„Qualität“ – Eine Leitformel zwischen Entwicklungsimpuls und Kampfbegriff
Vorbemerkung
Eigentlich dürfte die Frage nach der Qualität von Gegenständen oder Prozessen kein Problem sein: Es geht darum, dass man etwas Gutes erwartet oder dass man etwas, das schon vorhanden ist, verbessern möchte. So verstanden ist „Qualität" eine besondere Eigenschaft, an der sowohl der Anbieter als auch der Nutzer ein Interesse haben müssen. Eine Aussage über die Qualität von Dingen oder Prozessen ist ein Werturteil, bei dem es darum geht, wie gut etwas ein angestrebtes Ziel erreicht bzw. wie gut etwas bestimmte Bedürfnisse erfüllt.
Hier fängt allerdings schon die erste Problematik an. Denn um sinnvoll ein Qualitätsurteil abgeben zu können, muss man auch den Bereich bzw. die Perspektive angeben, für den oder die das Urteil gilt. Es geht zudem um ein Urteil, also einen Bewertungsprozess auf der Basis einer vorhandenen Urteilskraft. Solche Bewertungsprozesse stehen allerdings nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind eingebettet in konkrete Kontexte, sie erfolgen im Hinblick auf bestimmte Erwartungshorizonte. Wie bei Gerichtsprozessen, bei denen auch ein Urteil gesprochen wird, ist zudem die Qualität der Begründung maßgeblich dafür, ob man das Qualitätsurteil akzeptieren kann oder ablehnen muss. In jedem Falle gibt es eine erhebliche Begründungsverpflichtung für den Urteilsspruch. Zudem sind Qualitätsurteile Vergleichsurteile: Etwas ist besser oder schlechter als etwas anderes. Auch hierfür braucht man Maßstäbe, für die wiederum gute Gründe angegeben werden müssen.
Was hier in einer allgemeinen Perspektive über Qualität schlechthin gesagt worden ist, gilt auch für die Qualitätsdebatten im Bereich der kulturellen Bildung. Der Qualitätsbegriff ist geradezu zu einem Zauberwort, zumindest aber zu einem Schlüsselbegriff in der Debatte über kulturelle Bildung in den letzten Jahren geworden. Auch dies lohnt einen genaueren Blick auf die Situation, was denn die Motivation für eine solche Konjunktur eines Begriffes sein kann. „Qualität“ wird so zu einer Leitformel, die man daher – wie jede andere Leitformel – systematisch nach verschiedenen Dimensionen untersuchen kann (vgl. Fuchs 2010).
Was zudem oft nicht explizit gesagt, allerdings implizit unterstellt oder sogar angestrebt wird: Mit Aussagen über die Qualität sagt man zugleich aus, ob etwas eine bestimmte finanzielle Förderung verdient hat oder nicht. Qualitätskriterien werden so zu Förderkriterien, was sie zugleich in einen politischen Rahmen stellt. Mit Aussagen über Qualität stellt man zudem eine Hierarchie her zwischen dem Richter mit seiner Beurteilung und dem Beurteilungsgegenstand und dessen Produzenten. Bei Gerichtsverfahren ist diese Hierarchie höchstrangig abgesichert, nämlich durch das Grundgesetz, es werden die Beteiligten in einem sehr langen Prozess für die Urteilsfindung geschult, für den es strenge Spielregeln gibt. Zudem gibt es die Möglichkeit, das Urteil anzufechten.
Ich plädiere natürlich nicht für eine Eins-zu-Eins-Übernahme dieses Verfahrens, doch lohnt ein Vergleich, weil es auch in dem Prozess der Qualitätsbeurteilung bzw. bei der Setzung von Qualitätskriterien überprüfbare oder zumindest offen gelegte Qualitätsstandards geben sollte. Zumindest die Reflexion des erheblichen Anspruchsniveaus, so wie es hier zumindest skizziert wird, wäre eine zu stellende Grundforderung.
Hierarchiefragen – um an diesem Punkt anzuknüpfen - sind Machtfragen, so dass man nicht nur fragen muss, wer welche Messlatte verwendet und wo diese herkommt, sondern auch, wer mit wem in diesem Beurteilungsprozess um das Deutungsrecht konkurriert. Auf einige dieser Aspekte will ich im Folgenden kurz im Hinblick auf Prozesse kultureller Bildungsarbeit eingehen.
