Prozesse der Politik und Hierarchisierung von Wissen in der kulturellen Bildung
Eröffnungsvortrag bei der Jahrestagung der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online zum Thema „Wissensformen Kultureller Bildung - Differenz, Deutungsmacht und Transfer zwischen Künsten, Wissenschaft und pädagogischer Praxis“ am 26.4.2017 in Wolfenbüttel.
Vorbemerkung
Das Konzept der Wissensgesellschaft hat sich in den letzten Jahren als Beschreibung unserer modernen Gesellschaft verbreitet. Von seinem sachlichen Kern her geht es dabei darum, dass die traditionelle Industriegesellschaft an Relevanz verloren hat und nunmehr Bereiche, die mit Wissen im weitesten Sinne zu tun haben, im Vordergrund stehen. Es wurden unterschiedliche Konzepte von Wissensgesellschaft entwickelt, wobei die Bedeutung dieses Konzeptes neben unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugriffen vor allen Dingen in der Politik eine zentrale Rolle spielt. So ist die Rede von einer Wissensgesellschaft heute wesentlich ökonomisch konnotiert, wobei es enge Beziehungen zu einer neoliberalen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik gibt (vgl. etwa Engelhardt/Kajetzke 2010 sowie aus einer kritischen Perspektive Brüchert/Resch2002).
Obwohl die „Wissensgesellschaft“ zu den aktuellen soziologischen Zeitdiagnosen der modernen Gesellschaft gehört, kann man die Rolle des Wissens und des Umgangs mit Wissen auch in früheren Gesellschaftsformen untersuchen. Dies soll im Folgenden am Beispiel der ersten Kapitel im ersten Buch Moses des Alten Testamentes geschehen. Dabei werde ich versuchen, am Beispiel dieser Erzählung einige systematische Aspekte dieser frühen Wissensgesellschaft zu entwickeln.
Ein erster Aspekt ist bereits ein wissenschaftsmethodischer: Im Rahmen einer historisch-systematischen Analyse eines bestimmten Sachverhaltes – hier: dem Umgang mit Wissen – versucht man, in bestimmten historischen Situationen Aspekte zu finden, die für eine systematische Beschreibung des Sachverhaltes relevant sind.
Teil 1: Das „Paradies" als Wissensgesellschaft
Bekanntlich schuf Gott Himmel und Erde, er schuf den Tag und die Nacht, er schuf die Meere und das Land und die Tiere, die im Wasser, an Land und in der Luft lebten (alles 1. Buch Moses: 1,1ff.). Am letzten Tag schuf er den Menschen („ihm zum Bilde“), nannte ihn Adam und schuf aus seiner Rippe als seine Begleiterin Eva. Über die Lebensweise der beiden wird nicht viel gesagt. Offenbar arbeitet Adam auf dem Felde, wobei beide vegetarisch leben. Denn erst zu einem späteren Zeitpunkt erlaubt Gott den Menschen, Fleisch zu essen.
Eine weitere systematische Frage besteht darin, woher wir diese Informationen beziehen. Es geht um das Alte Testament der Bibel, wobei man berücksichtigen muss, dass eine schriftliche Überlieferung erst zu einem Zeitpunkt eintrat, als es schon zahlreiche mündliche Überlieferungen gegeben hat. Man muss daher fragen, wie zuverlässig die Quellen sind: Eine Kritik der Quellen ist Standard eines wissenschaftlichen Vorgehens (zweiter Aspekt).
Als ausgesprochen wichtiges Lebewesen in diesem Paradies muss die Schlange gesehen werden. Diese war „wichtiger als alle Tiere auf dem Felde“ (1. Buch Moses: 3,1). Sie verführte Eva dazu, von dem Baum der Erkenntnis zu naschen, was Gott zuvor ausdrücklich verboten hat.
Auch dies ist in systematischer Hinsicht hochrelevant: Das Paradies ist offensichtlich kein rechtsfreier Raum, es gibt jemanden, der in der Lage ist, Verbote auszusprechen, es gibt Verbote und damit Regeln des Zusammenlebens (dritter Aspekt), es gibt – in bildungssoziologischer Hinsicht – mit dem Verbot, von den Früchten des bestimmten Baumes zu essen, auch ein Bildungsmonopol, das in diesem Falle Gott innehat (vierter Aspekt). Francis Bacon formulierte später: Wissen ist Macht, was zur Folge hatte, dass man sich sehr genau über die Verteilung des Wissens Gedanken machte.
