„Reach up and get a star from the sky“ – Künstlerisches Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen als Bildungschance
Abstract
Künstlerisches Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen bietet verschiedene Bildungschancen, die aktiv von Kunstschaffenden in schulischen wie außerschulischen Projekten initiiert und gefördert werden können. Neben dem Interesse an Kunst und Kultur stellen Kreativität, Selbstwirksamkeit, Kooperationsfähigkeit und eine offene Haltung gegenüber Neuem nur einige Lernpotenziale künstlerisch-edukativer Projekte dar. In dem Modellversuch „Kunstlabor an und mit Schulen“ (2016-2018, gefördert durch die Stiftung Mercator) arbeiteten Kunstschaffende über einen längeren Zeitraum in einem hierfür eingerichteten Atelier an der Schule und gaben Lernenden Einblicke in die Kunst durch gemeinsame Projekte und eigene Angebote. Der Modellversuch wurde wissenschaftlich begleitet. Der Beitrag gibt Einblicke in das Projekt „Kunstlabor an und mit Schulen“ (KLAUS), geht auf zentrale Erkenntnisse ein und stellt diese als Reflexionsfolie für die Fort- und Weiterbildung vor. Diese wurde im Rahmen des Zertifikatskurses „Künstlerische Interventionen“ an der Universität Hildesheim mit einer Gruppe von Künstler*innen erprobt und diskutiert. Der Beitrag wurde in ähnlicher Form bereits im Rahmen der Abschlusspublikation des Zertifikatskurses „Künstlerische Interventionen“ (Mandel 2022) veröffentlich.
Wir befinden uns in den Kellergewölben einer Schule in Nordrhein-Westfalen. Es ist still jenseits des üblichen Unterrichtstrubels. Dunkelheit legt sich um uns, ein Schlaglicht wirft lange Schatten auf den leeren Kellerflur. In der einen Ecke türmen sich alte Schulbücher, verstaubte Kisten, Ordner, Akten, gestapelte Stühle. Da erhebt sich langsam aus der Dunkelheit eine Kinderhand, ächzende Geräusche sind zu vernehmen. Zwei Augenpaare schauen uns unvermittelt und herausfordernd an. Dann erkennen wir eine zerfetzte Maske, Löcher als Augen, Narben – Nähten gleich – mitten im Gesicht, aus dem Kopf ragen scheinbar zwei Hörner.
Szenenwechsel: Eine Horde gruseliger Zombies bahnt sich ihren Weg langsam, aber bestimmt die Schulhaustreppe hinunter. Sie übersteigen sich gegenseitig und lassen sich vereinzelt über das Treppengeländer in die Eingangshalle der Schule fallen. Hier eine grüne, zerfetzte Maske, tiefe Augenblicke aus einem grimmigen roten Zombiegesicht. Langsam kämpft sich die Kamera durch den Zombie-Mob. Dann, unten angekommen: Im Rhythmus bewegen sich ungefähr 25 Kinder in gruseligen Masken wie Zombies zur Musik. Magdalena von Rudy ruft „Und jetzt nochmal, das macht ihr super! Und Action!“. Die Kinder strecken ihre Arme und Hände nach vorne und bewegen sich im Takt zur Musik mit gruseligen, langsamen Schritten. In Gestik und Mimik versuchen sie Zombies nachzuahmen. Ein Mädchen lacht gemeinsam mit ihrer Freundin, da ihnen ein ganz ausgeklügelter Zombie-Move eingefallen ist, den sie gleich ausprobieren. Die beiden Jungs ganz vorn bewegen sich fast bis zur Kamera und geben ihr Bestes, gruselig auszusehen. „Und Schnitt!“, ruft Magdalena von Rudy.
Nochmaliger Szenenwechsel: Wir blicken zwei Wochen früher ins Klassenzimmer, in dem – einer Materialschlacht ähnlich – Magda inmitten eines Kleiderbergs steht und mit zwei Schülern gerade bespricht, wie sie am besten ihre alten Socken und Hoodies zu einer gruseligen Zombie-Maske umgestalten können. „Aber ich kann überhaupt nicht nähen. Dazu habe ich auch gar keine Lust“, jammert der eine. „Du musst nicht nähen können, wir haben hier ganz einfache Methoden, Stoff zu verbinden. Du kannst in groben Stichen die Stoffteile miteinander verbinden, oder mit Kleber oder Gewebeband arbeiten, die Stoffe zusammenknoten oder auch tackern“, erklärt Magda.