Dimensionen und Perspektiven
Es ist offensichtlich, dass ein Kulturprojekt verschiedene Dimensionen hat: Es geht um Prozesse einer künstlerisch-ästhetischen Gestaltung, so dass Kriterien aus dem Feld der Künste und der Ästhetik-Diskurse Relevanz haben. Ein Projekt der kulturellen Bildungsarbeit ist zudem ein pädagogisches Projekt, so dass auch die Pädagogik ein Referenzsystem für die Lieferung von Qualitätsstandards sein sollte. Ein solches Projekt findet zudem ganz konkret zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Einrichtung, unter Beteiligung einer konkreten fachlichen Anleitung mit einer bestimmten Auswahl von Menschen statt. Es spielen also auch geographische, soziale und politische Faktoren eine Rolle. Ein solches Projekt braucht Ressourcen, benötigt und verwendet Raum, Zeit und Geld und verfolgt bestimmte explizite oder nur implizit vorhandene Zielstellungen. All diese Aspekte bringen unterschiedlicher Möglichkeiten einer Qualitätsmessung ins Spiel, so dass pädagogische, künstlerische, managementmäßige und organisatorische, finanzielle etc. Kriterien eine Rolle spielen. Man kann zudem die Ressourcen und Strukturen vom Prozessverlauf her oder im Hinblick auf die Ergebnisse unterscheiden, ganz so, wie man es in der Evaluationstheorie diskutiert. Auch im Hinblick auf diese drei Strukturelemente, die in jedem Prozess auftauchen, lassen sich bestimmte Qualitätsmerkmale unterscheiden.
Akzeptiert man diese zunächst einmal nur oberflächliche Beschreibung eines Kulturprojekte, dann muss man auch akzeptieren, dass zum einen der Qualitätsbegriff ein pluraler Begriff ist: Es gibt immer mehrere Qualitäten, die zu berücksichtigen sind. Zum anderen ist eine Entscheidung über die Wertigkeit dieser unterschiedlichen Dimensionen zu treffen, wobei unterschiedliche Qualitätsdimensionen von verschiedenen beteiligten Gruppen favorisiert werden und durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen können. Auch dies ist also mit einer Machtfrage darüber verbunden, welcher der Dimensionen (und damit welchen der beteiligten Menschen) man im Konkurrenzfall den Vorrang gibt: Legt man Wert auf eine hohe ästhetische Qualität (wie auch immer man diese definiert; s. u.) oder ist die pädagogische Qualität wertvoller? Ist es wichtig, dass man im Kostenrahmen bleibt und den Zeitplan einhält oder sind positive Entwicklungen bei den beteiligten Projektteilnehmerinnen und Teilnehmern wichtiger? Spielt es eine Rolle, wen man mit welchen Inhalten und Methoden erreicht, dann liefern auch diese Aspekte Bewertungskriterien. Es ist zudem – erwähnt - davon auszugehen, dass an einem Kulturprojekt ganz unterschiedliche Menschen beteiligt sind (diejenigen, die das Projekt anleiten; diejenigen die daran teilnehmen; diejenigen, die die finanzielle Seite bearbeiten, die das Projekt möglicherweise beantragt haben und die später für eine korrekte Abrechnung sorgen müssen; diejenigen, die es im Rahmen einer größeren Einrichtung integrieren und im Hinblick auf eine positive Öffentlichkeitsarbeit auswerten müssen etc.). Auch hierbei wird man feststellen müssen, dass es nicht bloß unterschiedliche Maßstäbe der Bewertung gibt, sondern dass es durchaus Spannungen oder sogar Differenzen zwischen den beteiligten Gruppen und ihren unterschiedlichen Interessenlagen gibt, die jeweils unterschiedliche Qualitätsmaßstäbe nahe legen.
Insgesamt muss man allerdings feststellen, dass die unmittelbar Beteiligten oft genug bei Qualitätsdiskussionen nur eine kleine Rolle spielen und es vielmehr Außenstehende sind (Fremdevaluation), die – gegen eine entsprechende Bezahlung (!) - das Beurteilungsgeschäft übernehmen. Daher ist die Studie Wimmer (2013) so bemerkenswert, weil sie die Beteiligten selbst zu ihren Qualitätsmerkmalen befragt. Doch wo kommen insgesamt Qualitätsmaßstäbe her?
