Ein Plädoyer für die Muße. Gedanken zu einem kontemplativen Musikunterricht.
Das „Plädoyer für die Muße“ beginnt mit einem Blick in Friedrich Nietzsches Schulalltag. Unzeitgemäße Betrachtungen, die zeigen, dass Schule damals wie heute schöpferischer Muße keinen Platz lässt, Schule trägt nichts mehr von ihrer Ursprungsbedeutung „freie Zeit“. Ästhetische Bildungsprozesse benötigen jedoch diese Zeit und Muße, um sich frei zu entfalten. Diskutiert werden nun verschiedene Strategien der Entschleunigung im Musikunterricht und jene Fallstricke, die in diesen lauern: Die Konzentration auf das Musikmachen, die Orientierung an zu vermittelnden Kompetenzen und der damit verbundenen Output-Orientierung, die Hinwendung zum Exemplarischen zentraler „kultureller Wurzelerfahrungen“ (Rumpf), die Einladung zum kontemplativen Verweilen, zum Wiederholen, zum Wartenkönnen. Nur wenn es gelingt, die hier innewohnenden Gestaltungsräume zu nutzen, entsteht Unterricht in gewünscht kontemplativer Beschaulichkeit mit Luft zum Atmen.
Ich habe keine Zeit, mich zu beeilen.
Igor Strawinsky
Warum hat man nie einen Gott der Langsamkeit erfunden?
Peter Handtke
Andante [...] das Tempo eines leidenschaftlichen und langsamen Geistes.
Friedrich Nietzsche
Friedrich und Yakamoz – Zwei Fallbeispiele
„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correkturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken“ (Nietzsche 1999, S. 232). Friedrich Nietzsche besuchte das Domgymnasium Naumburg, fiel hier bereits durch seine musische und sprachliche Begabung auf und wurde dann als Stipendiat der Landesschule in Schulpforta aufgenommen. Eine Schule mit einem ausgewiesen musischen Schwerpunkt, prägenden Exkursionen mit dem Schulchor, eine Schule, die herausragende Persönlichkeiten wie Johann Hermann Schein, Erdmann Neumeister, Friedrich Gottlieb Klopstock unter ihren Schülern wusste. Hier lernte Nietzsche den „uniformierenden Zwang einer Zeiteinteilung“ (zit. nach Janz 1981, S. 69) kennen, an den sich der Vierundzwanzigjährige erinnert: „Ich rettete vor dem einförmigen Gesetz meine privaten Neigungen und Bestrebungen, ich lebte einen verborgenen Kultus bestimmter Künste, ich bemühte mich in einer überreizten Sucht nach universellem Wissen und Genießen, die Starrheit einer gesetzlich bestimmten Zeiteinteilung zu brechen“ (ebd. S. 73). Bereits der junge Nietzsche eilte in seinem durchgetakteten Schulalltag von einer Gegenwart richtungslos zur anderen, er litt unter dieser Ansammlung pulverisierter Augenblicke, unter flüchtigem und kurzfristigem Lernen, das ein kontemplatives Versenken in den Gegenstand unmöglich erscheinen ließ. Seinen vielfältigen Interessen konnte er vornehmlich am wöchentlichen Studien- oder Ausschlafetag nachgehen, den Schüler gegenwärtlich schmerzlich vermissen. Diese ‚freie Zeit‘ stiftete Dauer und bot Gelegenheit zum Verweilen, hier dichtete und komponierte er: „An diesem Tage konnten die Pförtnerschüler eine Stunde länger schlafen, und dann gab es den ganzen Tag weder Schul- noch Lesestunden, sondern nur Repetierstunden, in denen die Schüler das in der Woche Gelernte auf seine Festigkeit überprüfen und sich im übrigen völlig eigenen Studien überlassen konnten“ (Janz 1981, S. 69).
