Das Praxis-Dilemma der Medienpädagogik: ein Lösungsansatz aus der Praxis im Freiwilligendienst
Abstract
Die Medienpädagogik steht vor der Herausforderung, zeitgemäße Lehr- und Lernangebote zu gestalten, die den komplexen Anforderungen digitaler Medien gerecht werden. Dieser Artikel untersucht das Praxis-Dilemma der Medienpädagogik und präsentiert einen Lösungsansatz aus der Praxis. Basierend auf über zehn Jahren Erfahrung wird gezeigt, dass der Top-Down-Transfer aus der Wissenschaft in die Praxis nicht ausreicht, um das Dilemma zu lösen. Stattdessen wird ein individueller Ansatz vorgeschlagen, der sich auf die Bedürfnisse der Lehrenden und Lernenden konzentriert. In fünf Schritten werden Strategien zur Entwicklung und Umsetzung medienpädagogischer Bildungsangebote präsentiert, die flexibel, anpassungsfähig und auf die individuellen Kompetenzen der Beteiligten zugeschnitten sind. Durch Nachsicht, transparente Kommunikation und die Einbeziehung der Lernenden als Experten werden inklusive und partizipative Lernräume geschaffen. Dieser Ansatz bietet einen Weg, um zeitgemäße Bildungsarbeit zu ermöglichen und das Potenzial aller Beteiligten zu fördern.
Die Frage, wie medienpädagogische Praxis angelegt sein muss, um nachhaltige Lern- und Lehrangebote gestalten zu können, beschäftigt mich mittlerweile seit über 10 Jahren. Als ich 2014 begann an meiner Diplomarbeit zu dem Thema „Medienkompetenzerwerb in außerschulischen Bildungsangeboten“ zu schreiben, stellte ich erstaunt fest, dass es so gut wie keine Messinstrumente gab, die den Lernerfolg medienpädagogischer Lehrvorhaben abbilden könnten. Auf der Suche nach der Ursache fand ich heraus, dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema mittlerweile Zielvorgaben für die medienpädagogische Praxis definiert wurden: die Medienkompetenz. Medienpädagogische Praxis sollte somit die Themenkomplexe Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung beinhalten (u.a. Baacke 1997; Tulodziecki 1997; Kübler,1999; Groeben 2002; Aufenanger 2003). Interessanterweise lässt sich von der Medienkompetenz keine universalgültige Praxis ableiten, wie ich weiter unten ausführe. Als ich 2015 zum Kulturbüro Rheinland-Pfalz wechselte, um dort das Modellprojekt der Bundesregierung #FSJ_digital ( (später die Servicestelle netzwärts für Medienbildung im Freiwilligendienst) zu übernehmen, hatte ich noch immer keine Antwort auf meine Frage gefunden, aber vielseitige Erfahrungen in der Praxis gesammelt.
Bei der Recherche zum Modellprojekt stieß ich in der Argumentation auf eine Scheinkorrelation. Junge Menschen wären Digital Natives, also ins Digitale Hineingeborene, die ihre Medienkompetenz nutzbar machen könnten, indem sie diese anderen beibringen (vgl. Deutscher Bundestag, Antrag der SPD, 2013). Auch wenn es gut klingt, hält diese Argumentation einer näheren Betrachtung nicht stand. Zu betonen ist: So etwas wie Digital Natives gibt es nicht. Selbstredend können junge Menschen einen anderen, selbstverständlicheren Umgang mit modernen Medien haben. Müssen sie aber nicht automatisch. Soziale, individuelle, kulturelle, regionale und sozioökonomische Faktoren sind in der Annahme der Digital Natives ebenso wenig berücksichtigt, wie das Fehlen medienpädagogischer Themen in der Schulbildung. Zweitens ist informelles, also Selbstlernen, immer interessengeleitet und kann somit keine ganzheitliche Medienkompetenz entstehen lassen. Vielmehr können wir bei jungen Menschen, in unserem Fall Freiwilligen, von einer höheren Nutzerkompetenz sprechen. Freiwilligen gegenüber erkläre ich das Thema immer anhand des Bildes Busfahren. Diejenigen, die in ihrer Schulzeit mit dem Bus zu Schule gefahren sind, kennen sich im Busmitfahren viel besser aus als diejenigen, die mit dem Rad zu Schule gefahren sind. Sie wissen, wie sie sich beim Mitfahren zu verhalten haben. Sie haben eine Nutzerkompetenz erworben. Aber es ist noch ein großer Unterschied zum Fahren eines Busses, da der Busfahrer nicht nur die Regeln des Mitfahrens, sondern beispielsweise auch des Straßenverkehrs kennen muss. Es gehört also viel mehr zu einer ganzheitlichen Medienkompetenz als nur die Nutzerkompetenzen.