Zombie-Freedom – Ein künstlerisches Projekt mit Schüler*innen
Beschrieben wurden drei Szenen aus dem künstlerischen Projekt „Zombie-Freedom“ (vgl. Abb. 1a, b, c), welches die Künstlerin Magdalena von Rudy als Artist-in-Residence an Schulen im Schuljahr 2016/2017 mit Schüler*innen im Rahmen des Modellprojekts „Kunstlabor an und mit Schulen“ (kurz: KLAUS, siehe Kasten) durchgeführt hat.
Dieses Projekt wurde mit zwei fünften Klassen unabhängig voneinander als mehrwöchiges Projekt im Fachunterricht Kunst durchgeführt. Nachdem in der freien Atelierarbeit Schüler*innen immer wieder Zombie und Monster als Themen einbrachten, entstand bei Magdalena von Rudy die Idee zum Projekt. In der Konzeption und Durchführung war es auf mehrere Wochen im Kunstunterricht angelegt und umfasste Maskenherstellung, Tanz-Performance und Videoarbeit gemeinsam mit den Schüler*innen. Das Projekt wurde in enger Zusammenarbeit mit der Kunstlehrerin in den Klassen umgesetzt und vereinte eine spielerische und humorvolle Auseinandersetzung von Gefährlichem, Furchtbarem und Ängstigendem mit Spaß und Bewegung sowie der Erkundung des Schulgebäudes.
Zunächst wurden aus alten Kleidungsstücken im Upcycling-Verfahren Zombiemasken gestaltet. In groben Stichen wurden verschiedene Stoffe aus alten Kleidungsstücken zusammengenäht, aber auch geklebt, geknotet oder aneinandergeheftet. Augen, Nase und Mund wurden herausgeschnitten oder aufgemalt. Als zweiter Schritt kamen die Zombie-Masken zum Einsatz. Gemeinsam wurde eine Choreografie mit typischen Zombie-Bewegungen erarbeitet und eingeübt. Dabei wurden die Schüler*innen beteiligt und konnten ihre eigenen Ideen einbringen. Auf der Suche nach gruseligen Orten an der Schule erkundeten die Zombies Keller, Treppenhäuser und Schulhausflure und wurden in schaurigen Szenen videografisch festgehalten. Aus den Videomitschnitten wurde von Magdalena von Rudy zum Abschluss des Projekts ein Musikvideo geschnitten und in der Klasse präsentiert.
Nähere Informationen zum Aufbau des Projekts sowie Beispiele und Videos finden sich in der Projektbeschreibung auf den Internetseiten des Kunstlabors Bildende Kunst (https://kunstlabore.de/?page_id=7435).
Beschreibung des Modellversuchs
Wer ist KLAUS?
Das Akronym KLAUS steht für „Kunstlabor an und mit Schulen“. An verschiedenen Schulen wurde in herkömmlichen Schulräumen ein Atelier eingerichtet, in dem die Kunstschaffenden arbeiteten. Die Arbeit fand dabei nicht nur an, sondern auch mit den Schulen und deren Akteur*innen statt. Der Schwerpunkt des Programms lag daher auf der Zusammenarbeit.
Der Modellversuch wurde im Rahmen des Programms kunstlabore.de der MUTIK gGmbH von 2015 bis 2018 von der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführt und von der Stiftung Mercator gefördert. Ziel war die gemeinsame Entwicklung von Konzepten, Formaten und Methoden für die Umsetzung qualitativ hochwertiger künstlerischer Angebote an Schulen.