Heute verdrängt die Totalisierung der Schule erst recht andere Lebensentwürfe, die Vergeudung von Zeit scheint im Zuge des verdichteten Lernens die schwerste aller Sünden zu sein. Eile ist zum Signum einer Gesellschaft geworden, die Beschleunigung zur alleinigen Antriebskraft für gesellschaftliche Veränderungen erhebt: „Die zeitlichen Zwänge, die wir heute erleben, die sich als Belastungs- und Überlastungsfaktoren auswirken können, sind Ausdruck der abstrakt-linearen Zeitordnung, die die Individuen zu einem zweckrationalen, kalkulatorischen und ökonomischen Zugriff auf Zeit drängt“ (Ehling 2005, S. 87). Trotz verlängerter Lebenszeit, mehr Freizeit, flexibleren Arbeitszeiten haben wir stets das Gefühl weniger Zeit zu haben (hierzu Dörpinghaus / Uphoff 2012, S. 63). Und diese Verdichtung des Lebensalltags berührt längst auch unser fremdbestimmtes, modularisiertes und durchorganisiertes Freizeitverhalten. In der Schule, dem Funktionselement unserer gesamtgesellschaftlichen Realitäten, ist diese Botschaft längst angekommen, durch den Eintritt in das G8-Zeitalter dürften wir das Verweilen endgültig verlernt haben. Die Geigerin Julia Fischer hat jenes outputoptimierte Lernen im Blick, wenn sie derartige ‚Investitionen in die Zukunft‘ kritisch beleuchtet: „Man hat angefangen, Schulen als Ausbildungsstätten zu sehen. Aber sie sollten für Bildung sorgen. Das bezieht sich nicht nur auf den Musikunterricht, sondern auf alle Fächer (Fischer 2013, S. 185). Wir verrechnen Bildungszeit mit wirtschaftlicher Rendite; der vielfach rezipierte Hilferuf der Hamburger Schülerin Yakamoz drückt diese Ökonomisierung der Bildung durch seine eindrückliche Maschinenmetaphorik aus: „Wir sollen Maschinen sein, die funktionieren, und das mindestens 10 Stunden am Tag. Aber funktionieren heißt nicht gleich lernen. Lernen bedeutet nämlich vor allem eins: Erfahrungen sammeln“ (Karakurt 2011, S. 3). Schule wird zum Lebensinhalt – und dieses menschliche Leben gleicht sich dem maschinellen Arbeitsprozess und seinem Funktionieren an. Moderne Mechanismen der Selbstverbesserung sorgen sich um einen rationellen Umgang mit dem wertvollen Gut Zeit: „Feedbacksysteme, Evaluationen und Beratungsgespräche ergänzen die permanente Kontrolle und befördern das öffentliche Bekenntnis, an sich arbeiten zu wollen, um noch besser zu werden“ (Dörpinghaus / Uphoff 2012, S. 146). Dieses Leben in der Schule kennt nur Pausen, in denen man sich vom Lernen erholt, um dann dem Lern- bzw. Arbeitsprozess wieder zur Verfügung zu stehen. Musikunterricht bewegt sich zwischen diesen Sphären: Als ästhetisch-dekorativer Gegenpol wird er gerne angenommen, um empfindsamen Seelen ein Reservat der Entspannung zu bieten, in diesem Freizeitpark gerinnt er zwischen dem geheiligten Triumvirat der kognitiven Kernfächer selbst zur Pause. Oder Musikunterricht erhebt den Anspruch, es den ‚harten‘ Fächern durch curriculare Fronarbeit gleichzutun, möglichst reibungslos ein messbares und objektivierbares Wissen einzufordern und sich in die heilsökonomische Tradition des rastlosen Lernens einzureihen, das hier in ebenso rastlos-reformerischer Betriebsamkeit eingeführt wurde. „Es geht um die Entwicklung hin zum oberflächlichen Wissen, das zur Schau gestellt wird, um wenigstens intellektuell geadelt zu sein. Bildung ist ein Statussymbol. Gehäuftes Wissen ohne Verstand. Man hat eben die Weltliteratur im Bücherschrank, die Kunst schläft unter dem Kopfkissen – bleibt aber auch dort. Bildung ist zur Halbbildung geworden, und diese zeigt sich als eine Zuwendung zur Welt, die keiner vertieften Arbeit mehr bedarf, den eros nicht kennt“ (Dörpinghaus / Uphoff 2012, S. 148).