Die Frage, wie die Übersetzung von Medienkompetenzentwicklung in Alltag und Praxis gelingen kann, bleibt somit weiterhin offen. Spätestens seit der Covid-Pandemie sind wir aber nun alle mit der Frage konfrontiert, wie medienpädagogische Bildungsangebote in der Praxis realisiert werden können. Die Omnipräsenz digitaler Medien in unserem Alltag wirft dabei grundsätzlich die Frage auf, ob Bildung heutzutage funktionieren kann, ohne den Einfluss komplexer Mediensysteme im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu mitzudenken. Bildungstheoretisch muss diese Frage wohl mit nein beantwortet werden, um oberflächliche, interessengeleitete Halbbildung im Sinne Adornos zu vermeiden. Selbstbestimmte, reflexive und kompetente Mediennutzung und -gestaltung sind unabdingbare Kompetenzen ganzheitlicher Bildung. Wir sind als Fachkräfte somit gefordert, dies in Lern- und Lehrangeboten mitzudenken und umzusetzen, ungeachtet unserer individuellen Vorkenntnisse oder dem Interesse an Medien. Heute spricht man in diesem Zusammenhang auch von Digitalität, also der unauflösbaren Verbindung von Digitalem und unserer Realität. Aus dieser wiederum entsteht die Notwendigkeit diesen Transfer mit medienpädagogischer Praxis zu begleiten. Nur bleibt die Frage offen, wie dies gelingen kann?
Aus diesem Grund gehe ich im Weiteren der Frage nach, warum der Top-Down-Transfer aus der Wissenschaft in die Praxis nicht funktioniert. Dabei stelle ich heraus, dass die Zwickmühle, die ich als das Praxis-Dilemma der Medienpädagogik bezeichne, kein individuelles, sondern ein wissenschaftliches ist. Anschließend erläutere ich, welchen Weg wir in der Praxis gefunden haben, um das Dilemma individuell aufzulösen. Abschließend zeige ich Anhand von fünf Schritten auf, wie wir es im Freiwilligendienst geschafft haben, Bildungsprozesse medienpädagogisch zu organisieren, zu strukturieren und als gelungene Medienbildungsvorhaben umzusetzen.
Wissenschaft - Viel Platz für Interpretationen
Auf der Suche nach Antworten ist man grundsätzlich gut beraten, sich an die Wissenschaft zu halten. Eben dort, in der Wissenschaft, identifizieren wir einen der zwei Faktoren, in denen das Praxis-Dilemma seinen Ursprung findet. In der Komplexität (neuer) Medien. In Anlehnung an einen sprachwissenschaftlichen Zugang definiert sich der Medienbegriff als primäre, sekundäre, tertiäre und quartäre Medien. Die sprachbasierte Kommunikation zwischen zwei Menschen ohne technische Hilfsmittel wird als primäres Medium bezeichnet. Die Stimme und Sprache sind das Medium, das zur Kommunikation zwischen zwei Kommunikationspartner*innen unmittelbar ausgetauscht wird. Eine Partei codiert dabei das eigene Anliegen in Form von Sprache, Lauten sowie Gestik und Mimik und sendet dies über Schallwellen zur Empfängerpartei. Diese decodiert die Informationen, filtert und verarbeitet sie auf der Grundlage ihrer individuellen Möglichkeiten. Diesen Medieneinsatz beginnen wir Menschen bereits in den ersten Lebensmonaten zu trainieren und nutzen ihn unser Leben lang. Und trotzdem ist die Praxis sehr fehleranfällig. Neben äußeren Faktoren, wie beispielsweise Lautstärke, sind es individuelle, kognitive oder kulturelle Faktoren, die Fehlerquellen sein können. Kommunikationen, bei der einseitig Medientechnologien wie Buchdruck oder Schrift eingesetzt werden, werden als sekundäre Medien bezeichnet. Gemeint ist beispielsweise Informationsbeschaffung aus Büchern oder Zeitschriften oder ein Briefwechsel. Tertiäre Medien definieren sich über den Einsatz von Medientechnologien auf beiden Seiten der Kommunikation, wie es beim Telefon der Fall ist. Unsere heutige digitale Kommunikation definiert sich als quartäres Medium. Auf jeder Seite der Kommunikationspartner*innen werden komplexe elektronische und online gestützte Medientechnologien zur Kommunikation eingesetzt.