In systematischer Hinsicht ist zudem interessant, dass man die Verführung von Eva durch die Schlange als Verführung zum Wissen auffassen kann, also als spezifischen pädagogischenr Akt (fünfter Aspekt). Dass diese Verführung funktioniert hat, hat offensichtlich mit einer anthropologischen Grundbedingung zu tun: Die Schlange konnte sich nämlich als Pädagogin sowohl auf die Neugierde von Eva als auch auf deren Widerständigkeit berufen. Die Neugierde zeigt sich darin, dass Eva der Verführung erlag. Die Widerständigkeit wiederum zeigt sich darin, dass sie es wagt, gegen ein klares Verbot zu verstoßen: Eva kann als erste betrachtet werden, die das Bildungsmonopol durchbricht (sechster Aspekt). Die Schlange muss zudem als ausgesprochen erfolgreiche Pädagogin betrachtet werden, da sie mit ihrem Verführungsversuch Erfolg hat.
Als nächster Schritt überzeugt Eva Adam davon, ebenfalls von dem Baum zu naschen. Auch dies ist in systematischer Hinsicht interessant: Es geht um das Teilen von Wissen, denn offenbar macht geteiltes Wissen Spaß und ist die Basis eines sozialen Zusammenhangs (siebter Aspekt). Eva kann ihr Wissen umso leichter teilen, als es sich bei Wissen um eine spezielle Ressource handelt: Diese wird bei einer Aufteilung nicht weniger (achter Aspekt).
Auch der Gegenstand des Wissens ist interessant: Es geht um die Erkenntnis der Nacktheit. Diese Erkenntnis zieht ein Handeln von Adam und Eva nach sich: Sie produzieren Kleidung. Wissen bleibt also nicht folgenlos bloß im Kopf, sondern es hat Handlungen zur Folge (neunter Aspekt). Diesen Handlungen liegt eine Scham über die Nacktheit zu Grunde, so dass man bereits jetzt bilanzieren kann: Wissen hat eine moralische Dimension, es hat eine politische und rechtliche Dimension, Wissen ist zudem verbunden mit einer spezifischen Lebensweise (zehnter Aspekt).
Gott hat dieses Übertreten seiner Regeln nicht hingenommen, er hat vielmehr drakonische Strafen ausgesprochen. In systematischer Hinsicht bedeutet dies: Wissen kann gefährlich sein (elfter Aspekt). Man riskiert etwas, wenn man etwas wissen will, sodass in der Tat die Überlegung rational ist, über bestimmte Dinge vielleicht besser kein Wissen haben zu wollen (zwölfter Aspekt).
In einer theologischen Perspektive wiederum kann man sich fragen, wieso Gott überhaupt einen solchen Baum in das Paradies stellt, wenn er nicht haben will, dass davon gegessen wird. Eine oft zu hörende Antwort besteht darin, dass der Mensch (aufgrund der Ebenbildlichkeit Gottes) mit einem freien Willen ausgestattet ist, der wiederum die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens bietet. Selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen bedeutet aber auch, Fehler machen zu können. Es hat also etwas zu tun mit der Verantwortung sowohl für das Leben in der spezifischen Gemeinschaft (die paradiesische Form wird nämlich von Gott als eine Strafmaßnahme sofort beendet) als auch für das eigene Leben. Ich muss also stets entscheiden, was ich überhaupt worüber wissen will (13. Aspekt).
Zu den vielfältigen Strafen, die Gott ausspricht, gehört nicht nur, dass die Schlange nunmehr kriechen muss (offenbar bewegte sie sich vorab auf Beinen, entgegen vielen klassischen Darstellungen der paradiesischen Situation). Adam muss im Schweiße seines Angesichts nunmehr Landwirtschaft betreiben und Eva muss ihre Kinder unter Schmerzen gebären. Zudem wird eine Todfeindschaft zwischen Mensch und Schlange zementiert: Die Schlange kann den Menschen beißen, der Mensch wiederum kann diese zertreten.