Dieser Weg wird zwar inzwischen allseits in Frage gestellt, doch fällt es schwer, hier die Beschleunigungsspirale anzuhalten und in die Gegenrichtung zu bewegen. Hier geht es um mehr als um die Verdichtung des Lernens, als ein Resultat, das quasi en passant mit einer Verkürzung der Schulzeit eingetreten ist: „Die reduzierte Geschwindigkeit allein verwandelt das Sein der Dinge nicht“ (Han 2009, S. 93). Vielmehr gilt es mit Nietzsche, der „überreizten Sucht nach universellem Wissen“ zu begegnen: „Wie ich nach Pforte kam, hatte ich so ziemlich in die meisten Wissenschaften und Künste hineingeguckt und fühlte eigentlich für alles Interesse, wenn ich von der allzu verstandesmäßigen Wissenschaft der mir allzu langweiligen Mathematik absehe. Gegen dieses planlose Irren in allen Gebieten des Wissens empfand ich aber mit der Zeit einen Widerwillen; ich wollte mich zu einer Beschränkung zwingen, um einzelnes gründlich und innerlich zu durchdringen. [...] Jetzt, wo ich im Begriff bin, auf die Universität zu gehn, halte ich mir als unverbrüchliche Gesetze für mein ferneres wissenschaftliches Leben vor: die Neigung zu einem verflachenden Vielwissen zu bekämpfen, sodann meinen Hang, das einzelne auf seine tiefsten und weitesten Gründe zurückzuführen, noch zu fördern“ (Nietzsche 1973, S. 117f.).
Einhundertfünfzig Jahre später wird dies ähnlich gesehen, ein Beleg für die These, dass Schulen „über Jahrhunderte, zum Teil über mehr als tausend Jahre“ ihre „curriculare und unterrichtsmethodische Kontinuität gewahrt“ (Meyer 1987, S. 91) haben. Auswendiglernen, das wir heute dem Computer überlassen können, ist etwas anderes als to learn by heart, auch wenn Übersetzer es uns anders glauben machen wollen: „Was bringt es mir, wenn ich sämtliche Formeln auswendig kenne, die ich jederzeit im Internet nachschlagen kann? Was bringt mir dieses detaillierte Wissen?“ (Karakurt 2011, S. 3). Nietzsche hat sich mit der ihm eigenen Partisanenstrategie während seiner Schulzeit Freiräume geschaffen, um „der schwindelnde[n] Hast unseres rollenden Zeitalters“ (Nietzsche 1988, S. 649) und dem Diktat der Zeitökonomie zu entrinnen: „Ich bemühte mich, [...] die Starrheit einer gesetzlich bestimmten Zeitordnung und Zeitnutzung zu durchbrechen“ (zit. nach Janz 1981, S. 73). Diese Anpassung ans System gelingt heute, da die Zeit noch wesentlich knapper geworden ist als zu Nietzsches ‚Zeiten‘, nicht allen Schülern, gerade jenen (vielleicht allzu engagierten) nicht, die meinen, in emsiger Manier alle vorgegebenen Standards erfüllen zu müssen: „Es sind die, die die Schule ernst nehmen“ (Karakurt 2011, S. 4), die am meisten unter diesem Diktat der Zeit leiden: „Mein Kopf ist voll. Zu voll“ (Karakurt 2011, S. 3).
Müßiggang – aller Laster Anfang?
In der Schule tritt selten Zeit für schöpferische Muße ein, Schule (lat. schola von griech. Σχολή) trägt heute nichts mehr von ihrer Ursprungsbedeutung ‚freie Zeit‘. In der Antike tritt Muße in einem reichen Bedeutungsspektrum, das über Ruhe und Studium bis hin zur Verzögerung und Langsamkeit reicht, als Gegenpol zur Arbeit auf. Diese macht unfrei, weil sie unter dem Zwang der Lebensnotwendigkeit steht. Müßiggang gilt mit all seinen kreativen und charakterbildenden Möglichkeiten als notwendige Voraussetzung und Kern aller Bildungsprozesse, als ein gesellschaftliches Privileg, das sich von der zweckgeleiteten Arbeit der Sklaven abhebt. Aristoteles hätte den Begriff des Geistesarbeiters für ein Paradox gehalten, Cicero prägte den Begriff der ‚würdevollen Muße‘, des „otium cum dignitate“ (Cicero 1976, I,1f.), als eine privilegierte Zeit: Ein Zustand der Freiheit, ohne den Zwang einer Lebensnotwendigkeit oder Sorge um die nächste Lernstandserhebung. „Nur Not zwingt zur Arbeit, die darum not-wendig ist“ (Han 2009, S. 88): „Das höchste Glück entspringt dem kontemplativen Verweilen beim Schönen, das ehemals theoria hieß. Sein Zeitsinn ist die Dauer. Es wendet sich den Dingen zu, die [...] ganz in sich selber ruhen“ (ebd.). Diese kontemplative Betrachtung der Welt ist jenseits der Arbeit und des Nichtstuns angesiedelt. Zu ihr gehört das Sammeln der Sinne, das Streben nach Erkenntnis und Wahrheit: „Die Muße ist dem trägen Nichtstun nicht benachbart, sondern entgegengesetzt. Sie dient nicht zur Zerstreuung, sondern zur Sammlung. Das Verweilen setzt ein Versammeln der Sinne voraus“ (Han 2009, S. 89). Ästhetische Bildungsprozesse brauchen erst recht diese Zeit und Muße, um sich frei entfalten, erquicken und erbauen zu können. Es bedarf Zeit, um diese selbstbestimmt – eben seiner Muße frönend – zu nutzen, eigene Fragen an die Musik heranzutragen und sich hörend, musizierend, gestaltend, aber auch analytisch mit ihr auseinanderzusetzen. Auch Musikunterricht unterwirft sich häufig dem Selbstzweck der Arbeit, der im Zuge der Reformation, durch Calvinismus und Pietismus in unser Leben Einzug gehalten hat und der von Max Weber (den pietistischen Theologen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf zitierend) als Urzelle kapitalistischen Strebens verortet wird: „Man arbeitet nicht allein, daß man lebt, sondern man lebt um der Arbeit willen, und wenn man nichts mehr zu arbeiten hat, so leidet man oder entschläft“ (Weber 1920, S. 171).