Das Besondere dabei ist: Die Fehlerquellen von der primären bis zur quartären Ebene können sich addieren. Auch bei der Kommunikation mittels quartärer Medien kann die Lautstärke eine Fehlerquelle sein. Es kommen aber vielseitig weitere Fehlerquellen hinzu. Im Falle der quartären Medien sind dies vor allem technische bzw. elektronische. So ist die Decodierung moderner digitaler Kommunikationsformen ein hochkomplexes Vorhaben. Es kann beispielsweise ein ironisch gemeinter textbasierter Kommentar nur dann adäquat entschlüsselt werden, wenn beide Kommunikationspartner*innen sich sehr gut kennen. Die Entschlüsselung von Ironie beruht auf geteilten Wissensbeständen, Konversationsmaximen und Implikatur. Werden diese komplexen Decodierungen erweitert um technische Aspekte, wie z. B. die Wahl der Plattform, Asynchronität und Zugänglichkeit, führt dies dazu, dass sich der gesendeten Information immer nur angenähert werden kann und immer Platz für Interpretationsspielraum bleibt. Dieses Phänomen ist Ihnen sicherlich auch schon mal untergekommen. Denken Sie nur an ihre letzte unnötig komplizierte Kommunikation mittels eines Messenger-Dienstes Ihrer Wahl.
Die modernen (quartären) Medien sind dabei das primäre Wirkungsfeld der Medienpädagogik. Wie der oben genutzte Medienbegriff so fußt auch der Kompetenzbegriff, den die Medienpädagogik verwendet, in der Sprachwissenschaft. Als Kompetenzen werden die Fähig- und Fertigkeit des Subjekts definiert, die ihm selbstbestimmte, kompetente und reflektierte Anwendungen ermöglichen. Diesen Transfer aus der Linguistik schafft Dieter Baacke 1973 in seiner Habilitationsschrift für die Medienpädagogik. Hieraus entwickelte er, wie eingangs bereits erwähnt, seine Medienkompetenzdefinition. Wer nun hofft, dass wir hier auf der Suche nach einen Praxistransfer fündig werden, der wird, soviel sei verraten, enttäuscht werden. Sehr anschaulich ist dies in der bereits erwähnten Publikation von 1997 nachzulesen. Nachdem auf 98 Seiten die Herleitung des Kompetenzmodells und dessen Definition formuliert wurden, werden die Leser*innen eine Seite später mit dem Satz konfrontiert, „Medienkompetenz gibt nicht an, wie die [Medienkompetenz] praktisch, didaktisch oder methodisch zu organisieren und damit zu vermitteln sei.“ (Baacke/Straßner 2007: 99). Das liegt in der Natur der Sache von Theoriebildung, denn um an Themen zu forschen, muss der Wissenschaft ein Transfer auf die Metaebene gelingen. Statt über das Detail, wird über das große Ganze gesprochen. Aus dem großen Ganzen lassen sich Forderungen und Zielformulierungen ableiten, aber eben keine detaillierten, individualisierten Praxishandreichungen.
Ohne Weg ans Ziel?