Hier wird deutlich, was in der Etymologie von Arbeit (insbesondere in der französischen Sprache) ganz klar zum Ausdruck kommt: die Herkunft des Begriffs der Arbeit aus dem Begriff der Folter. Immerhin wird durch die neuen Hindernisse, die die landwirtschaftliche Arbeit nunmehr mit sich bringt, neues Wissen erforderlich. Man kann daher den Ausstoß aus dem Paradies als Beginn von „Kultur“ verstehen, wenn Kultur bedeutet, dass der Mensch die Welt nach eigenen Bedürfnissen einrichtet. Bei dieser Welteroberung stellt der Mensch aber fest, dass er die meisten Dinge, mit denen er es zu tun hat, noch nicht kennt. Auch dies lässt sich systematisch formulieren: Wissen generiert Nichtwissen, Wissen und Nichtwissen sind also keineswegs ein Null-Summen-Spiel, vielmehr ist das Nichtwissen umso größer, je größer das Wissen wird (14. Aspekt). Es gibt zudem unterschiedliche Gegenstände, über die Wissen gebraucht wird: Es geht um Wissen über die Natur, es geht um moralisches und juristisches Wissen über Regeln und Gesetze, es geht um das soziale Wissen über die Partner, und nicht zuletzt geht es auch um Wissen über sich. All dies erfasst ein Bildungsbegriff, so wie er spätestens seit Humboldt im Gespräch ist: Bildung als bewusste Beziehung zu sich, zur Welt, zur Geschichte, zu Kultur und zum Sozialen. Dies ist deshalb nicht verwunderlich, weil Kultur als objektive Seite von Bildung und Bildung als subjektive Seite von Kultur betrachtet werden kann. Wenn also der Ausstoß aus dem Paradies der Beginn von Kultur ist, dann ist dies zugleich auch der Beginn von Bildung (15. Aspekt).
Kommen wir zurück zu der Frage, woher überhaupt dieses Wissen über Adam und Eva stammt. So gibt es heute Milliarden von Menschen, die den Formulierungen der Bibel folgen. Es gibt aber auch Milliarden von Menschen, die der Darstellung in der Bibel nicht glauben. Diese Zweifel an dem Realitätsgehalt der Bibel sind durchaus berechtigt, wenn man sich etwa die Geschichte dieses spezifischen Buches anschaut. Es geht um Narrationen und Überlieferungen, von denen man weiß, dass sie grundsätzlich problematisch sind. Man weiß, dass der Textumfang der Bibel ständig revidiert wurde, es fanden Konzile statt, in denen immer wieder erneut festgelegt wurde, was nunmehr kanonische und akzeptierte Texte seien und welche Texte aufgrund nachgewiesener Fälschungen ausgeschlossen werden müssen: Es geht um Prozesse der Anerkennung (16. Aspekt). Zudem geht es um die Grundsatzfrage, in welcher Weise Glaube und Wissen zusammenhängen.
Offenbar ist es möglich, dass Glaube und Wissen im Menschen in harmonischer Eintracht nebeneinander zusammenliegen. So gibt es prominente Naturwissenschaftler wie Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg oder Max Planck, die sich in hohem Maße um die Entwicklung von Wissenschaft verdient gemacht haben, die aber zugleich gläubige Christen waren. Es gibt Teilhard de Chardin, einen katholischen Biologen, der versucht hat, den Katholizismus mit der Evolutionstheorie zu versöhnen. Es gibt also zumindest zwei Wahrheiten, die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit des Wissens. Informiert man sich über diese Frage etwas ausführlicher, so wird man damit konfrontiert, dass in der Erkenntnis- und in der Wissenschaftstheorie eine Fülle von Wahrheitstheorien und Wahrheitskriterien existieren, die nicht miteinander kompatibel sind.