In zwei Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 wurde an insgesamt vier Schulen – Gymnasien und Gesamtschulen – der Modellversuch Kunstlabor an und mit Schulen durchgeführt. Über jeweils ein Schuljahr hinweg wurde an den Schulen ein Artist-in-Residence im Sinne eines Ateliers aufgebaut. Vier Künstlerinnen arbeiteten in den Ateliers und setzten verschiedene künstlerische Bildungsangebote mit Schüler*innen sowie in Kooperation mit Fachlehrpersonen um. Das Atelier bot keinen Unterrichtsersatz, sondern verstand sich als ein zusätzliches künstlerisches Bildungsangebot, das sich in die jeweilige Kultur der Schule einfügte. Die Angebote sollten sich dabei nicht nur auf das Fach Kunst beziehen, sondern fokussiert wurde interdisziplinäres Arbeiten sowie künstlerische Bildung als besonderer ästhetischer und kreativer Zugang für Lerninhalte aller Fachbereiche. In enger Verbindung von Kunst und Schule war damit auch die Frage nach der Stärkung künstlerischer Bildung an Schulen verbunden, einerseits bezogen auf Chancen, die sich aus der Kooperation von Kunstschaffenden an Schulen mit Lehrpersonen ergeben können, andererseits mit Blick auf besondere Bildungs- und Entwicklungspotenziale, die sich aus den Artist-in-Residence an Schulen für die Lernenden, für die Lehrenden sowie für die Institution ergeben könnten. Um die gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse aufzunehmen, zu beschreiben und zu reflektieren, wurde der Modellversuch wissenschaftlich begleitet.
Ein Hauptanliegen der wissenschaftlichen Begleitung war es, die in den Ateliers gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse so aufzubereiten, dass diese von anderen genutzt und weiterentwickelt werden können. Der Fokus der Begleitforschung des Modellversuchs lag daher auf den Erfahrungen der beteiligten Künstler*innen, Lehrpersonen, Schulleitungen sowie Schüler*innen. Anhand von Interviews, Beschreibungen und Befragungen konnten die Erfahrungen aufgenommen und ausgewertet werden. Dies erfolgte einerseits unter systemischer Perspektive. Wie verhält sich das System Schule zur Atelierresidenz respektive zur Kunst und welche Bedingungen und Erwartungen sowie Potenziale sind damit verbunden? Andererseits wurden aus Vermittlungsperspektive künstlerische Bildungsprozesse beschrieben, um diese transferier- und kommunizierbar zu machen. Fokussiert wurde dabei auf Rekursivität und Reflexivität statt auf Kausalität und Objektivität, d. h. es wurden subjektive Erfahrungen dokumentiert und reflektiert. Der Einzelfall – im Sinne eines Modellversuchs – war Ausgangspunkt und Gegenstand der Auseinandersetzung, nicht verallgemeinerbare Zusammenhänge und Ursachen. Die Bearbeitung beider Perspektiven zielte darauf, Kunst und Schule noch stärker miteinander zu denken, sich daraus ergebende Chancen aufzuzeigen und in den Diskurs künstlerischer Bildung an Schulen einzubringen. Materialien, Beispiele, Fotos und Videos sowie viele didaktische Hinweise finden sich auf den Internetseiten des Kunstlabors Bildende Kunst (https://kunstlabore.de/?page_id=681).
Künstlerische Bildung
In der Künstlerischen Bildung wird davon ausgegangen, dass „sich durch den Umgang mit Kunst und durch eine künstlerische Praxis künstlerische Bildungswirkungen beim Einzelnen einstellen können“ (Kettel 2004:24). Die künstlerische Auseinandersetzung mit einem Thema, einem Gegenstand oder einem Ort zielt dabei auf eine individuelle Gestaltungsarbeit sowie auf die Formulierung eines eigenen künstlerischen Standpunkts. Künstlerische Bildungsarbeit bedeutet so verstanden, Strategien und Methoden aus kunstnahen und künstlerischen Prozessen abzuleiten, diese bildungswirksam werden zu lassen und Kinder, Jugendliche wie auch Erwachsene in ein selbsttätiges künstlerisches Denken und Handeln zu bringen. Dies zeigt sich insbesondere in zeitgenössischen Kunstformen im Sinne erweiterter Kunstkonzepte, die seit den 1960er-Jahren umgesetzt werden, die einen hohen Partizipationsgrad aufweisen und die Grenzen zwischen Kunst, Pädagogik und Psychologie aufheben (vgl. Kettel 2004:24).
Es ist es daher zentral, sich zu fragen, welchen Kunstbegriff man selbst für die Bildungsarbeit anführt. Was verstehe ich unter künstlerischer Bildung, was unter Kunst? An welchen künstlerischen Positionen orientiere ich mich? Wo sind Schnittmengen, wo Unterschiede? Welche künstlerischen Zugänge mache ich für Bildung fruchtbar?
