Postkoloniale Provenienzforschung und ethnografische Sammlungen
Abstract
Der Begriff Provenienzforschung stammt aus der Kunstgeschichte und wurde bisher vor allem im Zusammenhang mit NS-Raubkunst verwendet. Obgleich sich einzelne Aspekte der NS-Raubkunstforschung und der ethnologischen Provenienzforschung überschneiden, wird an vielen Beispielen deutlich, dass ethnologische Provenienzforschung eigene Fragestellungen und Methoden braucht. Provenienzforschung ist nichts Neues an ethnologischen Museen – „Neu ist … ein Fokus auf die Erwerbungsumstände kolonialzeitlicher Sammlungen“ (Lang/Niklisch 2021:21) sowie die Erforschung von eventuell begangenem Unrecht in kolonialen Kontexten. Es geht um die lückenlose Dokumentation der Herkunft von Objekten sowie Teilen von verstorbenen Menschen von dem Produktions- bzw. Herkunftsort bis zum aktuellen Aufbewahrungsort. Dabei müssen rechtliche, politische, kulturelle und epistemologische Umstände einer Translokation dokumentiert werden. Es sollen der/die vorkolonialen Besitzer*innen gefunden und mit ihnen gemeinsam vor Ort und in den jeweiligen Museen in Europa dazu geforscht werden. Die komplexen historischen und aktuellen Beziehungsverflechtungen verlangen, dass mit Nachkommen der Herkunftsgesellschaften kooperiert wird, um herauszufinden, wo Objekte produziert, gehandelt und erworben wurden. Kontextualisierte Einbeziehung von inter- und transdisziplinären Mikro- und Makroperspektiven, Perspektivenwechsel als auch kritische (Selbst)Reflexion charakterisieren den Dreiklang ethnologischer Provenienzforschung. Ein ethnologischer Blick ist immer dann ausschlaggebend, wenn es z.B. um die Bewusstmachung jeweils kulturspezifischer Konstruktionen von Ordnungskriterien und Vieldeutigkeit von Objekten geht (vgl. auch Rein 2021).
Ausführlich spreche ich dazu in dem untenstehenden Filmmitschnitt meines Vortrags „Schädel – Speere – Bronzen: Perspektiven kolonialer Provenienzforschung“ (2021) und verdeutliche meine Positionen anhand von Analysen und Beispielen von Akteuren und Museumssammlungen von der Deutschen Kolonialzeit bis zur Gegenwart kolonialer Provenienzforschung. Im letzten Teil des Vortrags konkretisiere ich meine Überlegungen anhand der Sammlungen und Forschung im Museum der Weltkulturen, Frankfurt am Main. Folgende Aspekte stehen im Fokus meiner Reflexionen:
Geschichte des Kolonialismus
Kolonialismus bezeichnet eine Fremdherrschaftspraxis – verbunden mit der Inanspruchnahme von Territorien und deren Bevölkerung, motiviert von wirtschaftlichen, machtpolitischen und strategischen Zielen. Dabei wird das kolonisierte Gebiet resp. die kolonisierte Gesellschaft den Interessen der Kolonisatoren unterworfen, Ressourcen und Arbeitskräfte (gewaltsam) angeeignet. Als Begründung für diese Ermächtigung führen die Kolonisierenden ihre Höherwertigkeit mittels sozialdarwinistischer Stereotypisierungen und einem zivilisatorischen Sendungsbewusstsein gegenüber den Kolonisierten an (s.a. Zimmerer 2012).
Die Geschichte des europäischen Kolonialismus beginnt bereits in der frühen Neuzeit im 15. Jahrhundert. Beispielsweise mit der Eroberung von Ceuta im Jahre 1415, einer ehemals portugiesischen Exklave (heute spanisch) an der nordafrikanischen Küste sowie der Eroberung Amerikas, und erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt mit der Kolonisierung Afrikas, Asiens und Ozeaniens (vgl. Karte). Deutsche beteiligten sich individuell von Anfang an aktiv an diesen Prozessen der „Europäisierung bzw. Globalisierung der Erde“ in unterschiedlichen Rollen: u. a. als Reisende, Missionare, Kaufleute, Entdecker, Wissenschaftler und Soldaten (Gründer/Hiery 2018:9). Entgegen aller Definitionsversuche bleibt der Kolonialismus durch die 500 Jahre ein Phänomen kolossaler Uneindeutigkeit und war immer auch durch die jeweiligen lokalen Bedingungen und alltäglichen Kontexte unterschiedlich geprägt.
Mit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871 entstanden Bedingungen, sich auch formal als Kolonialmacht in Übersee zu engagieren, um in der Konkurrenz zwischen den sich entwickelnden Industrienationen eigene Ansprüche zu reklamieren. Die aktive deutsche Kolonialzeit begann in den 1880er Jahren zunächst mittels Handelsvertretungen (sog. „Bismarck Schutzgebiete“) und endete mit dem Vertrag von Versailles am 28.06.1919.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Hauptinteresse kolonialen Handelns unter dem Deckmantel eines zivilisatorischen Auftrags in erster Linie die Ausbeutung der Kolonien war, damit Europa bzw. die Wirtschaft der Länder des globalen Nordens kontinuierlich wachsen konnte. Diese Lage hat sich für viele Teile der Welt bis heute nicht geändert. Der europäisch-westliche Lebensstil ist weiterhin abhängig von der Ausbeutung und den Ressourcen aus den Ländern des globalen Südens – den ehemaligen Kolonien.