Eine Möglichkeit, die am Beispiel der Geschichte von Adam und Eva entwickelten systematischen Dimensionen in einem philosophischen Interesse in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, ist die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer (1990). Cassirer beschreibt, dass der Mensch unterschiedliche Formen der Welt- (und Selbst-) Verhältnisse entwickelt, nämlich Wissenschaft und Technik, Ökonomie und Politik, Sprache, Kunst, Religion und Mythos. All diese Modi der Weltwahrnehmung und Weltgestaltung sind notwendig, sie erfassen jeweils die Welt als Ganzes, aber jeweils unter einem spezifischen Blickwinkel (Cassirer spricht von einem Brechungsindex). Die Funktion all dieser symbolischen Formen ist die gleiche: Es geht darum, Ordnung in der Welt zu schaffen, es geht um Weltdeutung und Welterkenntnis, und dies jeweils in der praktischen Absicht, das Handeln zu orientieren. Es geht um die Konstruktion einer Sinnhaftigkeit, weil offenbar der Mensch anthropologisch so beschaffen ist, dass er seinem Sein in der Welt einen Sinn verleihen muss.
Fazit von Teil 1: Das Beispiel des Paradieses hat gezeigt ...
- „Wissen“ hat viele Dimensionen jenseits von wahr und falsch: nämlich erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische, politische, soziale, moralische, historische, religiöse und mythologische, historische etc. Aspekte.
- Wissen hat es mit der Frage von Anerkennung zu tun. Das bedeutet:
- Wissen ist kontextabhängig, Wissen ist möglicherweise nur das, was man dafür hält.
- Wissen hat eine anthropologische Basis: Neben der Fähigkeit, Wissen zu generieren, geht es um Neugierde, Emotionalität, Moral und Ästhetik. Wissen ist also keineswegs nur eine kognitive Erscheinung.
- Wissen ist politisch. Wissen hat es mit Macht zu tun, ganz so wie es Francis Bacon im 17. Jahrhundert und Karl Liebknecht im späten 19. Jahrhundert formuliert hat: Wissen ist Macht. Dies ist auch der Grund dafür, dass man mit der Verteilung von Wissen vorsichtig umgeht: Mit der Entstehung von Wissen entsteht auch das Bildungsmonopol (Alt 1973).
- Wissen schließt Nichtwissen ein. Es geht um das Wissenwollen, es geht aber auch darum, nicht alles wissen zu können, es geht darum, vielleicht besser auch nicht alles wissen zu wollen, nicht alles wissen zu dürfen. Letzteres wird etwa mit der Unterteilung in exoterisches und esoterisches Wissen erfasst. Dies lässt sich schon in einem frühen Beispiel bei dem Sektengründer und -führer Pythagoras in Süditalien feststellen. Seine Ontologie basierte darauf, dass sich alles in Brüchen ganzrationaler Zahlen darstellen ließe. Sein berühmtestes Beispiel ist der Monocord, bei dem man zeigen kann, dass die Tonhöhe abhängt ist von der Länge der Saite. Pythagoras trennte allerdings sehr stark das Wissen, das die Pythagoräer in pädagogischer Absicht weitergaben, von dem Wissen, das nur ein innerer Kreis seiner Sekte kennen durfte. Insbesondere betraf dies die Situation, dass man herausfand (eben durch den Satz des Pythagoras), dass die Länge der Diagonale eines Quadrates mit der Seitenlänge eins, nämlich die Wurzel aus zwei, sich nicht als Bruchzahl ganzrationaler Zahlen darstellen lässt. Damit bricht das gesamte philosophische Weltbild von Pythagoras zusammen und deshalb versuchte man, dies geheim zu halten. Letztlich ist dies nicht gelungen und es gibt abenteuerliche Geschichten darüber, wie ein Verräter dieses Wissen der Außenwelt über eine abenteuerliche Flucht mitgeteilt hat.
- Manchmal genügt die Behauptung von Wissen. Man erinnere sich an Schamanen und Priester von Stämmen, die behaupteten, sehr genau zu wissen, wie man sich die jeweiligen Götter gewogen machen kann. Dazu war die Kenntnis umfangreicher und komplizierter Rituale notwendig, was wiederum die Forderung zur Folge hat, dass diese Priester und Schamanen von der täglichen Arbeit freigestellt werden müssten. Man denke etwa auch an das umfangreiche Wissen, das professionelle Astrologen oder im Mittelalter Vertreter der Alchemie und der schwarzen Künste beherrschen mussten. Kurz: Es kann auch eine hohe Expertise in zweifelhaften Feldern geben.