Exemplarisch kann hier das Projekt „Bodies in the Schoolyard“ stehen, das im Rahmen des Modellversuchs KLAUS von Theresa Herzog zusammen mit einem Sportlehrer der Schule als fächerübergreifendes Nachmittagsangebot an einer Schule umgesetzt wurde (Abb. 2a, b, c). Dabei sollte das gesamte Schulareal körperlich-sinnlich erkundet und erforscht werden. Das Projekt orientierte sich in seiner Konzeption stark an den Arbeiten des Künstlers Willi Dorner und seinen „Bodies in Urban-Spaces“. Der eigene Körper wird dabei in direkte Verbindung mit dem Umraum gebracht und Relationen werden erkundet und erprobt. Die Ergebnisse hielten die Schüler*innen mit der Fotokamera fest. Theresa Herzog reflektiert im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung das Projekt folgendermaßen: „Es wurde viel gelacht, aber eben auch höchst konzentriert gearbeitet, und was definitiv geschah: Die Schüler*innen gingen mit einem völlig anderen Blick und Körpergefühl durch ihre eigene Schule!“ (https://kunstlabore.de/?page_id=5351).
Experimentieren und Ausprobieren sowie spielerische und performative Zugänge sind in der künstlerischen Bildung wichtige Handlungsoptionen, um im Künstlerischen eine intensive Auseinandersetzung anzubahnen. „[…} Kunst stellt Fragen, experimentiert, theoretisiert, nutzt Methode und Zufall. Ihre künstlerische Praxis zeigt sich als Form von Untersuchung bzw. Recherche (Wahrnehmung, Akteure, Produzenten, Rezipienten, Medien, Praktiken)“ (Kettel 2017:305). Vermittlung wird dann zur „Ermittlung von Kunst“ (Westphal/Bogerts 2017:289). Kunstschaffende nehmen so „keine vermittelnde, sondern gemeinsam mit allen Beteiligten eine ermittelnde Haltung im Prozessgeschehen ihrer künstlerischen Projekte in Bildungskontexten“ (Westphal/Bogerts 2017:289) ein (siehe auch Joachim Kettel „Künstlerische Kunstpädagogik im Kontext: „The Missing LINK 2016” – Übergangsformen von Kunst und Pädagogik in der Kulturellen Bildung“). Es geht also um eine fragende, forschende Grundhaltung, die für künstlerisches Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen notwendig ist, um selbsttätig und eigenständig Gestaltungs-, Wahrnehmungs- und Problemlösungsansätze mit den Teilnehmenden zu finden.
Zentrale Fragen, über die wir nachdenken müssen, sind daher: Welche Rolle nehme ich in der Vermittlungsarbeit ein? Habe ich mehr eine vermittelnde oder eine ermittelnde Haltung? Wie ändert sich meine Rolle in verschiedenen Institutionen? Welche Rolle spielt für mich der Zufall? Wie gehe ich mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten in Vermittlungssituationen um?
Künstlerische Bildung zeigt sich dabei nicht nur bezogen auf die bildende Kunst, sondern kann sich im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs auf vielfältige Phänomene beziehen. So sieht die künstlerische Bildung ihren Gegenstandsbereich in der Kunst und deren Schnittstellen zu vielfältigen Lebens- und Gesellschaftsbereichen sowie in der Bildung als Lebenskunst (vgl. Buschkühle 2017:20). Dem künstlerischen Prozess ähnlich werden individuelle Gestaltungs- und Lernprozesse angestrebt und erfordern Offenheit von Lehrenden und Lernenden gleichermaßen. Daraus ergeben sich komplexe Bildungskonzepte, die vielfältige Wege aufzeigen und in ihrem Ausgang offen sind sowie in einem selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Arbeiten ihre Legitimation erfahren.
Da Offenheit eine wichtige Grundlage für menschliche Begegnung und Partizipation darstellt, ist immer wieder von Neuem fragen, wie offen bin ich selbst? Wann und wo ziehe ich Grenzen? Wo beginnt und wo endet meine Offenheit? Wie offen bin ich gegenüber den Zielen und Intentionen der Teilnehmenden?