Auswirkungen des Kolonialismus
Auch wenn die Herrschaft des formalen Kolonialismus größtenteils seit den 1960er Jahren beendet wurde, bleiben koloniale, asymmetrische Machtstrukturen und Beziehungen bis heute weltweit wirksam und umfassen ein breites Spektrum (vgl. Probst/Abungu 2022:448ff.). Mit ihrer Analyse beschäftigen sich seit den 1960er Jahren Postkoloniale Studien, wobei Post weniger ein zeitliches Danach markiert, als vielmehr „ein kritisches Durcharbeiten des komplexen Gefüges“ (Lindner 2010:257). Postkoloniale Studien analysieren Auswirkungen der Kolonisierung, Prozesse der Dekolonisierung sowie Neokolonialismustendenzen (Silverman/Abungu/Probst: 9ff.). Die postkoloniale Provenienzforschung untersucht die Herkunftsgeschichte von Objekten nicht nur im Zeitraum der gesamteuropäischen kolonialen Expansion, sondern bezieht auch Folgen globaler Verflechtungen und weiterhin wirkende Machtasymmetrien mit ein, wie sie aktuell z. B. durch die Visaverweigerung für drei kamerunische Wissenschaftler*innen durch die Deutsche Botschaft in Kamerun wieder einmal deutlich wurden (vgl. bfe-Presseerklärung).
Ethnografische Museen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gegründet wurden, waren einer der großen Profiteure des Kolonialismus. Laut dem Ethnologen Leo Frobenius, schwollen die Sammlungen in dieser Zeit wie „trächtige Flusspferde“ an (Frobenius 1925:19; zitiert in Bergner 1996:227). Fast alles wurde (ein)gesammelt und kam auf unterschiedlichsten Wegen nach Europa und in die Museen. In vielen Fällen war es dabei keine freiwillige Abgabe oder eine Tauschaktion gegen Äquivalente, sondern fand auch unter roher Gewaltanwendung statt. Sammeln in kolonialen Kontexten ist der treffende Begriff dafür, da die Sammler sich innerhalb kolonialer Strukturen bewegten und von diesen unterstützt wurden. Nicht alle Objekte wurden erbeutet, sondern wurden auch auf Bestellung für Europa hergestellt. Deshalb untersucht die Provenienzforschung Sammel- und Beschaffungspraktiken in kolonialen Kontexten (Deutscher Museumsbund 2021:27) und prüft jeden Fall als Einzelfall. Das Forschungsergebnis weist dann auf weitere Umgangsformen mit den Objekten bei Rückgabeforderungen (Rückgabe oder Restitution) oder – im Fall von Teilen verstorbener Menschen – auf entsprechende Zeremonien (Rehumanisierung mit anschließender Repatriierung) hin.
Herausforderungen für ethnografische Museen
Was noch vor fünf Jahren undenkbar war, die Kolonialzeit kritisch zu beleuchten und Prozesse der Dekolonisierung in den unterschiedlichsten Bereichen allgemein zu fordern, ist heute täglicher Bestandteil medialer Berichterstattung und Gegenstand politischer Debatten. Museen als kulturelle Akteure einer wissenschaftlichen Bildungsinstitution sind davon mit ihren Sammlungen aus kolonialen Kontexten fundamental betroffen. Museen sind selbst ins Zentrum kritischer Betrachtungen getreten und müssen nun ihre Aufgabenbereiche (Sammeln, Bewahren, Ausstellen und Vermitteln), die bisher im Allgemeinen als selbstverständlich und unantastbar erschienen, auf koloniale Verflechtungen überprüfen und sich in Prozessen der Dekolonisierung neu entwerfen. Museen produzieren und inszenieren Geschichte(n) und über Geschichte(n) produzieren sie Identitäten (s. a. Schönberger 2021:97ff.). Der Prozess zur Frage, welche Geschichte(n) Museen als Bildungsinstitutionen zukünftig vermitteln werden, wird aktuell in den verschiedenen Museumsparten aktiv verhandelt.
Postkoloniale Provenienzforschung ist eine Forschung für die Zukunft, mit neuen Perspektiven des globalen Zusammenarbeitens und verändert damit auch nationale und lokale Identitäten von Museen. An der Schnittstelle zwischen Forschung und Wissensvermittlung muss gefragt werden, wie zukünftig mit Museumssammlungen umgegangen wird: ob es noch Ausstellungen ohne Bezug zu (kolonialen) Sammlungskontexten geben kann, wer bei der Datenerhebung und Vermittlung international beteiligt wird und in welcher Sprache und von wem über die Ergebnisse berichtet werden darf? Wem gehören die Objekte: Eigentums- und Besitzkonzepte müssen hinterfragt werden, sowie Forderungen nach Rückgaben bzw. Alternativen dazu. Das sind Herausforderungen und zugleich das Potenzial, welches Museen als verantwortungsvolle und verlässlich kritische Vermittlerinstitutionen vielstimmiger Perspektiven auf Welt(en) weiterhin global bestehen lassen.