- Man kann die Punkte 1-7 so zusammenfassen, dass zu dem Wissen auch ein Wissen über das Wissen, also Meta-Wissen gehören muss. Wissen muss selbstreflexiv sein, wenn es als Wissen anerkannt werden soll. Dies macht letztlich auch den Unterschied zwischen Information und Wissen aus.
- Auf der Basis unterschiedlicher Wahrheitskriterien muss man von einer grundsätzlichen strukturellen Unsicherheit im Umgang mit Wissen ausgehen. Eine manipulative Nutzung ist nie ausgeschlossen, wie man etwa an dem Terminus „alternativer Fakten“ (also eigentlich: glatten Lügen) im Kontext des neuen amerikanischen Präsidenten sehen kann. So fragt das Time-Magazin in seiner Ausgabe vom 3.4.2017: Is Truth Dead?
- Insbesondere muss man sehen, dass Wissen möglicherweise ein Haltbarkeitsdatum hat mit der Folge, dass es ein Recht auf Irrtum geben muss. Behauptungen und Aussagen müssen korrigierbar sein und Handlungen, die darauf basieren, müssen rückgängig gemacht werden können
Teil 2: Einige Probleme
1. Anmerkungen zur philosophischen Dimension von Wissen
Ein Philosoph, der interessante Hinweise zum Umgang mit Wissen gegeben hat, ist zugleich einer der schillerndsten Gestalten in der Geschichte der Philosophie. Er musste mehrfach die Universität wechseln, weil er Skandale provoziert hatte. Er wechselte öfter seine Religion und er hatte einen gewissen Hang dazu, um verheiratete Frauen – auch von Kollegen – (oft mit Erfolg) zu werben. Es geht um Max Scheler, einem der Begründer der philosophischen Anthropologie. In unserem Kontext ist das Buch „Wissensformen der Gesellschaft“ (zuerst 1926) interessant, in dem er die folgende Dreiteilung vorschlägt:
- Leistungs- und Herrschaftswissen (in Bezug auf die Natur)
- Bildungswissen (in Bezug auf die Ausformung der Persönlichkeit)
- Erlösungs- und Heilswissen (im Hinblick auf die religiöse Dimension des Lebens).
Auf die eingangs formulierten Hinweise auf Max Schelers abenteuerliches Leben komme ich später zurück.
Eine weitere relevante Unterscheidung betrifft Professionswissen, Alltagswissen und Laienwissen. Jede dieser Wissensformen ist notwendig und wird praktiziert, jede hat allerdings auch eine bestimmte Problematik. So kann Professionswissen, über das Experten verfügen, dazu führen, dass demokratische Handlungsweisen zugunsten einer Expertokratie abgebaut werden.
Man kann zudem theoretisches, historisches und praktisches Wissen unterscheiden. Es gibt die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen. Bei implizitem Wissen kann man zwar auch an das Wissen denken, das der Mensch durch das Handeln in bestimmten Situationen inkorporiert hat (was in der Terminologie von Pierre Bourdieu zu einem bestimmten Habitus führt). Insbesondere können und müssen sich Menschen, die beruflich mit ihrem Körper arbeiten, auf dieses inkorporierte Wissen verlassen, das quasi automatisch in bestimmten Handlungssituationen zur Verfügung steht.
Ein solches inkorporiertes Wissen gibt es allerdings auch als Wissen der Dinge. Dies hat schon sehr früh Marx im Anschluss an Hegel erläutert, nämlich mit der These der Aneignung und Vergegenständlichung. Der Mensch vergegenständlicht seine geistigen Kräfte in der Gestaltung seiner Umwelt, weswegen Marx etwa von der Industrie als aufgeschlagenem Buch menschlicher Wesenskräfte spricht. Menschen eignen sich wiederum dieses Wissen, das in den Dingen inkorporiert ist, an durch einen tätigen Umgang mit diesen Dingen. Dies ist ein wesentliches pädagogisches Prinzip, das offenbar im Moment in der Pädagogik unter dem Label „Wissen der Dinge“ neu entdeckt wird (vgl. Fuchs 2017).