So verstanden müssen Lernende in künstlerischen Bildungsprozessen in ihren individuellen Entwicklungs- und Arbeitsprozessen begleitet werden können. Hierfür ist nicht nur die eigene künstlerische Expertise relevant, sondern es sind auch Grundkenntnisse bezogen auf Vermittlungsarbeit, Beratung und Coaching wesentlich. So können künstlerische Prozesse angebahnt werden und dem künstlerischen und kreativen Arbeiten immanente Momente des Unbestimmten, Unsicheren oder Scheiterns und Durchhaltens entsprechend begleitet und bildungswirksam gemacht werden (vgl. Kettel 2004).
Neben der hierfür notwendigen künstlerischen Expertise vermischen sich kunstnahe Methoden in der künstlerischen Bildungsarbeit in ihrer Oberflächen- (z. B. das künstlerische Projekt, Zeitstruktur, Formate) sowie ihrer Tiefenstruktur (z. B. die Interaktion mit den Lernenden, Rückmeldungen sowie die individuelle Begleitung der Arbeitsprozesse) mit didaktisch-methodischen Vermittlungskompetenzen. Angesprochen sind bildungswirksame Momente, die anzubahnen und professionell zu begleiten sind. Anleihen des professionellen Handelns sind hier je nach Zielgruppe aus der Pädagogik, Beratung und dem Coaching denkbar (Truniger 2019).
Sparkling Moments – oder: bildungswirksame Momente künstlerischen Arbeitens
Wie sind bildungswirksame Momente – sparkling moments – aber im meist komplexen Prozessgeschehen künstlerischen Arbeitens mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu erkennen, vielleicht sogar ein Schritt zuvor, anzubahnen? Nana Eger (2015) stellt hier treffend fest: „Sparkling Moments können nicht garantiert werden. Es kann jedoch eine Aufgabe Kultureller Bildung sein, Gelegenheiten und unterstützende Rahmenbedingungen […] zu schaffen“ (Eger 2015, Hervorhebung im Original. Siehe: Nana Eger „What works? Arbeitsprinzipien zum Gelingen kultureller Bildungsangebote an der Schnittstelle von Kunst und Schule“). Sparkling moments sind in der künstlerischen Bildungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Momente, die an sich überraschend, aktivierend, unerwartet, vielleicht auch irritierend sind (Eger 2015), und die zu einer weiteren vertieften Auseinandersetzung führen. Es sind die Momente in der künstlerischen Arbeit, die in der Interaktion und im Erfahrungsaustausch mit anderen bildungswirksam werden können.
Eine zentrale Fragestellung ist es daher, wie kann ich in meiner künstlerischen Bildungsarbeit Gelegenheiten und Voraussetzungen für sinnlich-ästhetische Erfahrungen, ganzheitliche Erkenntnisse und motivierende Erlebnisse schaffe?
Gehen wir wieder ins Klassenzimmer zu Magdalena von Rudy, die immer noch im Gespräch mit den beiden Schülern vertieft ist. Gerade zeigt sie den Schülern, wie sie Stoffstücke einfach verknoten oder mit Gewebeband zusammenkleben können. Sie reflektiert später: „Ein Junge hat sich getraut, mit Stoff und Gewebeband zu arbeiten. Viele der Schülerinnen und Schüler versteifen sich aber auf das Nähen – das habe ich als erstes empfohlen. Und wenn das Nähen nicht klappt suchen sie nicht nach anderen Möglichkeiten, sondern verlangen von mir Lösungen.
„Wie bringe ich die Schülerinnen und Schüler dazu, mehr Mut zum Experimentieren zu haben und Mut zu entwickeln, auch Fehler zu machen?“
In schulischen Kontexten erleben wir es häufig, dass Lernende stark in den Kategorien „richtig“ und „falsch“ denken und oft in diesen verbleiben. Künstlerisches Arbeiten holt sie hier ab und kann dazu verhelfen, eigene Lösungen zu entwickeln, die Vielfalt zwischen Schwarz und Weiß zu sehen. Letztlich kann künstlerisches Arbeiten zu einer Offenheit führen, neue Erfahrungen einzugehen sowie noch ungewisse Wege zu berücksichtigen. Dies erfordert aber ein behutsames Vorgehen, da dies keinen Automatismus darstellt, sondern angebahnt und bei Schüler*innen wachsen muss. Mut zum Experimentieren benötigt daher Zeit. Es dauert manchmal etwas, bis Schüler*innen eine ästhetisch für sie ungewohnte Weise selbst glaubhaft annehmen, ausprobieren und selbstständig anwenden können.