Zeit als ‚temporale Zerstreuung‘
Was wir heute als Beschleunigung empfinden, ist für Byung-Chul Han nur ein Symptom einer ‚temporalen Zerstreuung‘: „Der Zeit fehlt ein ordnender Rhythmus. Dadurch gerät sie außer Takt. Die Dyschronie lässt die Zeit gleichsam schwirren. Das Gefühl, das Leben beschleunige sich, ist in Wirklichkeit eine Empfindung der Zeit, die richtungslos schwirrt“ (Han 2009, S. 7). Dieses Gefühl einer Zersplitterung, einer „Atomisierung des Lebens“ (ebd. S. 17) findet auch Einlass in einen Musikunterricht, der sich nicht mehr in einem festen Gefüge zwischen Singen und Musikgeschichte verortet findet, sondern richtungs- und orientierungslos zwischen all jenen Wissensbeständen, die durch – zweifellos begründete – curriculare Erweiterungen in den Unterricht Einzug gehalten haben. „Die Gegenwart schrumpft zu einem flüchtigen Zeit-Punkt. Erben und Ziel sind aus ihr verschwunden. Die Gegenwart führt keinen langen Schweif des Vergangenen und des Zukünftigen mehr mit sich“ (Han 2009, S. 11). Hektischer, unübersichtlicher und richtungsloser ist ein Musikunterricht geworden, der ruhelos von einem Inhalt zum nächsten eilt, sich historischen, systematischen, interkulturellen und soziologischen Fragestellungen widmen soll. Auch manche Schulbuchkonzeptionen fügen sich dieser Atomisierung, indem sie einzelne, in sich abgeschlossene Lerninseln des Augenblicks gestalten und das „Doppelseitenprinzip“ zum allgemeinen Grundsatz erheben. Bieten diese Angebote den gebotenen Anlass zum Verweilen, oder gestaltet sich hier Unterricht, der keine langfristigen Bindungen eingehen möchte? Halten gerade diese Doppelseiten lediglich eine Palette für individuelle Unterrichtsgestaltungen bereit, die durch flüchtige Aufenthalte in eine patchworkartige Beliebigkeit geführt werden?
Ein kontemplativer Musikunterricht setzt Dinge voraus, die dauern. Häufig wird Musik im Unterricht hingegen in dreiminütigen Häppchen serviert, Zeugnis geben hier die sorgsam portionierten Hörbeispiele in den Begleitmaterialien von Schulbüchern und ergänzenden Materialien. Diese fügen sich – will man unterschiedliche Zugänge zulassen und dabei den Unterricht in gebotener Weise phrasieren – gerade so in das pädagogische Urmaß einer 45-minütigen Unterrichtsstunde, der dann nach einer kurzen mentalen Umbaupause Latein- oder Mathematikunterricht folgt. Wie kann hier nun ein Musikunterricht gelingen, der Dauer stiftet, Schülerinnen und Schülern einen Halt, einen Aufent-halt gewährt? Man „sollte sich um eine Erziehung/Ausbildung in Schulen kümmern, um zu erreichen, dass ein erwachsener Mensch in der Lage ist, einem Musikstück zu folgen, das länger als fünf Minuten dauert“ (Fischer 2013, S. 185), fordert die Geigerin Julia Fischer. Spielt sich Musikunterricht in den hier beschriebenen Koordinaten ab, dann tut er das häufig nicht.