Oben wurde bereits die Vielfalt von Wahrheitstheorien angesprochen. So ist es eine Theorie und ein Kriterium der Wahrheit, dass das Wissen in seiner Anwendung funktioniert (dies liegt etwa dem Instrumentalismus des amerikanischen Pragmatismus – John Dewey – zugrunde). Wissen wird Wahrheit zugesprochen, wenn es in einem sozialen Kontext akzeptiert wird. Dies ist die sogenannte Konsenstheorie von Wahrheit. Wissen wird gelegentlich nur von bestimmten Gruppen von Menschen akzeptiert, von anderen allerdings abgelehnt. Man erinnere sich etwa an den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie zwischen Adorno und Popper, die sich wechselseitig absprachen, mit ihren jeweiligen Erkenntnisweisen wissenschaftliches Wissen zu produzieren.
Es gibt gewisse Gütekriterien wissenschaftlichen Wissens: Es sollte allgemeingültig sein, es gibt eine Beleg- und Beweispflicht, wobei es auch hier unterschiedliche Verfahren gibt (etwa induktives oder deduktives Vorgehen). Es gibt die bekannten Gütekriterien empirischer Forschung (Objektivität, Reliabilität, Validität). Es gibt den Vorschlag von Karl Popper, bei Hypothesen und Behauptungen nicht Belege für ihre Richtigkeit zu suchen, sondern zu versuchen, sie zu widerlegen (Fallibilismus). Man erinnere sich an die Erkenntnis des Naturwissenschaftshistorikers Thomas Kuhn, der auch im Hinblick auf naturwissenschaftliche Theorien zeigte, dass diese kein allgemeingültiges und ewiges Wissen produzieren, sondern dass es auch hier Paradigmen gibt, die sich im Laufe der Zeit verändern können. Paradigma lässt sich etwas salopp mit dem Begriff der Mode übersetzen, wobei es wichtig ist, dass diese Paradigmen selbst dann weiterleben, wenn sie überzeugend als falsch nachgewiesen wurden.
All diese Aspekte (und viele mehr) wird man berücksichtigen müssen, wenn man nunmehr systematisch über das „Wissen der Künste“ nachdenkt. Insbesondere geht es darum, inwieweit das Wissen und speziell ästhetische Wert- und Geschmacksurteile Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Genau dies war etwa eine der Hauptfragen in Kants Kritik der Urteilskraft (1974). Denn auch er dachte sehr lange Zeit, dass man über Geschmack nicht streiten könne (eben weil er bloß individuelle Urteile ausspricht). Vor diesem Hintergrund sind zwei seiner Ansätze interessant: zum einen die Einführung eines sensus communis aestheticus, also eines ästhetischen Gemeinsinns, der insofern wirksam wird, als bei jedem individuellen ästhetischen Urteil quasi im Hintergrund im Subjekt ästhetische Urteile der Gemeinschaft als Reflexionsfolie dienen (ebd.: § 40). Und eine zweite Schlussfolgerung von Kant ist wichtig: Ästhetische Urteile unterscheiden sich nämlich dadurch von den apodiktischen Urteilen in der Wissenschaft, dass sie lediglich ein Angebot darstellen mit der Bitte, das jeweilige Urteil zu übernehmen (§§ 1 bis 6).
2. Zur soziologischen Dimension von Wissen
Bereits bei den Hinweisen auf die Feststellung von Bacon („Wissen ist Macht“) wurde deutlich, dass die Frage des Zugangs zu und der Verteilung von Wissen eine hohe Relevanz hat. Dies gilt insbesondere in der Pädagogik, in der immer wieder entschieden werden muss, wer welches Wissen in welchen Bildungseinrichtungen vermittelt bekommen soll. Die revolutionäre Forderung des Zeitgenossen von Francis Bacon, Johann Comenius, Mitte des 17. Jahrhunderts, dass man nämlich alle alles lehren solle, ist bis heute ein schöner Traum geblieben. Man hat vielmehr ein mehrgliedriges Schulsystem eingerichtet, bei dem schon strukturell eine Aussortierung von Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf zu vermittelndes Wissen vorgenommen wird.