Im Austausch untereinander sowie in gemeinsamen Besprechungen erkannten die Schüler*innen relativ schnell, dass es nicht schön genäht sein muss, dass eine grobe, wulstige Naht durchaus mehr Ähnlichkeit hat mit einer Zombie-Narbe, die sich quer über das Gesicht zieht. Diese Erkenntnis spornte an, motivierte und regte zu zahlreichen Erprobungen an, sich frei und unverkrampft dem Thema zu nähern. Das und die Aussicht, die Masken weiter zu bespielen und Teil eines Videoprojekt zu sein, aktivierte die Schüler*innen, mutig in neue Rollen zu schlüpfen und diese zu erproben. Wurde eine Maske nicht fertig, oder am Tag der Choreografie und Aufnahme vergessen, wurde improvisiert. Auch neue Schüler*innen, die zuvor nicht im Unterricht anwesend sein konnten, konnten so integriert werden und direkt mitmachen.
Reach up! Qualitäten künstlerischer Bildungsarbeit
Fragen wir nach der Bildungswirksamkeit künstlerischen Arbeitens mit Kindern und Jugendlichen und den sparkling moments (Eger 2015), so kommen wir auch zur Frage, wann und besonders wie dies gelingt. Damit verbunden ist die Frage nach den Gelingensbedingungen künstlerischer Bildungsarbeit. Gelingensbedingungen in Bildungsprozessen sind nicht erst seit PISA hoch im Kurs und gleichermaßen verteufelt. Oftmals begegnen wir diesen in Qualitätssicherungsprogrammen, wie sie in der Kulturellen Bildung mittlerweile immer häufiger beispielsweise von Bund und Ländern als Fördergeber*innen durchgeführt werden. Macht man sich erst dann Gedanken dazu, ist es aber eigentlich zu spät. Denn gerade im Vorfeld und in der Durchführung ist die Auseinandersetzung mit Gelingensbedingungen zielführend und kann uns darin unterstützen, Angebote adressatenorientiert und bildungswirksam umzusetzen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass über Qualität künstlerischer Bildung schon viel gesagt und nachgedacht wurde (u. a. Bamford 2010; BBK 2011; Berner 2016; Bilstein 2013; Braun/Fuchs/Kelb 2010; Eger 2015; Keuchel/Aescht 2007; Seidel et al. 2009; Wimmer/Schadt/Nagel 2013). Oft wird dabei kritisch betont, dass Qualitäten im Bereich Kultureller Bildung nicht konkretisiert und festgelegt werden können (u. a. Mörsch 2015; Wimmer 2014), da Projekte und Angebote vielschichtig, komplex und insbesondere meist individuell auf die jeweiligen Teilnehmenden ausgerichtet sind und daher immer wieder erneut formuliert werden müssen. Davon abgesehen, dass mit diesem formulierten Anspruch bereits Qualitätsmerkmale benannt sind, besteht dennoch Konsens, dass mit Qualitäten künstlerischer Bildung umgegangen werden muss und ein Diskurs über Gelingensbedingungen – oder wie Johannes Bilstein (2013:61) treffend formuliert: „gelungene oder doch wenigstens gelingende Bildungsprozesse“ – für eine professionelle Weiterentwicklung kultureller und künstlerischer Bildung von Bedeutung ist, insbesondere im Kontext von Aus- und Weiterbildung künstlerischen und pädagogischen Personals (vgl. Kettel 2017; Eger 2015; Wimmer 2015).
Es lohnt sich daher zu fragen: Wann erreiche ich die Teilnehmenden in meinen künstlerischen Angeboten? Weshalb gelingt mir das einmal gut, ein anderes Mal vielleicht weniger gut? Woran mache ich selbst für mein künstlerisches Angebot Qualitäten fest? Welcher Qualitätsbegriff kann mich in meiner Arbeit unterstützen?