Anmerkungen zur Herkunft von Qualitätsmaßstäben
Bei der Durchsicht der oben angeführten Qualitätsdimensionen erkennt man, dass einige dieser Qualitätsdimensionen leichter zu begründen und zu erfassen sind als andere. Insbesondere ist die Beurteilung der Einhaltung des Zeit- und Finanzierungsplanes oder die Beurteilung der Organisation des Projektes ohne größere Mühe möglich. Sehr viel schwieriger wird es allerdings bei der Frage nach der pädagogischen und/oder ästhetischen Qualität.
Bei der Frage nach der pädagogischen Qualität versucht man zurzeit das Problem mithilfe einer verstärkten Wirkungsforschung in den Griff zu bekommen. Man versucht, auf erfahrungswissenschaftliche Weise Erkenntnisse zu generieren und festzuhalten, aus denen wiederum Gelingens- und Erfolgsbedingungen für andere Projekte abgeleitet werden können. Allerdings stellt sich hierbei das Problem der Übertragbarkeit von Erfahrungen, wenn man will: ein spezifisches Transferproblem. Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Ergebnis dieser Forschungen sehr stark davon abhängt, auf welche Erfassungsmethoden man sich stützt. In einer wissenschaftstheoretischen Formulierung: Die Erfassungsmethoden konstituieren den Gegenstand, so dass eine Qualitätsdebatte, die sich auf diese Basis stützen will, sich intensiv auf eine Diskussion über die Reichweite und Seriosität von wissenschaftlichen Methoden einlassen muss. Methodenstreitigkeiten sind aber nicht bloß ein nüchternes Ringen um die besten Verfahren der Erkenntnisproduktion, es geht auch hierbei um Fragen des Deutungsrechtes und der Macht: Wer sein persönliches Forschungsparadigma durchsetzen kann, hat auch größere Chancen, an entsprechende Forschungsmittel zukommen. Man kann pauschal feststellen: Es gibt kein interessefreies Umgehen mit Fragen der Qualität, wobei es neben fachlichen Interessen immer auch andere Interessen gibt, über die man nicht so gerne spricht.
Die Frage nach pädagogischen Qualitätskriterien ist durchaus schwierig, wobei man nicht am Nullpunkt anfangen muss. So werden seit Jahren „kulturpädagogische Prinzipien“ diskutiert (Fehlerfreundlichkeit, Stärkenorientierung, Partizipation etc.), die immer wieder in der Praxis erprobt werden und die sich auf pädagogische Traditionen stützen können. Es scheint daher, dass das Problem ästhetischer Qualitätsmerkmale sehr viel komplizierter ist. Ein Blick nicht nur in die Realgeschichte der Künste, sondern auch in die Geschichte der Ästhetik und der jeweiligen Kunsttheorien zeigt nämlich, dass es sich bei diesen genannten historischen Prozessen keineswegs um harmonische Weiterentwicklungen des jeweils Vorhandenen handelt, sondern dass diese Entwicklungen sehr stark von Konflikten und Kämpfen um das Deutungsrecht geprägt wird, also darum, was als legitime Kunst (und Kunsttheorie/Ästhetik) zu gelten hat (Fuchs 2011). Es geht darum, wie man diese Prozesse in Theorie und Praxis erfasst, beschreibt und vor allem bewertet. Die Debatten über ästhetische Qualität finden also immer im Kontext unterschiedlicher, auch weltanschaulicher Auffassungen darüber statt, was „gute Kunst“ eigentlich ist und was man von ihr an Wirkungen erwarten kann (für ein Beispiel aus der Bildenden Kunst siehe Schneider 2011 und 2014; für die anderen Sparten gibt es ähnliche Werke).
Im Hinblick auf einen pädagogischen Umgang mit Kunst, um den es im Bereich der kulturellen Bildungsarbeit geht, stellt sich daher das Problem, dass man Antworten auf Fragen sucht, die selbst das jeweilige professionelle Feld der Künste und ihrer Reflektion kaum hinreichend und schon gar nicht abschließend beantwortet haben.