Der zweite zu identifizierende Faktor, der zusammen mit der Komplexität das Praxis-Dilemma bildet, ist die Zeit. Gemeint ist hiermit die Geschwindigkeit, mit der sich der digitale Raum entwickelt. Lassen Sie es mich anhand eines Beispiels aus der Bildungspraxis erklären: Quizze als Lernangebote machen allen Beteiligen Spaß, haben eine hohe Lernmotivation und wenn das Quiz online organsiert ist, können alle sogar ihre eigenen Geräte nutzen. Damit dieses Tool niedrigschwellig von Kolleg*innen eingesetzt werden kann, habe ich eine Unterrichthandreichung dazu geschrieben und veröffentlicht. Das Problem war, einen Tag bevor ich meine Handreichung veröffentlicht habe, hat die Quiz-Webseite ein Update veröffentlicht, das die Seiten-Logik so sehr veränderte, dass meine Handreichung unsinnig geworden ist. Aufgefallen ist mir dies erst, als ich darauf hingewiesen worden bin. Und hier findet sich der zweite Faktor des Praxis-Dilemmas: Zeit.
Die Zeit der digitalen Transformation ist so schnelllebig wie keine Zeit zuvor. Trends von heute können morgen veraltet sein. Auch sogenannte Hypes, die die Nutzung einzelner Elemente oder des gesamten Mediums beeinflussen oder verändern. Ebenso kann es sein, dass ein Thema noch gar nicht aktuell war, wie zum Beispiel Trends, die aus den Communitys kommen. Das bedeutet, sobald die Komplexität eines zu bearbeitenden Themenbereichs so hoch und der Faktor Zeit als Relativierungsvariante zu berücksichtigen ist, sind universalgültige Blaupausen für die praktische Arbeit unrealistisch. Denn wenn ich heute ein Buch herausbringe, kann es sein, dass ein Teil oder gar alles in diesem Buch völlig obsolet geworden ist, da ein neues Update, Trend oder Hype die Logik oder Infrastruktur des Mediums verändert hat. Das Praxis-Dilemma fußt somit in der Komplexität und Geschwindigkeit der Medien.
Transparente Nachsicht
Trotzdem sind als wir als Lehrende aber mit der Aufgabe konfrontiert Bildung zu gestalten. Denn Komplexität aufzulösen oder mit anderen Worten Kompetenzen auszubilden, um mit der Komplexität umzugehen, ist Aufgabe von Bildung. Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass es sich lohnt, sich der Thematik von der anderen, der individuellen Seite der Lehrenden und Vermittler*innen zu nähern. Besonders in der Pandemie bekamen wir von Kolleg*innen häufig die Rückmeldung, dass sie sich überfordert fühlten, bei der Umsetzung von mediengestützten Bildungsformaten. In Fortbildungen die ich zu diesen Themen gegeben habe, habe ich deshalb immer einen Fokus auf Nachsichtigkeit gelegt. Gemeint ist damit eine Fehlerfreundlichkeit, seinen individuellen Kompetenzrahmen zu kennen und diesen entsprechend einzusetzen zu können. Meine Erfahrungen zeigen, es ist wichtiger sich in der Bildungspraxis wohl und selbstsicher zu fühlen und dieses auch vermitteln zu können, als die neueste Technik kofferweise dabei zu haben, diese aber nicht bzw. nur ungenügend zu beherrschen.
Gemeint ist auch Nachsichtigkeit in Bezug auf Techniknutzung. Es kann immer sein, dass etwas trotz guter Vorbereitung nicht funktioniert. Das ist nicht nur, aber besonders gern bei Technik der Fall. Aber dieses Problem kennen alle, jedem kann es passieren und niemand ist davor sicher. In diesem Fall ist es zielführend, Probleme offen und transparent zu kommunizieren und gegebenenfalls um Hilfe zu fragen. Der Vorteil ist, auf der einen Seite entlastet es die Lehrenden und auf der anderen Seite schafft es eine Lernumgebung mit neuen Macht- und Anerkennungsstrukturen. Dies wird auch als Umkehr der Bildungshierarchie bezeichnet. Das Machtgefälle zwischen Lernenden und Lehrenden ist häufig durch das Mehrwissen der Lehrenden und die frontale Lehrsituation geprägt. Vor allem in Bezug auf Technikverständnis sowie deren Anwendung hat sich diese Hierarchie gelöst oder gar gedreht. Oft finden sich unter den Lernenden Technikexpert*innen, die sich zumindest auf einzelnen Wissensinseln zuhause fühlen. Wenn dies als Chance der partizipativen Gestaltung von Bildungsprozessen verstanden wird, entlastet es die Lehrenden und steigert die Motivation der Lernenden, da der Wissenstransfer nicht mehr nur eindimensional stattfindet und der kooperative Charakter fördert mehr Wertschätzung sowie Eigenverantwortlichkeit. Wir können das Praxis-Dilemma also lösen, indem wir nachsichtiger mit uns selbst sind, den Lerner*innen mehr Verantwortung zutrauen und auf Grundlage unserer individuellen Kompetenzen und der geplanten Lern- und Lehrangebote eine eigene didaktisch fundierte Lehrstrategie entwickeln.
