Poly-, Inter- und Transkulturalität
Thema und Begriffe
Globalisierungseffekte nehmen zunehmend Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihre Merkmale sind: Herausbildung einer globalen Ökonomie, Mobilität und Migrationsbewegungen sowie neue Kommunikationstechnologien. Traditionelle Strukturen, Praktiken und Habitusformen verflüssigen sich unter diesen Bedingungen in immer höherer Beschleunigung und in immer weiteren räumlichen Kontexten. Transkulturelle und transnationale Differenzierungen, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse nehmen an Bedeutung zu.
Globalisierungseffekte fördern aber nicht nur Prozesse der Entgrenzung und Vernetzung, sondern auch gegenläufige Tendenzen, die sich unter dem Stichwort „Lokalisierung“ zusammenfassen lassen. Hier spielen vor allem Fragen der Zugehörigkeit eine zentrale Rolle: Es geht immer um Abgrenzung und Differenzierung zwischen dem Eigenen und dem Anderen/Fremden.
Durch diese gegenläufigen Tendenzen entstehen neue gesellschaftliche Herausforderungen, die auch die Kulturelle Bildung massiv betreffen. Während bei der Beschreibung der Globalisierungseffekte in Wissenschaft und Öffentlichkeit weitgehend Konsens herrscht, sind die Deutungsmuster für die kulturellen Prozesse, die die Globalisierung beeinflussen, sehr unterschiedlich und häufig durch politische Kontexte und Interessen geprägt. Dementsprechend sind auch die zu ziehenden Konsequenzen umstritten. Derzeit existieren drei Grundansätze: Polykulturalität bzw. Diversität betont (in deutlicher Nähe zum älteren Multikulturalismus-Konzept) das Nebeneinander unterschiedlicher, vielfältiger Lebenswelten, -konzepte und Kulturen, die gemeinsam in einem (wie auch immer zu definierenden) Raum gegenseitiger Wahrnehmung existieren (siehe Bernd Wagner „Von der Multikultur zur Diversity“).
Interkulturalität akzentuiert den Dialog und die Interaktion zwischen den Lebenswelten und die Selbstdefinition in Bezug auf die Definition des jeweils Anderen. Hervorgehoben wird die konstitutive Relationalität aller Kultur und aller Kulturen.
Transkulturalität betont insbesondere die Verschmelzungs- und Neuausprägungsprozesse der Lebenswelten (Hybridisierung) und die Möglichkeiten multipler und variabler Orientierungen sowie von global citizenship.
Historische Dimension
Die Bundesrepublik hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschiedene Formen von Einwanderung und damit entsprechende demografische Transformationsprozesse erlebt. Die Formen und Methoden der Bewältigung dieser Herausforderungen im Bereich der Bildung unterscheiden sich stark. So verlief die Integration der Kriegsflüchtlinge und der Vertriebenen unmittelbar nach dem Krieg nicht ohne Spannungen, die jedoch in der Öffentlichkeit kaum thematisiert wurden. Dementsprechend gab es auch keine expliziten Konzepte und Praktiken, wie mit den dabei entstehenden Problemen umgegangen werden sollte.
Im Rahmen der Eingliederung in die politischen und militärischen Blöcke spielten dann vor allem internationale Kultur- und Schüleraustauschprogramme eine besondere Rolle, im Osten wie im Westen. Der Ansatz, durch interkulturelle Verständigung die nationale Perspektive zugunsten einer internationalen zu überwinden, war an sich zukunftsweisend, auch wenn hier nationale Identität durch eine entsprechende Blockzugehörigkeit ausgetauscht wurde.
Der Zuzug von GastarbeiterInnen und ZuwanderInnen in den 1960er und 1970er Jahren in Westdeutschland kehrte diese Perspektive um: Nun ging es nicht mehr darum, Kontakte mit AusländerInnen – in einem zeitlich begrenzten Rahmen und meist in geschützten Räumen – zu gestalten, sondern darum, wie man mit den AusländerInnen, die schnell dauerhafter Teil der Gesellschaft wurden, umgehen sollte. Erste Ansätze einer sogenannten „Ausländerpädagogik“ entstanden in den 1980er Jahren und wurden bald durch multikulturelle Konzepte ersetzt, die die Vielfalt von nebeneinander existierenden Teilkulturen zum Leitbild erhoben. Das Straßenfest mit türkischen, italienischen und spanischen Ständen war die Leitpraxis. Dementsprechend wurden z.B. auch die heute kaum noch existierenden sogenannten National- bzw. Ausländerklassen, in denen ausschließlich Kinder aus bestimmten Herkunftsgebieten unterrichtet wurden, eingerichtet (vgl. Nohl 2006:81).