Doch selbst wenn es solche Antworten aus dem professionellen Kunst- und Kunstreflexionsfeld gäbe, wäre das Problem für die Pädagogik nicht gelöst. Denn man muss sich etwa überlegen, dass kaum das gesamte Kunstfeld, für das die jeweiligen Qualitätsmerkmale entwickelt worden sind, für pädagogische Zwecke genutzt wird. Das gilt insbesondere für solche Kunst-Aktivitäten, in denen die bestehenden Grenzen der Kunstwelt ausgelotet und überschritten werden ohne Rücksicht auf Gepflogenheiten, Benimmregeln, Moralschranken. So wird man Schwierigkeiten haben – um nur ein Beispiel zu nennen – die Wiener Aktionisten (Mühl, Nitsch u.a.) mit ihrem öffentlichen Bad in allen Körperflüssigkeiten und –ausscheidungen in pädagogische Kontexte einzubringen (Stichwort „Uni-Ferkeleien“). Man kann zwar einwenden, dass es sich ohnehin hierbei nicht um „Kunst“ gehandelt habe, doch wendet man dann selbstgewiss einen normativen Kunstbegriff an, der wiederum problematisch und zumindest begründungsbedürftig ist.
Qualitäten als normative Festlegungen
Der im letzten Abschnitt angesprochene Weg, über (z.T. systematisch erarbeitete) Erfahrungen zu Qualitätsstandards zu kommen, handelt sich – neben den erwähnten Problemen – auch ein weiteres fundamentales erkenntnistheoretisches Problem ein: Es gilt nämlich als unzulässig, aus dem Sein auf ein Sollen zu schließen. Man hat es vielmehr mit normativen Festlegungen zu tun, was bedeutet, dass das komplizierte Feld von Begründungstheorien von Normen berührt wird. Auch aus diesem Grund, weil nämlich die normative Setzung von Qualitätsstandards eigentlich ein solch hohes Maß an Begründungen erfordern würde, das man gerade in der pädagogischen Praxis kaum einhalten kann, gibt es eine ständig wachsende kritische Diskussion über den Qualitätsbegriff. Diese kritische Sichtweise geht etwa soweit, dass in einem umfangreichen Evaluationsprojekt zu dem Thema Kultur und Schule die wissenschaftliche Begleitung (Mörsch 2014) erst gar nicht den Qualitätsbegriff verwendet, sondern sehr viel vorsichtiger „Arbeitsprinzipien“ in einer Weise formuliert, die jede dezisionistische Setzung vermeidet. Allerdings hat auch diese vorsichtige Vorgehensweise das Problem der Begründungsnotwendigkeit, die es im pädagogischen Feld eben auch bei der Rede (und Begründung) von „Prinzipien“ gibt (Fuchs 1984). Es ist daher kein Wunder, dass man in der Theorie und Praxis der kulturellen Bildung umfangreichere Begründungen von Qualitätsmerkmalen lieber umgeht mit der Folge, dass es von unbegründeten Setzungen nur so wimmelt. Bestenfalls gibt es eine „Legitimation durch Verfahren“ (N. Luhmann), wenn man sich nämlich vorher auf bestimmte Merkmale mit den Betroffenen geeinigt hat bzw. das Projekt an selbstgesetzten Zielen misst.
So formuliert der Rat für kulturelle Bildung (2014, 44f.), der durchaus von seinen Initiatoren her die Ambition hat, Einfluss auf die politische Gestaltung von Rahmenbedingungen nehmen zu wollen, gleich 13 „Qualitätsmerkmale aus dem Diskurs über Kunst und die Künste“ (Seite 42), und er schreibt: „Dabei sind die Überlegungen bewusst knapp und ohne ausdrückliche Berücksichtigung der Forschungsliteratur gehalten.“ (ebd.) Es folgt dann eine Liste von sehr allgemein gehaltenen Merkmalen, von denen man behauptet, dass sie charakteristisch seien für einen Umgang „des Menschen“ mit „den Künsten“. Weder wird erläutert, ob alle Merkmale für alle Künste zu allen Zeiten an jedem Ort gelten, noch wird darüber informiert, ob diese vermutlich aus verschiedenen Ästhetik-Konzeptionen und Kunsttheorien gesammelten Merkmale eine pädagogische Relevanz haben und wie ihr Verhältnis zu pädagogischen Qualitätskriterien ist. Es wird generell von „dem Menschen“ gesprochen, der dies oder jenes in „den Künsten“ erlebt oder zu erleben hat.