Nachfolgend zeige ich in fünf Schritten, wie uns dies im Freiwilligendienst gelungen ist.
Praxis-Dilemma auflösen in 5 Schritten
Wenn, wie oben beschrieben, medienpädagogische Lern- und Lehrangebote grundsätzlich aktualisiert und angepasst werden müssen, können diese auch gleich die individuellen Bedarfe sowie Rahmenbedingungen und -struktur berücksichtigen. So kann eine Lehrstrategie entwickelt werden, die auf den Kompetenzrahmen der Lehrenden und Lernenden abgestimmt ist, Individualität und Unabhängigkeit fördert sowie durch interessengeleitetes und flexibles Arbeiten die Lernmotivation erhöht. Nachfolgend gehe ich auf die fünf Schritte Lernende, Lehrziele, Lernmodule, Unabhängigkeit und Evaluation ein. Diese haben sich im Rahmen der Beratungs- und Fortbildungsangebote in den letzten Jahren als sinnvolle Strukturierungshilfen erwiesen, um individuelle und didaktisch fundierte Lehrstrategien zu entwickeln und das Praxis-Dilemma individuell aufzulösen.
- Lernende
Ausgangspunkt unserer Überlegungen muss der Fokus auf die Lernenden sein. Wird dieser geschärft, erhalten wir Aussagen und Anhaltspunkte, die für die finale Lehrstrategie entscheidend sind. Beginnend ist es wichtig, die Zielgruppe klar zu umreißen. Hieraus ergeben sich allgemeine Informationen, die als Basis für die weiteren didaktischen Überlegungen genutzt werden. Soziodemografische Daten können beispielsweise Auskunft über Bildungsstand, kognitive Fähigkeiten und Zugangskriterien geben. Grundsätzlich ist eine Vorababfrage über relevante Informationen empfehlenswert, um das Bild der Lernenden klarer zu skizzieren. Vor allem konkrete Hindernisse können so im Vorfeld identifiziert und beseitigt werden, um eine reibungslose Durchführung des Bildungsvorhabens zu ermöglichen. Im medienpädagogischen Milieu sind Fragen zur Verfügbarkeit von Technik sowie Internetanschluss und -geschwindigkeit unabdingbar. Durch Leihgeräte, Mobilfunkrouter oder weiterführende Materialien, die im Vorfeld zur Verfügung gestellt werden, kann gewährleistet werden, dass allen dieselben Zugangschancen ermöglicht werden. Zudem ist es wichtig einzuschätzen, über welches Wissen und welche Fähigkeiten die Personen innerhalb der Zielgruppe auf individueller Ebene verfügen. Hierdurch entsteht die Möglichkeit, alle individuell zu fördern und zu fordern, aber nicht zu überfordern. Auch schadet es nie, sich einen Überblick über die digitale Alltagsrealität der Zielgruppe zu informieren. Dazu gibt beispielsweise der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) jährlich Studien wie die JIM-Studie heraus, die sich mit dem Mediennutzungsverhalten der 13–19-Jährigen in Deutschland beschäftigen. Mittels dieser gut umrissenen Zielgruppendefinition ist das Fundament für die weitere didaktische Entwicklung der Lehrstrategie gelegt.
- Lehrziele
Lehrziele setzen sich aus Vorgaben der Auftraggeber*innen, wünschenswerten Lernerfahrungen und Medienkompetenzen zusammen. Diese müssen priorisiert, methodisch-didaktisch geordnet und terminiert werden. Eine gute Lehrstrategie muss immer in der Wechselwirkung des Dreiecks Lehrende, Lernende und Lehrkonzept bestehen können. Eine Visualisierung dieser Struktur kann dabei sehr hilfreich sein, um Fallstricke zu identifizieren. Wichtig ist, dass wir bei der Definition von Lehrzielen bei uns, also in unserem subjektiven Kompetenzrahmen bleiben. Themenbereiche in denen wir uns selbstsicher bewegen, die mit unserem Lehrstil vereinbar sind und ein Methodeneinsatz, mit dem wir vertraut sind, werden immer zu mehr Selbstvertrauen seitens der Lehrenden und zu einer intensiveren Lernerfahrung der Lernenden führen.