Im Kontext der obigen Erwähnung von Max Scheler habe ich auf seine abenteuerliche Biografie hingewiesen. Man kann zu Recht fragen, ob diese Hinweise überhaupt notwendig waren, um seine systematischen Erkenntnisse im Hinblick auf Wissen zu präsentieren. Eigentlich ging es bei diesen Informationen doch nur um Klatsch und Tratsch. Mit den Worten von Bourdieu (1987) kann man hier von legitimen und illegitimen Wissen sprechen: Man kann zum einen fragen, welches Wissen in speziellen Kontexten nötig und welches überflüssig ist, man kann zudem fragen, welches Wissen, über das man verfügt, in welchen Kontexten überhaupt mitgeteilt werden darf. So ist es durchaus verpönt, sich bei einer Vernissage experimenteller Kunst, die traditionellerweise nur von bestimmten Gruppen der Bevölkerung besucht wird, lautstark und ausführlich über das Ergebnis des letzten Formel-1-Rennens oder über die aktuelle Bundesligatabelle zu äußern.
An dieser Stelle hilft auch ein Hinweis auf den Hamburger Englisch-Professor Dietrich Schwanitz. Zur Erinnerung: Dieser hat unter anderem den Roman Campus geschrieben, der mit Heiner Lauterbach in der Hauptrolle verfilmt wurde. Heiner Lauterbach war seinerzeit liiert mit Jenny Elvers, die wiederum eine Liaison mit einem Teilnehmer aus der ersten Staffel von Big Brother hatte, was Heiner Lauterbach nicht begeisterte. Auch hier ist die Frage: Ist das notwendiges Wissen oder ist es nicht vielmehr ein Beispiel für ein – in unserem Zusammenhang – völlig illegitimes Wissen. Dietrich Schwanitz hat nämlich neben dem Roman Campus auch das in hoher Auflage verkaufte Buch „Bildung – alles was man wissen muss“ geschrieben. Dieses enthält im ersten Teil eine Art Kanon von Wissenselementen aus verschiedenen Bereichen, die Schwanitz für unverzichtbar hielt. Im zweiten Teil wiederum gibt er eine Art Gebrauchsanweisung für dieses Wissen und erklärt ganz praktisch den Unterschied zwischen legitimem und illegitimem Wissen. Genau aus diesem Grunde halte ich die oft sehr harte Kritik, die seinerzeit von Pädagogen gegenüber diesem Buch von Schwanitz geäußert wurden, für ungerechtfertigt.
Diese Begrifflichkeit von legitimem bzw. illegitimem Wissen hat insbesondere Bourdieu im Hinblick auf die Künste untersucht. Man erinnere sich: In der Theorie von Bourdieu geht es darum, dass die Künste neben allen möglichen Funktionen auch die Funktion der Segmentierung der Gesellschaft durch spezifische ästhetische Präferenzen haben. Sage mir, was du kulturell tust, und ich nenne dir deinen Platz in der Gesellschaft, so ließe sich diese Kultursoziologie zusammenfassen. Bourdieu war in seinen jungen Jahren Ethnologe in Nordafrika und hat seine Arbeit mit vielen Fotos dokumentiert, die immer wieder in Ausstellungen gezeigt werden. Fotografie gilt aber in seiner Kunstsoziologie als illegitime Kunst, eben weil sie nicht dazu taugt, entsprechende Distinktionen in der Gesellschaft vorzunehmen: Fotografieren könne schließlich jeder.