Damit verstößt der Rat in sehr grundsätzlicher Weise gegen einen der roten Fäden seiner ersten Publikation (2013), in der er mit erheblicher Vorwurfshaltung beklagt, dass in der kulturellen Bildungsarbeit (bei Wirkungsfragen) zu viel behauptet und gesetzt wird, ohne sich um sorgsame Begründungen zu kümmern. Nun setzt er selbst einen Katalog willkürlich herausgegriffener Qualitätsmerkmale ohne Begründung in die Welt, der die hier vorgestellte Komplexität des Qualitätsproblems kultureller Bildungsarbeit auch nicht annähernd einlöst. Insofern ist dieser Katalog ein Beispiel dafür, wie man ernsthaft mit der Qualitätsfrage gerade nicht umgehen darf. Gefährlich wird dieser Katalog zudem dadurch, dass sehr schnell aus Qualitätskriterien Förderkriterien werden, weil die Politik möglicherweise nicht die Geduld aufbringt, auf eventuell nachgereichte sorgfältige Begründungen zu warten und die Autorität des Rates bereits für eine hinreichende Begründung häl.
Nun versteht der Rat seine Liste von Qualitätskriterien als ´Anstoß für eine ernsthafte und nachhaltige Debatte`(42), so dass einige weitere Hinweise folgen sollen. Eine erste Feststellung bezieht sich darauf, dass die 13 Merkmale offensichtlich aus Debatten aus der philosophischen Ästhetik und der Kunsttheorie stammen. Das heißt, sie sind (im besten Fall) ursprünglich eingebettet in sorgsame Argumentationen und beziehen sich auf ein definiertes Kunstfeld. In der Ratspublikation sind sie jedoch dekontextualisiert und dadurch in einer Form verallgemeinert, die zumindest begründungspflichtig ist. Es ist zudem zu fragen, wieso man dem Zugang über den philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs den Vorzug gibt, zumal es – gerade im Hinblick auf das Hauptthema der Teilhabe - nahe liegen würde, eine soziologische Ästhetik (etwa von Pierre Bourdieu) zurate zu ziehen, für die das Teilhabethema ein größeres Problem ist als für die Philosophie. Auch eine psychologische Ästhetik wäre für pädagogische Zusammenhänge durchaus relevant, da die sinnliche Seite in ästhetisch-künstlerischen Praxen eine zentrale Rolle spielt.
Zudem ist bei einzelnen Merkmalen ein weiteres Nachfragen notwendig.
So wird etwa von Leiblichkeit als wichtigem Arbeitsprinzip gesprochen. Doch engt die Konzentration auf eine Bildung im Medium der Künste (8) das Arbeitsfeld so ein, dass etwa etablierte kulturpädagogische Arbeitsformen wie Spiel- und Zirkuspädagogik als leiborientierte Arbeitsformen herausfallen und eine eher weniger leibbezogene traditionelle Kunstform wie Literatur im Blickfeld bleibt.
Die erlebbare Gestaltungsmacht aller Beteiligten, die den an Künsten beteiligten Menschen pauschal unterstellt wird, ist ebenfalls kaum bei jedem Regie-Titanen oder Choreographen zu finden, für den die Schauspieler/innen oder Tänzer/innen bloß sprechende oder tanzende Werkzeuge sind. Auch das vielgerühmte Educationprojekt der Berliner Philharmoniker hat mit Partizipation nichts zu tun. Die teilnehmenden Jugendlichen können höchstens entscheiden, ob sie aussteigen wollen. Der Allgemeingültigkeitsanspruch des Textes bezieht diese aber ausdrücklich mit ein.
Solche Probleme lassen sich auch bei anderen Merkmalen feststellen. Sie kommen dadurch zustande, dass undifferenziert verallgemeinert wird. Möglicherweise stimmen all diese Merkmale für das Kunstverständnis des Rates. Doch wird dieses an keiner Stelle geklärt, so dass man die Stimmigkeit der Setzungen selbst im Kontext der Vorstellungen des Rates nicht überprüfen kann.