Woran können sich Qualitäten künstlerischer Bildungsangebote orientieren? Zunächst können Qualitätskriterien aus den Künsten heraus entwickelt werden und eher den künstlerischen Gehalt beschreiben (u. a. Bilstein 2013; Eger 2014, 2015). Weiter können Qualitäten über Wirkung festgemacht werden. Also: Was bewirkt künstlerisches Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (u. a. Rittelmeyer 2012; Seidel et al. 2009)? Drittens können Beschreibungen künstlerischer Angebote Qualitäten erkennen lassen und zu Angebotsmerkmalen führen, die sich in der Praxis für gelingende künstlerische Bildungsprozesse als relevant gezeigt haben (u. a. Bamford 2010; Berner 2016; Berner/Strasser 2020; Keuchel/Aescht 2007; Seidel et al. 2009). Alle drei Zugänge sind im Feld zu finden und können uns dabei unterstützen, mit dem Qualitätsbegriff produktiv umzugehen, indem sie uns als Reflexionsfolie dienen. Dies unterstützt uns dabei, künstlerische Angebote zu konzipieren, unsere Arbeit zu reflektieren und unser Handeln weiterzuentwickeln.
Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung in dem „Kunstlabor an und mit Schulen“ wurden die künstlerisch-educativen Angebote über ein Jahr lang evaluiert. Hieraus entstand ein aus der Praxis entwickeltes Modell zur Qualität künstlerischer Bildungsangebote (Berner/Strasser 2020), das in mehreren Schritten entwickelt und in Gesprächen mit den Artists-in-Residence überprüft und weiterentwickelt wurde. Mit Blick auf schulische wie außerschulische Projekte kann es als Reflexionsfolie Gelingensbedingungen aufzeigen und Planung, Durchführung und Nachbereitung eigener künstlerisch-edukativer Projekte unterstützen (Abb. 3).
Das Ziel dabei ist es nicht, alle Qualitätskriterien umzusetzen. Das würde unnötig überfordern und den individuellen Projektformaten mit ihren jeweiligen eigenen Dynamiken nicht entsprechen. Es geht vielmehr darum aus dieser Sammlung geeignete, für das Projektvorhaben passende Qualitätskriterien herauszusuchen und diese zu verfolgen. Dies kann – je nach Ziel, Absicht und eigenem Wunsch – auch nur ein Merkmal sein. Zudem gibt es viele unterschiedliche Formate künstlerischen Arbeitens mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die jeweils eigene Anforderungen haben. Die Sammlung im Modell in Abbildung 3 ist daher nicht abschließend, sondern ist zu erweitern.
Welche Qualitäten möchte ich in meinem Projekt fokussieren? Welche Bildungsziele sind für das Projekt wegweisend? Welche Kriterien, welches methodische Handeln erscheinen mir zentral und für das Gelingen meines Projekts wichtig? Woran mache ich das Gelingen meines Projekts fest?
Eine kleine Reise durch Raum und Zeit – Formate künstlerischer Bildung
Schauen wir uns Formate künstlerischer Bildung an, so geht es einerseits um zeitliche und räumliche Begebenheiten (Oberflächenstrukturen), andererseits um damit verbundene Beziehungsqualitäten und Resonanzverhältnisse (Tiefenstrukturen; Hallmann 2017). Was bedeutet das nun für die künstlerische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen?
Hierzu möchten wir ein Modell vorstellen (Abb. 4), das Formate künstlerischer Bildung in den Dimensionen Raum und Zeit verortet, differenziert und damit verbunden unterschiedliche Beziehungsqualitäten und Resonanzverhältnisse offenlegt. Diese bestimmen unser Tun, und wirken sich auf das künstlerische Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in ihrer Bildungswirksamkeit aus.
Zeit hat einen direkten Einfluss darauf, wie intensiv wir uns in Prozesse vertiefen können. Projektformate können in ihrer zeitlichen Dimension geordnet werden: Von Kurzzeitprojekten, künstlerischen Impulsen bis hin zu Langzeitprojekten über mehrere Wochen oder gar Monate. Damit verbunden sind unterschiedliche Ziele und Intentionen der Bildungsarbeit und damit aber auch verschiedene Beziehungsqualitäten und Resonanzverhältnisse.