Schnell wurde jedoch klar, dass ein solcher Ansatz zu kurz greift, da dieser wesentliche Probleme vernachlässigt. Seit Ende der 1990er Jahre wurde deshalb das Repertoire der Ansätze um Interkulturelle bzw. Transkulturelle Bildungsarbeit erweitert. Gleichzeitig verschob sich das Paradigma einer ethnischen, nationalen Orientierung hin zu einer Orientierung an realistischeren, komplexeren Milieuansätzen. Neben „Herkunft“ konnte man damit z.B. auch sozial bzw. religiös definierte Werteorientierungen oder Konsumgewohnheiten berücksichtigen. Mit diesem erstmals von Gerhard Schulze (vgl. Schulze 1992) verwendeten Modell sind präzisere Beschreibungen und Analysen ebenso möglich wie die Entwicklung entsprechender Handlungsstrategien.
Stand der Praxis
Welchen Stellenwert hat die Reflexion der Globalisierungseffekte in der aktuellen kulturellen Bildungsarbeit? Eine Befragung der Kulturpolitischen Gesellschaft 2004/2005 zu interkulturellen Konzepten in kommunalen Kultur- und Jugendämtern ergab hier eine ernüchternde Bilanz für den Kulturbereich: „Danach ist die interkulturelle Kultur- und Bildungsarbeit, wenn überhaupt, nur ein untergeordnetes Thema der kommunalen Kultur- und Jugendpolitik“ (Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft 2007:10). Dennoch lassen sich Fortschritte vor allem in drei Bereichen verzeichnen:
Zur Personalentwicklung
Es kann immer mehr beobachtet werden, dass interkulturelle Bildungsprojekte mit einem erhöhten Einsatz an VermittlerInnen mit Migrationshintergrund arbeiten. Zum einen wollen Träger hiermit ein „Zeichen für Normalität“ setzen, zum anderen mit der Vorbildfunktion dieser VermittlerInnen für die Zielgruppen pädagogisch arbeiten. Ein weiterer Grund liegt in deren besonderer fachlicher Qualifikation, die die Träger auf diese Weise gewinnen wollen. So wurde beispielsweise bei einer empirischen Analyse der NRW-Tanz-in-Schulen-Projekte (Keuchel/Günsche/Groß 2009) deutlich, dass TanzvermittlerInnen mit Migrationshintergrund auch nicht-europäische Tanzformen in die Projekte einbringen und damit kulturelle Vielfalt thematisieren können. So wurde in einer weiteren Infrastrukturerhebung des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf) zu Bildungsangeboten in klassischen Kultureinrichtungen (Keuchel/Weil 2010) nachgewiesen, dass Museen und Bibliotheken, die in verantwortlichen Positionen Personal mit Migrationshintergrund beschäftigen, verstärkt Angebote für migrantische Zielgruppen anbieten.
Zur Zielgruppenausrichtung
Viele Träger beginnen, ihre Zielgruppen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels neu zu definieren und dafür auch spezifische Formate zu entwickeln (Audience Development). In der aktuellen kulturellen Bildungspraxis fehlen aber für die Entwicklung entsprechender Vorhaben offensichtlich Konzepte. Betrachtet man z.B. die Ausrichtung an migrantischen Zielgruppen, so zeigt die eben erwähnte ZfKf-Infrastrukturerhebung, dass im Jahr 2008 von knapp 90.000 Bildungsveranstaltungen in den klassischen Kultureinrichtungen sich nur 1 % explizit auch an migrantische Zielgruppen richten. In der außerschulischen Bildung wiederum findet man Projekte, die migrantische Zielgruppen einbinden, beispielsweise bei künstlerisch-kreativer Projektarbeit mit Integrationskursen oder Flüchtlingsgruppen.