Sechs Strategien der Entschleunigung
„Als Zeitdisziplinaranstalten sind Schulen und Universitäten Lernfabriken. Bildung als Verzögerung ist die Unterbrechung und das Außerkraftsetzen der polizeilichen Logik und der Einbruch einer anderen Zeitgestalt“ (Dörpinghaus 2009, S. 45). Um Unterricht zu entschleunigen, bedarf es nicht nur einer Wissenshygiene, die einzig dem Mut zur Lücke vertraut, sondern es gilt, neue Sichtweisen zuzulassen. Manche gewohnten Ordnungen werden im Rahmen der folgenden Überlegungen fragil, vielleicht öffnen sich neue Horizonte: „Gerade Musik erzählt immer wieder und neu davon, wie das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, sie erzählt Geschichten vom Unvorhersehbaren, auch da, wo strenge Logik zu walten scheint“ (Noltze 2010, S. 257).
1. Konzentration auf das Musizieren
Jenseits aller lerntheoretischen Argumentationen ist es gerade ein Anliegen des Aufbauenden Musikunterrichts, den Unterricht aus seiner diskontinuierlichen Beliebigkeit, seiner „temporalen Zerstreuung“ (s. o.) zu führen: Es geht „um die Konzentration auf wenige, überschaubare, beispielhafte und repräsentative musikalische Prinzipien und Phänomene. Ziel dieser vertieften Beschäftigung ist es, den Schülern die Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen, um die Breite der musikalischen Erscheinungsformen und Umgangsweisen als Breite erkennen zu können und das Differente als Differentes“ (Gies / Jank / Nimczik 2001, S. 20). Der Unterricht richtet sich gegen ein gehäuftes Wissen, gegen die Sucht von universellem „Wissen über Musik“, das „in falscher chronologischer Konsequenz“ einzig darauf abhebt, „begriffliche Benennungen zu vermitteln“ (ebd. S. 8). Aufbauender Musikunterricht zielt somit auf temporale Kontinuität, auf eine Verlässlichkeit, die stabilisierend wirkt und über längere Zeit stabile Bindungen schafft.
Auch hier besteht die Gefahr, die Dinge vorschnell zu verzehren, kein kontemplatives Verweilen zuzulassen und das Sein einzig im Tätigsein aufgehen zu lassen. Allzu leicht reduzieren wir musikalisches Lernen auf das, was wir mit der Muttermilch unserer eigenen musikalischen Sozialisation als einen funktionierenden maschinellen Arbeitsprozess, etwa im Erlernen eines Instruments, erfahren und aufgesogen haben: „Wir schlagen vor, in den Klassen 5 und 6 regelmäßig in (fast) jeder Musikstunde [...] rund zehn Minuten für die Erarbeitung musikalischer Fähigkeiten auf der Basis direkter Instruktion zu veranschlagen, um eine Basis für alle Kinder zu ermöglichen“ (Jank 2005, S. 105). Dieses industrielle Zutrauen an das Handwerkliche unterscheidet die Musik von den anderen Künsten: „Was die Möglichkeiten wissenschaftlicher Durchdringung betrifft, ist etwa in der Literaturwissenschaft ein wesentlich genaueres Methodenbewusstsein zu erfahren. Es mag damit zu tun haben, dass Musik stärker ans ‚Machen‘ gebunden ist, dass auch das Denken und Verstehen von Musik stärker ans ‚Handwerkliche‘ gebunden ist als in den anderen Künsten. Die Schwierigkeit stellt sich allerdings dann ein, wenn vor lauter Handwerkswissen der Blick auf das spezifische ‚Mehr‘ der Emergenz verstellt wird“ (Noltze 2010, S. 256f.). Es ist gerade dieses Handwerkswissen, das sich durch den „tätigen Umgang mit Musik“ (Gies / Jank / Nimcik 2001, S. 11), durch das eigene Musizieren, durch den Aufbau figuraler Repräsentationen (vgl. ebd. S. 12) festigt und sich dann im „abstrahierenden Erfassen von zugrundeliegenden Strukturen und Regeln“ (ebd.) ergießt: „Das ist die eigentliche