- Lernmodule
Um das Lernziel zu erreichen, müssen auf die Lernenden individuell abgestimmte Lernmodule ausgewählt werden, die zum individuellen Lerntyp passen. Zielführend ist es unterschiedliche Lernniveaus zu berücksichtigen und zu jeder Aufgabe oder Methode optionale Zugänge anzubieten. So können beispielsweise zur Einarbeitung in ein Thema sowohl Informationen von Kleingruppen in einem interaktiven Whiteboard zusammengeführt, als Bildcollage oder auch als Kurzfilm erstellt werden. Durch die verschiedenen Bearbeitungsformen können unterschiedliche Medienkompetenzen abgegriffen und nutzbar gemacht werden. Diese steigern die Lernmotivation, indem die Lernenden in einem vertrauten Kompetenzrahmen ihre individuellen Skills zur Realisierung einsetzten können. Im Grunde ist damit auch das Kernelement der Mediendidaktik identifiziert. Durch den Einsatz von Medien können Lerninhalte interessant und attraktiv aufgearbeitet werden, ohne dass es sich wie Lernen im klassischen Sinne anfühlt. Wird beispielsweise ein Film zu einem Thema gedreht, lernen die Teilnehmer*innen Storyboards und Drehbücher kennen und setzen sich zugleich inhaltlich mit dem Thema auseinander. Zudem sammeln sie u. a. Erfahrungen im Umgang mit Kameras, Ton, Filmschnitt und Requisiten. Medienpädagogik macht sich somit die Attraktivität des Medieneinsatzes zunutze, indem sie digitale Alltagsräume der Lernenden für Bildungszwecke nutzbar macht. Das Besondere hierbei ist, dass die Lehrenden dabei nicht mal die Expert*innen in diesen Medien sein müssen. Vielmehr kann die Expertise der Lernenden für die Umsetzung des Lernvorhabens genutzt werden. Die Wechselseitigkeit von diesem gemeinsamen Lernen, bei denen auch die Lehrerenden noch etwas (dazu) lernen, löst die Machthierarchie und schafft eine wertschöpfende Lernumgebung auf Augenhöhe. Grundsätzlich gilt, Medien dürfen nicht zum Selbstzweck eingesetzt werden. Dies gilt ebenso für den Methodeneinsatz (vgl. 2. Lehrziele), denn alle Lehrenden haben sich im Laufe ihrer Karriere einen Methodenkoffer zusammengestellt, weil diese oder jene Methode gut zum eigenen Lehrstil passt. Dieser Methodenkoffer ist auch im Kontext der Medienbildung nicht obsolet. Es müssen nicht immer die neusten und hübschesten Tools zum Einsatz kommen, schon gar nicht, wenn sich die Lehrenden beim Umgang nicht sicher fühlen. Wenn es nicht explizit als Experiment formuliert wird, sind Methoden zu bevorzugen, die souverän genutzt werden können und fehlerunanfällig sind. Unterstützt wird diese These durch die unbedingte Abwägung von Vorbereitungszeit und Mehrwert für Lernenden. Wenn das Suchen, Finden und Einarbeiten in digitale Tools für die eine Aufgabe zu zeitintensiv ist, ist deren Einsatz im Zweifel nicht sinnvoll. Ein abwechslungsreicher Methodenmix dagegen schon.