3. Zur politischen Dimension
Die Frage der Reglementierung des Zugangs zum Wissen wurde oben mehrfach erwähnt. Diese Frage ist ein ausgesprochen hochrangiges Politikum speziell in der Bildungspolitik. Wie eingangs erwähnt, spielt das Wissen, seine Art und Zugänglichkeit, in der Zeitdiagnose einer „Wissensgesellschaft“ eine wichtige Rolle. Eine hohe Prominenz hatte diese Gesellschaftsdiagnose etwa im Kontext der Europäischen Union, wenn man etwa im Rahmen der Lissabon-Strategie davon spricht, aus Europa den erfolgreichsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen zu wollen. Die Wissensgesellschaft ist also eine ökonomische Zielperspektive, wobei es nicht um das Wissen der Geisteswissenschaften und der sogenannten Orchideenfächer geht, sondern es geht um ökonomisch verwertbares Wissen. Aber auch dies muss präzisiert werden, denn „ökonomisch verwertbar“ klingt so wie ein solides Qualitätsmerkmal von Wissen. Dies ist jedoch kaum der Fall, denn es geht vielmehr im politischen Diskurs darum, was Politikerinnen und Politiker für ökonomisch verwertbar halten. Und hierbei gehen die Meinungen durchaus auseinander. Ein historisches Beispiel ist die berühmte Deutsche Schulkonferenz 1890, die der junge Kaiser Wilhelm II einberufen hat (vgl. Fuchs 2017a). Hier gab es nicht bloß harte und voraussehbare Konflikte zwischen den Vertretern des herkömmlichen humanistischen Gymnasiums und den Vertretern der Oberrealschule, sondern es gab innerhalb der Wirtschaft harte Konkurrenzkämpfe zwischen den Vertretern der Montanindustrie, die keinen weiteren Ausbau von Bildungseinrichtungen wollten, weil ihrer Ansicht nach Bergbau auch mit minderqualifizierten Menschen betrieben werden könne, und den Vertretern der neuen modernen Industrien (Chemie- und Elektroindustrie, Maschinenbau etc.), die sehr stark einen Ausbau des Bildungswesens vor allem im Hinblick auf eine Konzentration auf die Naturwissenschaften (Abiturfähigkeit der Oberrealschule, Promotionsrecht der Technischen Hochschulen) forderten.
Es geht also auch hier um Anerkennungsprozesse von Wissen: Wer hält welches Wissen in welchen Kontexten für welche Bevölkerungsgruppen für relevant?
Es gibt die interessante These, dass das Konzept der Wissensgesellschaft heute die Fortführung der These von der Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer (1971) ist. Bei dieser These ging es darum, dass der kapitalistische Verwertungsprozess inzwischen längst in gleichem Umfang die Produktion nicht nur der populären, sondern auch der „hohen“ Künste erfasst habe. Die Wissensgesellschaft bringt man heute mit dem Erfolgsweg des Neoliberalismus in Verbindung, bei der der Bildungsbegriff und insbesondere ein kritischer Begriff von Bildung ersetzt wird durch den Begriff der Kompetenz oder des Humankapitals (Resch 2005). Ein praktisches Beispiel ist die Fokussierung auf eine Evidenzbasiertheit von Politik, in deren Rahmen nunmehr verstärkt quantitative empirische Forschung gefördert wird (vgl. Fuchs 2017b). Dies bedeutet insbesondere, dass historische und theoretische Forschung, die eigentlich die Basis für einen reflexiven Umgang mit ermittelten empirischen Tatbeständen liefern soll, in den Hintergrund tritt.
Schlussbemerkungen
All diese Aspekte werden nunmehr relevant, wenn man sich mit dem Wissen der Künste befasst. Man muss die psychologische, pädagogische, soziologische, politische und erkenntnistheoretische Dimension von Wissen berücksichtigen. Man muss darüber nachdenken, wer welches Wissen über Künste haben kann oder bekommen soll, und man muss über Fragen der Anerkennung dieses Wissens und natürlich auch über die Förderung der Wissensgewinnung und Wissensverbreitung nachdenken. Insbesondere wird man darüber nachdenken müssen, dass es gerade im Umgang mit Künsten ein erhebliches Praxiswissen gibt, das sich allerdings gefallen lassen muss, von einer Gruppe von Menschen, die als „Experten“ in die Öffentlichkeit eingeführt wurden, als bloße Mythen charakterisiert zu werden. Es geht also nicht nur um die Untersuchung dessen, was das Wissen der Künste ausmacht und wie es beschrieben werden kann, sondern es geht auch um einen reflexiven Metadiskurs darüber, wie mit einem solchen Umgang politisch umgegangen wird. Aus diesem Grunde gibt es den Vorschlag einer „Kritischen Kulturpädagogik“, in der der Aspekt einer kritischen Reflexion sowohl der Praxis als auch der Wissenschaft in der Kulturpädagogik eine besondere Rolle spielen müsste (Fuchs 2017c).