Domäne für das Bewusstsein des Handwerkers. Sein ganzes Bemühen um qualitativ hochwertige Arbeit hängt letztlich ab von der Neugier auf das bearbeitete Material“ (Sennet 2008, S. 163). Es bleibt die Aufgabe, darauf achtzugeben, dass dieses handwerkliche Tun nicht jede kontemplative Dimension verliert und in die pure Aktivität herabsinkt. Dann wird musikalisches Handeln zur bloßen, totalitär erfahrenen, mechanischen Arbeit degradiert, dann werden auch hier Bildungsprozesse durch eine bloße ‚Ausbildung‘ verdrängt, die den rationalen Beschleunigungsmechanismen jener gleichbleibenden Taktung unterliegt, die keine Verzögerungen erlauben und Bildung letztlich verhindern. Diese Gefahr wird durchaus gesehen: Aufbauender Musikunterricht „darf nicht als geschlossenes, durchrationalisiertes Modell in fixierten methodischen Formen gestaltet werden (wie dies in manchen Konzepten von Instrumental- oder Gesangsklassen geschieht)“ (Jank 2005, S. 127). Denn folgt der Unterricht einer linearen Bahn, auf der musikpraktische Fähigkeiten wie einzelne Rechenschritte erworben werden, kann das Lernen prinzipiell beliebig beschleunigt werden. Goethe spricht von einem „veloziferischen Maschinenwesen“ (zit. nach Geißler 2012, S. 110), diese Wortschöpfung aus velocitas (Hetze, Eile) und dem teuflischen Lichtbringer Luzifer kritisiert eine Zeit, „die nichts reif werden lässt, wo man schon im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist“ (ebd.). Das Denken schaut sich nicht um, es gibt keine Um- oder Abwege, auch ein Schritt zurück macht keinen Sinn, weil er als einzelner Arbeitsschritt nur das Erreichen des Ziels verzögert. Fehlt dem Gehen jedes Zögern, dann erstarrt es zum Marsch. „Aufbauendes Lernen als generalisierender Alphabetisierungsvorgang, in dem musikalische Elemente, Parameter oder Fertigkeiten sowie Wissen über Musik progressiv geordnet wird, ist immer gefährdet, in normative Entscheidungen für (und gegen) ein kanonisiertes Kulturwissen umzuschlagen“ (Geuen 2006). Damit sich die Gangart des Aufbauenden Musikunterrichts nun nicht auf dieses Marschieren auf oder gegen ein festgelegtes Ziel hin reduziert, sind geeignete unterrichtliche Settings zu suchen, die sich davon lösen, das Fortschreiten auf eine schmale Bahn des Vor- und Nachmachens zu zwingen und sich einzig in Koordinaten handwerklichen Tuns zu bewegen. Erst wenn es im Unterricht gelingt, einzelne, individuelle Zugänge zu synchronisieren und die erworbenen musikpraktischen Fähigkeiten in ihren wechselseitigen Bezügen in ein Gesamtgefüge einzubinden, öffnen sich neue Türen und das marschierende Fortschreiten weicht dem kontemplativen Schweben.
2. Von der Input- zur Outputorientierung
Es gilt, die Rahmenbedingungen im Unterricht so zu setzen, dass der Respekt vor Eigenzeiten der Lernenden befördert und nicht behindert wird. Hier gilt es, die individuellen Fähigkeiten in ihrer Vielfalt zu nutzen, in der Gruppe integrativ wirken zu lassen und sich nicht auf ein (ohnehin nie gelingendes) Aufheben von Defiziten der musikalischen Sozialisation zu beschränken. Ein Versuch, den unterschiedlichen System- und Eigenzeiten, die sich selten synchronisieren lassen, Rechnung zu tragen, ist ein kompetenzorientierter Unterricht, der „weniger im Sinne einer Input-Orientierung Inhalte fest-schreib[t], sondern vielmehr die Kompetenzen zu beschreiben versuch[t], die Schüler bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erlangt haben sollen“ (Knigge / Lehmann-Wermser 2008, S. 60). Dieser „Paradigmenwechsel von