Die ausschließliche Orientierung an der Zielgruppe der MigrantInnen kann dabei möglicherweise für einzelne, speziell fokussierte Themenfelder sinnvoll sein (vgl. Yildiz 2009:73ff.), grundsätzlich stellt sich aber die Frage, ob eine solche Homogenisierung nicht zu einer Stereotypisierung und zur Bildung von In- und Outgroups beiträgt. In der Regel gilt es wohl, Vermittlungsangebote zu entwickeln, die vielfältige Zielgruppen mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam ansprechen, um poly-, inter- und/oder transkulturelle Bildungsarbeit realisieren zu können.
Zur inhaltlichen Ausrichtung
In der Praxis geht es vielen „interkulturellen“ Bildungsangeboten meist um das generelle Erreichen neuer Zielgruppen, wobei die Vermittlungsaspekte konzeptionell kaum differenziert und konkretisiert werden. Analysiert man die zugrundeliegenden impliziten Muster, fällt oft eine deutliche Defizitorientierung auf: Im Rahmen der Infrastrukturerhebung des ZfKf wurden z.B. die Profile der Projekte, die sich an migrantische Zielgruppen richteten, untersucht. Diese konzentrieren sich im Wesentlichen auf schulische Angebote in sozialen Brennpunkten (66 %). An zweiter Stelle stehen Angebote zu Sprachförderungen (15 %). Selten werden dagegen „interkulturelle“ Angebote, die den Austausch zwischen migrantischen und nichtmigrantischen Bevölkerungsgruppen fördern (7 %) oder polykulturelle Ansätze aufgegriffen (4 %). Die Untersuchung zeigt deutlich den Vorrang einer defizitorientierten Perspektive. Auch eine Studie des Zentrums für Audience Development 2009 führt zu der Vermutung, dass viele Kultureinrichtungen das Merkmal „Migrationshintergrund“ mit dem Merkmal „Bildungsferne“ koppeln, was schon statistisch nicht zu rechtfertigen ist.
Auffällig ist, dass Bildungsprojekte, die den nationalen Rahmen überschreiten (z.B. internationale Kooperationsprojekte), selten bei der Entwicklung neuer Konzepte im nationalen Raum herangezogen werden, obwohl es hier eine lange Tradition der Austauschpädagogik gibt.
Stand der Forschung
In den letzten Jahren wurden zahlreiche empirische Studien zur Migration in Deutschland durchgeführt, vereinzelt auch mit kulturellen Themenfeldern, wobei Kultur hier im Sinne einer sehr breiten Begriffsdefinition verwendet wird – als Gesamtheit der geistigen Errungenschaften einer Gesellschaft – und meist sehr selektiv Bereiche wie Schulbildung, Sprache, Mediennutzung, soziale Kontaktpersonen in der Familie, politische und vor allem religiöse Einstellungen und Werte thematisiert werden. Für das Themenfeld „Künste und Migration“ gibt es dagegen eine deutliche Forschungslücke. Dies wird auch in einer Studie zur Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland und den Niederlanden thematisiert: Die Einschätzung sei zwar weit verbreitet, dass die kulturelle Seite des Integrationsprozesses „eine der wichtigsten und unumstrittensten Dimensionen“ darstelle. Diese hätte jedoch „in der empirischen Forschung bisher nur geringe Aufmerksamkeit erfahren“ (Duyvené de Wit/ Koopmans 2001:26-41).
Auch der Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration von 2007 weist auf ein Defizit der „Daten zu Kulturverhalten und kulturellen Präferenzen speziell von Migrantinnen und Migranten“ hin, die „bisher nur sehr unzureichend erhoben wurden. Die Fragen, ob und in welchem Maße MigrantInnen künstlerisch aktiv sind oder welche Kultureinrichtungen und Angebote sie nutzen, lassen sich für viele Kultursparten und Institutionen kaum oder gar nicht beantworten“ (Deutscher Bundestag 2007a:93f.). So sind die einzigen Zahlen zur Kulturpartizipation, die im Bericht der Bundesbeauftragten zitiert werden, bisher die des 1. Jugend-Kultur-Barometers (Keuchel/Wiesand 2006). Hier wird das Kulturverhalten der Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund gegenübergestellt, soweit Datenlage und Fallzahl der Studie dies zuließen.
