu dem [verhält], was seine Sinne ihm als Stoff zuführen, als auch zu dem, was sein Bewusstsein als kulturelles Formenrepertoire bereithält, um den Sachen einen Sinn zu geben“ (Müller 2004: 69).
Auch wenn nicht zwangsläufig davon gesprochen werden kann, dass die Kinder, nachdem sie sich diese andere Gegenstandswahrnehmung zu Eigen gemacht haben, genötigt werden, auch die alltägliche Welt mit dieser Wahrnehmung zu betrachten, kann die Erfahrung im ästhetischen Zustand ermöglichen,
„auch (…) reale Gegenstände des Alltags genauer zu betrachten, anders zu sehen (…) [und somit] über einen – allerdings nicht zu erzwingenden – Zwischenzustand der ästhetischen bzw. ‚spielenden‘ Erfahrung solcher Gegenstände zurück in einen Zustand der aktiven Bestimmung, d.h. der neuen, nun aber nicht mehr spielerischen Sicht der Realität“ (Rittelmeyer 2005: 78)
zu gelangen. Diese neue Sicht auf die Realität konnte durch den ethnographischen Zugang der Studie rekonstruiert bzw. angedeutet werden. Zumindest scheint es nicht ganz abwegig, dass folgende Szene, die sich beim gemeinsamen Mittagessen ereignete, mit dem Geschehen am Leuchttisch zu korrespondieren scheint, welches sich am selbigen Tag vormittags in der Gruppe ereignet hatte:
„Nachdem ich mit einem Blick auf das Display sichergestellt habe, dass der Tisch und die daran sitzenden Kinder im Bild sind, setze ich mich auf den freien Stuhl, der links neben Yolander steht. Die Kinder schenken sich derweil Wasser in ihre Gläser ein und unterhalten sich dabei. Yolander, der mich zu mustern scheint und dann hinter meinen Rücken schaut, äußert auf einmal: „Im Sonnstrahl …, im Sonnstrahl ist das richtig blau und wenn das im Schatten ist, ist das so dunkelblau“. Dabei zeigt er einmal mit der Hand hinter meinen Rücken (auf den das Licht durch ein Fenster hereinfällt) und dann vor meinen Bauch.
Ich bin überrascht und erstaunt über diese Beobachtung in diesem Kontext, frage „Jaha?“ und blicke an meinem blauen Blazer herab, strecke dabei meine Arme und frage nochmals: „Verändert sich die Farbe dann manchmal? Hast du das beobachtet?“, während Yolander nickt. Anerkennend nicke ich und schürze die Lippen. Auch die anderen Kinder scheinen nun auf unser Gespräch aufmerksam zu werden und Lina fragt: „Welche Farbe denn?“ Ich erläutere, dass es um meine Jacke geht, und Yolander berichtet nun auch den anderen Kindern von seiner Beobachtung. Dabei zeigt er mit seiner Hand hinter meinen Blazer: „Wenn das …, eigentlich ist das hell…, aber wenn das im Schatten ist“, dabei positioniert er seine Hand wieder vor meinen Bauch, „dann wird’s dunkel“. Yolander trinkt dann Wasser aus dem Glas und ich berate mich mit der pädagogischen Fachkraft darüber, ob das Essen heute gebracht wird oder nicht“ (Protokollauszug Tag 12-290212).
So scheint Yolander, vermutlich angeregt durch die am Vormittag vollzogenen Prozesse und damit einhergehenden spezifischen Gegenstandswahrnehmungen und -rezeptionen, hier aufmerksam zu werden auf unterschiedliche Licht- und Farbeindrücke. Damit wäre etwas angesprochen, dass über die situative ästhetische Dimension hinausweist und auch auf die mit dem ästhetischen Zustand verbundene politische Idee Schillers verweist.
5. Resümee
Warum erscheint es lohnenswert, Schillers Grundgedanken für den Diskurs rund um Kulturelle Bildung zu reaktualisieren?
Sowohl die Bildung des Einzelnen als auch die Entwicklung oder der Erhalt von Demokratie waren und sind zentrale politische Themen, die Schiller auf eine einzigartige Weise mit Annahmen zur Ästhetik verbunden hat. Schillers Bildungsideal kann nach Koch (2006) daher sowohl als ästhetischer und zugleich als politischer Humanismus begriffen werden. Auch wenn insbesondere diese Verbindung Schillers Modell der Ästhetischen Bildung nach Zirfas (2014) widersprüchlich und unwahrscheinlich erscheinen lässt, bietet es doch nach wie vor Anregungen, um den Umgang mit Kunst oder anderen Gegenständen, die Prozesse einer realen und aktiven Bestimmbarkeit herauszufordern vermögen, zu fördern und stärker empirisch in den Blick zu nehmen. Ob der Anspruch legitim ist, über den Umgang mit Kunst gesellschaftliche und politische Verhältnisse verändern zu können, indem sich der Mensch darüber sensibilisiert, muss auch weiterhin diskutiert werden. Dass aber der ästhetische Zustand ermöglicht, sozusagen auf Probe ein freies Verhältnis zu der ihn umgebenden Wirklichkeit einnehmen zu können, und diese Erfahrung – vielleicht sogar als eine Art Metaerfahrung oder -fähigkeit – der Distanznahme zu konventionellen Wahrnehmungs- und Verstehensweisen auch auf andere, alltägliche Situationen übertragen werden kann, sollte auch weiterhin im Blick behalten werden. Dass diese Idee nicht neu ist, kann im Diskurs nachvollzogen werden. Allerdings gibt es in diesem Zusammenhang nach wie vor ein erhebliches empirisches Forschungsdesiderat. Ob es dabei explizit um den Gegenstand „Kunst“ gehen muss oder auch andere Phänomene diese Prozesse herausfordern können, müsste an einer anderen Stelle diskutiert werden. Die Ergebnisse der empirischen Studie (Borg-Tiburcy 2019) zeigen, dass auch alltägliche Gegenstände einen Sinn vermitteln können, der wesentlich „mit der besonderen Gestalt (…) [ihrer] sinnlich-materiellen (…) [Beschaffenheit] zusammen[hängt]“ (Staege 2016: 46) und so zu den bereits benannten Distanzierungsprozessen herausfordern können.
Resümierend kann festgehalten werden, dass mögliche Schnittstellen zwischen Kunst, Bildung und Politik auch weiterhin brüchig bleiben und sich deren Bedeutungen immer wieder verschieben.
Die politische und ästhetische Dimension kultureller Bildung sollte – und jetzt endet der Beitrag normativ –, neben den Slogans zur gesellschaftlichen Teilhabe, auch solche Prozesse im Blick behalten, die auch schon bei (jungen) Kindern eine Befremdung, Distanznahme und Neubefragung alltäglicher, gesellschaftlicher und kultureller Themen ermöglichen.