der Input-Orientierung alter Lehrpläne hin zur Output-Orientierung“ (ebd. S. 61) nimmt die Musikpädagogik in die Pflicht, sich zunächst über ihre elementaren Bildungsziele zu verständigen. Dann könnte sich auch für das Fach Musik die Möglichkeit eröffnen, sich von der Erledigungshast der Stofffülle und ihren Oberflächeninformationen zu lösen und sich mit gebotener Intensität dieser Ziele anzunehmen und sich den spezifischen Fähigkeiten des einzelnen Schülers zuzuwenden: Wissen wird dann nicht als anzuhäufender Gegenstand, sondern als Produkt einer individuellen Konstruktionsleistung angesehen. Dies erlaubt eine aktive, selbstgesteuerte, intensive Beschäftigung mit den Gegenständen, die dazu führt, dass der Mensch sich selbst und in seinem eigenen Tempo bildet. Nicht als ein Ingenieur des Wissens, der im stromlinienförmigen Prozess den Weg des geringsten Widerstands geht, sondern als ein „Bastler“ (Geißler 1985, S. 155) tritt der Schüler in Erscheinung, der „auf ein Ziel zugeht, geradeaus, aber in Kurven“ (ebd.). Denn ebenso, wie man seinen Lebensentwurf, das eigene Glück nicht linear planen kann, entzieht sich auch das Verstehen von Musik derart geradlinigen Prozessen. Der Soziologe Lévi-Strauss beschreibt dieses mit dem Handlungstyp des Bastlers: „Die Mittel des Bastlers sind also nicht im Hinblick auf ein Projekt bestimmbar [...], sie sind Werkzeuge, aber verwendbar für beliebige Arbeiten innerhalb eines Typus“ (Lévi-Strauss 1973, S. 30f.). Karlheinz Geißler hat diesen Typ des Bastlers, der sich von der hektischen Zielstrebigkeit eines Hobbyheimwerkers grundlegend unterscheidet, mit Blick auf das Thema Zeit bearbeitet: „Als Zaungast des Fortschritts nimmt und gibt er sich aber auch die Freiheit, sein Ziel entsprechend seinen Mitteln und seinen sich entwickelnden Einsichten und Erfahrungen zu verändern. Ebenso hat er die Kraft, auf die eigenen schöpferischen Möglichkeiten bauend, etwas in der Schwebe zu halten, sich in einem nicht klar abgegrenzten Umfeld vager Vorstellungen und unscharfer Verhältnisse zu bewegen“ (Geißler 1985, S. 155). Diese Gedanken öffnen sich in Richtung einer Kompetenzorientierung, die mit Widerständen produktiv umgeht, Umwege zulässt, Ziele je nach vorhandenen Materialen setzt und auch modifiziert.
Doch es gibt auch eine andere Seite der Kompetenzmedaille, die sich gerade deshalb zeigt, weil die Frage nach Bildungszielen (nicht nur im Musikunterricht) bisher nicht nur unbeantwortet geblieben, sondern im Zuge überhasteter Reformprozesse erst gar nicht gestellt worden ist. Sie zeigt sich in der Befürchtung, den Unterricht einzig „auf den festen Boden testbarer Einzelkompetenzen“ zu stellen, „so dass endlich unter den Schulen ein leistungssteigernder Wettbewerb [...] in der Erzeugung optimaler Lernprodukte (sprich nachweisbarer Schülerkompetenzen) möglich wird“ (Rumpf 2005, S. 5). All dies habe dann „effizient, ohne Zeitverlust, ohne Ausflüge in private Beliebigkeiten“ (ebd.) zu geschehen. Für den Musikunterricht würde dies bedeuten, „die Musik und das ‚Musik-Lernen‘ den formalen Vorgaben für Standards und Kompetenzen anzupassen“ (Richter 2005, S. 14), die „bisher formulierten Ziele gemäß der neuen Terminologie umzudeuten“ (ebd.), musikalische Erscheinungen auf „kognitiv fassbare und überprüfbare Reste“ (ebd. S. 22) zurückzustutzen. Allgemeinbildung gründet sich nicht auf das größtmögliche gemeinsame Vielfache, sondern auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, der „verarmt, ausdünnt und damit verfälscht“ (ebd.).