Die Studien zum Thema MigrantInnen als Ziel- oder Interessengruppe in der hiesigen Kulturlandschaft bemühen sich um eine erste Eingrenzung des Potentials, behandeln jedoch in der Regel nicht die Hintergründe kultureller Interessensbildung und die räumlich-geografische Kulturorientierung. Einen interessanten Ansatz bietet Sinus Sociovision mit einer Übertragung des qualitativ-psychologischen Ansatzes der aus der Marktforschung bekannten Milieu-Studien auf Menschen mit Migrationshintergrund (Sinus Sociovision 2007). Als wichtiges Ergebnis wurde die Vielfalt der Migranten-Population hervorgehoben; auch könne man, so die Studie, meist nicht von der Herkunftskultur auf die Milieuzugehörigkeit schließen und umgekehrt. 2011 wurde dieser Ansatz auf eine bundesweite quantitative Erhebung ausgeweitet.
Außerdem legte im Jahr 2006 interkultur.pro die Studie „Kulturelle Vielfalt in Dortmund“ vor, in welcher die kulturellen Interessen und Gewohnheiten Dortmunder BürgerInnen mit Migrationshintergrund dargestellt sind (Interkultur.pro 2010). Schließlich wurde in Berlin eine Studie vom ZAD (Zentrum für Audience Development 2009) durchgeführt, die sich mit MigrantInnen als potentiellem Publikum öffentlicher deutscher Kulturinstitutionen beschäftigt. Die schon erwähnte Infrastrukturerhebung des ZfKf (Keuchel/Weil 2010), die die Angebotsseite der klassischen Kultureinrichtungen für MigrantInnen analysiert, differenziert auch die Zielgruppen Kinder, Jugendliche und SeniorInnen und thematisiert darüber hinaus Kooperationen von Kultureinrichtungen mit Migrantenvereinen. Für die Stadt Köln wurden darüber hinaus in der Studie „Kulturwelten in Köln“ neben einer Angebotsanalyse des öffentlichen Kulturlebens – bezogen auf die Herkunft der KünstlerInnen und Werke – auch qualitative Gespräche sowie eine Bestandsaufnahme des Kulturangebots der dort ansässigen Migrantenkulturvereine vorgenommen (Keuchel/Larue 2011).
In den bisher vom ZfKf durchgeführten zielgruppenspezifischen Bevölkerungsanalysen, dem „Jugend-Kultur-Barometer“ (Keuchel/Wiesand 2006) und dem „KulturBarometer 50+“ (Keuchel/Wiesand 2008) wurden die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund zwar gesondert betrachtet, die Anteile dieser Gruppen innerhalb der Gesamtstichprobe boten aber nur die Möglichkeit zu ersten Pilot-Analysen. 2011 wurde daher das Inter-KulturBarometer vom ZfKf für den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien sowie die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen durchgeführt. In qualitativen Gesprächen und einer bundesweit repräsentativen Befragung wurde die Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund zu ihren kulturellen Interessen, ihrer kulturellen Biografie im Rahmen ihrer Migrationsgeschichte und ihrer kulturellen Identität befragt. In der Studie wurde deutlich, dass neben der Bildung auch das Geburtsland der Familie Personen mit Migrationshintergrund in ihrer Identität prägt.
Im Kontext der Kulturellen Bildung ist jedoch entscheidend, dass die Künste, die die Fähigkeit zum Perspektivwechsel fördern, helfen, Migrationserfahrung positiv zu verarbeiten, stärker noch als die Schulbildung. Dies verdeutlichen die Ergebnisse des „InterKulturBarometers“:
Ausblick
Die demografischen Entwicklungen stellen eine außerordentliche Herausforderung für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft dar. Darauf müssen – im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens – Antworten gefunden werden. Die Konzentration auf ästhetische, sinnlich wahrnehmbare künstlerische Dimensionen schafft Möglichkeiten eines nicht konfliktfreien, aber bei allen Differenzen friedlichen und produktiven Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Die Künste fungieren dabei als „dritte Sprache“ über existierende Sprachbarrieren hinweg, oder (mit Homi K. Bhabba) als „dritter Raum“, in dem Unterschiede von (in sich selbst wieder hybriden) Kulturen bewusst zur Bereicherung von prozessualen und kreativen Neukonstruktionen genutzt werden. Neue kulturelle Bildungskonzepte, die Globalisierungseffekte reflektieren und im Spannungsfeld von gewachsenen Kulturtraditionen, kultureller Vielfalt und transkulturellen Effekten stehen, können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.