Mit welchen Formaten künstlerischer Bildung habe ich schon Erfahrungen machen können? Welche Formate liegen mir besonders, welche nicht? Weshalb? Wie kann ich mein Projektvorhaben an die zeitliche Struktur anpassen?
Künstlerische Bildungsangebote haben nicht nur eine zeitliche, sondern immer auch eine räumliche Dimension. So können wir zwischen schulischer, formaler Bildung und außerschulischer, non-formaler Bildung unterscheiden. Neben dem Kunstunterricht wird künstlerische Bildung an Schulen durch Kunstschaffende unterschiedlich angeboten. Ob im Unterricht oder außerhalb des Unterrichts, es gilt, die verpflichtende Schulzeit der Schüler*innen sinnvoll und bildungswirksam zu nutzen (siehe Bilstein/Bosse 2021). Außerschulische Angebote werden meist freiwillig besucht und fokussieren stärker auf interessenorientierte Inhalte.
In beiden Formaten gibt es neben dieser grundlegenden Kategorie der institutionellen Verortung noch unterschiedliche Spielformen an Räumlichkeiten, die alle ganz eigene Qualitäten aufweisen und bildungswirksam werden können.
So suchte Magdalena von Rudy im künstlerischen Projekt „Zombie-Freedom“ ganz eigene Orte innerhalb des Schulgebäudes auf, ging raus aus dem Klassenzimmer und fokussierte damit ganz eigenen Ziele (u. a. die Schule aus einer anderen Perspektive zu sehen). Auch Theresa Herzog untersuchte in ihrem Projekt „Bodies in the schoolyard“ die Schule außerhalb des gewohnten Schulgebäudes und fokussierte den Blick der Schüler*innen damit auf eine individuelle Auseinandersetzung und auf ein Sich-in-Bezug-Setzen mit der eigenen Schule.
Raum-Qualitäten gilt es daher zu bestimmen und zu reflektieren: Weshalb bin ich mit meinem Projekt an einem bestimmten Ort? Welche Potenziale ergeben sich für die individuelle Auseinandersetzung der Teilnehmenden in einer bestimmten Räumlichkeit? Welche Anforderungen bringen bestimmte Räume mit sich, z. B. für die Zusammenarbeit oder eine intensive Auseinandersetzung?
Die verschiedenen (analogen) Orte lassen unterschiedliche Beziehungsqualitäten zu und setzen die Teilnehmenden in verschiedene Bezüge (zu sich selbst, zu anderen sowie zur Welt; Krautz 2015:221). Mittlerweile sind mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre zudem digitale Räume immer stärker in das künstlerische Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingebunden. Wir möchten das Digitale als Erweiterung des Analogen einbeziehen, und in der räumlichen Dimension verorten, da damit auch unterschiedliche Qualitäten verbunden sind, die Beziehungs- und Resonanzverhältnisse beeinflussen.
Wie stehe ich zu digitalen Welten in meiner eigenen künstlerischen Arbeit sowie in meiner Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen? Welche Möglichkeiten bieten mir digitale Tools für das künstlerische Arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die das Analoge nicht mitbringt? Welche Möglichkeiten habe ich, analoge und digitale Räume zu verbinden?
Künstlerische Interventionen und die Arbeit an der eigenen Professionalität
Anhand der im Text formulierten Fragen wurde im Rahmen des Zertifikatskurses „Künstlerische Interventionen“ der Universität Hildesheim (Mandel 2022) gemeinsam mit den Stipendiat*innen das eigene professionelle Handeln und die eigene Haltung reflektiert. Ausgehend vom Kunstlabor KLAUS und den individuellen Erfahrungen der Stipendiat*innen fokussierte die Vertiefungseinheit des Pilotprojektes auf drei zentrale Zielperspektiven:
- Inspirieren und gegenseitiger Ideenaustausch,
- Reflektieren und Strukturieren der Erfahrungen der Teilnehmer*innen hinsichtlich unterschiedlicher Qualitäten künstlerischer Bildung sowie
- Transferieren von Erkenntnissen und Erfahrungen künstlerischer Bildung auf eigene Anwendungsfelder der Teilnehmer*innen.