Welchen Wert hat vor diesem Hintergrund der Merkmalskatalog? Zunächst ist er kaum mehr als eine Zuschreibung von Etikettierungen von „Kunst“, wie man sie in vielen Projektbeschreibungen in der Praxis auch finden kann. Die Merkmale sind mehr oder weniger plausibel, reproduzieren in der Art ihrer Präsentation jedoch lediglich bestimmte Annahmen oder Vermutungen darüber, was „Kunst“ ist oder sein sollte (in den Augen der Autoren). Sind sie schon in der ästhetischen oder kunsttheoretischen Debatte problematisch, so fehlt vollständig ein Hinweis darüber, welche pädagogische Relevanz solche aus der Kunsttheorie importierten Merkmale haben. Es entsteht der Eindruck, als ob Pädagogik im Feld der so verstandenen kulturellen Bildung bloß „Kunsttheorie light“ ist.
Dahinter steckt allerdings ein Problem der gesamten derzeitigen Debatte über kulturelle und ästhetische Bildung. Denn bei vielen Einlassungen wird vorausgesetzt, dass es eine positive Korrelation zwischen ästhetischer und pädagogischer Qualität gäbe. Gerade in Deutschland ist eine solche Annahme sehr verbreitet, da sie letztlich auf die im frühen 19. Jahrhundert entstandenen Ideologien einer Kunstreligion und eines Künstlermythos zurückzuführen sind: Kunst und Künstler werden es schon richten, gleichgültig, um welches Problem es sich handelt. Dies gilt dann auch für pädagogische Fragen (Ehrenspeck 1998, Auerochs 2006). Das Problem ist, dass es nicht nur schwierig ist, die Grundbegriffe zu klären, ohne auf entsprechende ideologische Annahmen zurückzugreifen: Es gibt auch kaum Forschungen zu diesem Zusammenhang zwischen ästhetischer und pädagogischer Qualität.
Einige Anmerkungen zum ästhetischen Gegenstand
Im Hinblick auf die Bestimmung von ästhetischen Qualitäten kommt es entschieden darauf an, an welcher künstlerischen Praxis und an welchem ästhetischen Gegenstand man sich orientiert. Die Geschichte der Künste war – wie erwähnt - immer schon und mit sich vergrößernder Beschleunigung in den letzten 150 Jahren ein Kampf von miteinander konkurrierenden Paradigmen. Dies gilt auch für die Fülle an Ästhetik-Entwürfen, Kunsttheorien und Künstlerprogrammen. Dies hat sich in den letzten Jahren sogar noch verschärft. Stichworte sind „Ästhetisierung des Alltags“ oder „Entgrenzung der Künste“. In diesem Prozess sind – in der bildenden Kunst spätestens mit dem Werk von Duchamp – essentialistische Wesensbestimmungen von Kunst und sogar der Werkbegriff insgesamt obsolet geworden oder zumindest unter erheblichen Begründungsdruck geraten. Die philosophische Ästhetik reagiert auf diese Entwicklungen (z. B. Welsch, Böhme oder der Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der FU Berlin). Ästhetiken aus psychologischer oder soziologischer Sicht hatten ohnehin immer schon eine weitere Perspektive auf ihren Gegenstand.
Für die Pädagogik heißt dies m. E., dass man insbesondere unter dem Leitmotiv einer „ästhetischen Alphabetisierung“ diese Entwicklungen in Theorie und Praxis der Künste und des Alltags ernst nehmen muss. Ästhetik wird so zu einem interdisziplinären Projekt, das sich im Hinblick auf das Subjekt insbesondere mit dem Komplex Wahrnehmung/Erfahrung auseinander setzen muss und das insbesondere die (kommerzielle) Popkultur ins Auge fassen muss (Allesch 2006, Hügel 2007). Mir scheint daher der Vorschlag plausibel zu sein, sich damit auseinander zu setzen, was eine „pädagogische Ästhetik“ als pädagogisch relevante Disziplin sein könnte (so Bernhard 2011, Fuchs 2014).
Schlussbemerkung
Gerade die erwähnte Publikation des Rates zeigt nicht nur, wie schwierig es selbst für einen Kreis von Experten und Expertinnen ist, die Komplexität der Qualitätsfrage angemessen einzuholen, sie zeigt auch deutlich auf, dass es bei der Debatte über Qualität wesentlich um die Frage nach dem Deutungsrecht im Feld der kulturellen Bildung geht. Damit wird aber notwendigerweise die fachliche Debatte überlagert durch eine politische Debatte.