- Unabhängigkeit
Alle Lernenden brauchen die Fähigkeit und das Wissen, um nach dem Training unabhängig arbeiten zu können. Dies impliziert eine Auftakt- oder Inputveranstaltung, die den Rahmen und die Aufgabe sowie mögliche Lernwege erklärt. Wer wie wo gut lernen kann, ist sehr divers. Entsprechend ist es zielführend die Lehrstrategie anzupassen. Neben unterschiedlichen Lernniveaus (vgl. 3. Lernmodule) ist es sinnvoll, asynchrones, also freies Arbeiten zu ermöglichen. Die Möglichkeit, sich Lernaufgaben einzuteilen und auf produktive Zeiten schieben zu können, kann ein Motor der Motivation sein, da es die Selbstwirksamkeit fördert. Auftakt- und Abschlussphasen bzw. Reflexionsphasen sind bestens für synchrone Formate geeignet, in denen sich die Gruppe (wieder-)sieht und sich Feedback gibt. Arbeitsphasen können oftmals asynchron gestaltet und Schwierigkeiten dabei durch online umgesetzte Hilfestrukturen wie kollegiale Beratung in Chats, virtuellen Beratungsräumen und -zeiten der Lehrenden aufgefangen werden.
- Evaluation
Gelungene Evaluationen brauchen drei Elemente: Ergebnissicherung, Feedback und Reflexion. Es muss sichergestellt werden, dass die Ergebnisse in den einzelnen Lernphasen gesichert werden. Hierzu eignen sich digitale Pinnwände, Open Documents oder Whiteboards, mithilfe derer Prozesse, Ergebnisse, To-Dos und offene Fragen archiviert werden können.
Um die Unabhängigkeit zu fördern, müssen Lernende individuell über ihre Entwicklung informiert werden. Dies kann durch die Transparenz der Lernmodule erreicht werden. Wie bereits erwähnt, sollten Abschluss- bzw. Reflexionsphasen synchron organisiert werden. Hybrid organisiert können das Feedback und die Reflexion sowohl persönlich als auch schriftlich evaluiert werden. Die Feedback-Strukturen sollten dabei auf die durchgeführten Lernmodule angepasst sein, um Aussagen über die Funktionalität und Wirksamkeit treffen zu können. Nicht zu vernachlässigen ist dabei, die persönliche Reflexion der Lehrenden. Unter Berücksichtigung des eigenen Bauchgefühls gilt es, die Lehrziele und das Lernenden-Feedback abzugleichen. Hieraus können Unzulänglichkeiten, Fehlerstrukturen und logistische Hürden abgeleitet werden, aber auch Lernmodule identifiziert werden, die gut funktioniert haben. Mithilfe dieser Analyse kann das didaktische Konzept überarbeitet und angepasst werden, was das Selbstvertrauen in die eigene Lehrstrategie fördert.
Halten wir fest, dass die Auflösung des Praxis-Dilemmas im Top-Down-Transfer, aufgrund der Komplexität und Individualität, nicht möglich ist. Der wissenschaftliche Diskurs wird somit nur Vorschläge und Handlungsoptionen anbieten können, die dann in das eigene didaktische Konzept überführt werden müssen. Das Praxis-Dilemma muss somit von Lehrenden individuell aufgelöst werden. Wenn das didaktische Konzept dabei aber die Stärken und Schwächen der Lehrenden und Lernenden berücksichtigt, diese transparent kommuniziert und interaktiv sowohl synchrone wie asynchrone Lernangebote formuliert, können neue zeitgemäße Lernformate entwickelt werden, die das Potenzial haben alle dort mitzunehmen, wo sie stehen. Hier bestätigt sich die Eingangsthese, dass die Auflösung des Praxis-Dilemmas individuell organisiert werden muss. Doch wenn wir dies als Chance und nicht als Belastung verstehen, können wir on- und offline neue Lernräume schaffen, die inklusiv und partizipativ gestaltet sind. Wenn Bildungsvorhaben darüber hinaus als transparente Experimentierräume, nicht nur für Lerner*innen sondern vielmehr für alle Beteiligten, verstanden werden, dann schaffen wir uns damit die Möglichkeiten, zukunftsfähige Bildungsarbeit gestalten zu können. Wenn wir bei uns selbst beginnen und uns durch die fünf Schritte denken, dann ist es allen Lehrer*innen möglich, praktische und zeitgemäße medienpädagogische Lernangebote zu gestalten. So kann unnötiger Stress oder Frustration auf beiden Seiten vermieden und die Basis für gelungene Bildungsarbeit gelegt werden.Abschließend lade ich Sie herzlich dazu ein, anhand der fünf Schritte, ihre eigenen Lern- und Experimentierräume zu gestalten. Dabei wünsche ich ihnen viel Spaß und Gutes gelingen.