Verstehen sich kompetenzorientierte Bildungsstandards als Qualitätsmanagement einer Ausbildungsindustrie, die nur Fragen nach Nutzbarmachung und Verwertbarkeit stellen, machen sie den Fortschritt mess- und evaluierbar. Dann legen sie fest, „welche Fertigkeiten in welcher Zeit erworben werden sollen, versprechen, keine Umstände zu machen, und gehören damit in den Kontext rationaler Beschleunigungsmechanismen“ (Dörpinghaus / Uphoff 2012, S. 148). Ein expressiv-ästhetisches Fach gerät in den Sog einer technischen Idee von Unterricht und stellt sich aus eigenem Legitimationsdruck jenen Anforderungen, die aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich abgelesen werden: Das Fach Musik kann „innerhalb der aktuellen Bildungsdiskurse nur glaubwürdig und offensiv der Gefahr des schleichenden Verschwindens begegnen, wenn es sich in der Diskussion um Bildungsstandards den gleichen Anforderungen stellt, wie dies andere Fächer tun“ (Geuen 2006). Allzu groß ist die Angst, „dass Musik auf längere Sicht aus dem Kanon der Schulfächer herausfällt, wenn im Musikunterricht keine den ‚Hauptfächern’ vergleichbaren Leistungsstandards angezielt werden“ (von Schoenebeck 2004, S. 8). Willig stellt man sich dem Schicksal, man begibt sich unter das Joch von Fremdbestimmungen, im Vertrauen auf einen zweigleisigen Unterricht, der neben messbaren Kompetenzen auch ein ‚Zeitfenster‘ für jene Momente bereithält, die sich dem rational Abtastbaren prinzipiell entziehen. Widmet man sich jedoch vornehmlich dem, was nur die Kunst kann, will man jene Neugier, Lust und Empathiefähigkeit entfalten, die Kinder und Jugendliche von Natur aus in ihrem Unterricht einbringen, dann darf sich Musikunterricht nicht vom ökonomischen Kalkül und den vordergründigen Koordinaten der Wissenskontrolle bestimmen lassen und seine Schülerinnen und Schüler wie blinde Passagiere die „tote Kunst der Ausübung einzelner mechanischer Fähigkeiten“ (Pestalozzi bereits 1543, zit. nach Geißler 1985, S. 128) exerzieren lassen.
3. Kulturelle Wurzelerfahrungen
Folgt man Horst Rumpf und ersetzt den Begriff „Basiskompetenz“ durch den Begriff „kulturelle Wurzel-erfahrungen“ (Rumpf 2005, S. 7), dann wird man dem gewahr, was es mit Musik „im Grunde auf sich hat“ (ebd.): „Wer die Grenzen der Basiskompetenzen ermisst, sollte sich aufmachen und nach kulturellen Wurzelerfahrungen fahnden – in Biografien, in Literatur, in der Wissenschaftsgeschichte, in alltäglichen Lebenswelten“ (ebd. S. 8). Diese kulturellen Wurzelerfahrungen stellen sich einer Fokussierung auf eng umschriebene Inhalte oder Kompetenzen entgegen und bringen in Erinnerung, was Martin Wagenschein unter exemplarischem Lernen verstanden hat und später im genetischen Prinzip subsumierte. Gerade auch mit Blick auf die Einzigartigkeit von Kunstwerken, deren Qualität sich gerade „in der Differenz zum Allgemeinen, Regelhaften bzw. Gewohnten“ (Wallbaum 2007, S. 101) ereignet, kann das Allgemeine im Besonderen entdeckt werden, auch, wenn es uns oft fragil erscheint und nicht offen zutage liegt. Es sind gerade diese allgemeinen „Gestaltungsprinzipien als Schlüssel und Begleiter für das Verstehen von Musik und den Umgang mit ihr“ (Richter 2012, S. 59), die Christoph Richter ausmacht: Diese elementaren Prinzipien wie „Öffnen – Schließen, Anfang – Schluss, Wiederholung – Veränderung, Reihung [...]“ (ebd., S. 60) erfordern veränderte Perspektiven. Sie lassen sich nicht behandeln oder durchexerzieren, sie können aber das Verstehen „leiten und begleiten“ (ebd. S. 61), wenn man offene Lernprozesse initiiert und Bedingungen setzt, die ein nötiges Verweilen und Eintauchen in derartige Gestaltungsprozesse zulassen. Die Weise, wie wir Musik verstehen, ist eng verbunden mit der Zeit, die wir den Dingen einräumen. Befinden wir uns auf dem Exerzierplatz des Bestimmt-Einfachen, werden wir vor jene vollendeten und selbstverständlichen Tatsachen gestellt, die sich an der Oberfläche ablesen und in Spiegelstriche und Tafelbilder fassen lassen. Dann verliert Musik ihre Möglichkeiten, die Vielfalt der Dinge versteckt sich hinter dem oberflächlich Bestimmbaren. Das Bild der „Wurzelerfahrung“ führt uns weg von dieser materiellen Präsenz der Selbstverständlichkeiten: Eine Wurzelerfahrung mit Blick auf elementare Gestaltungsprinzipien zeigt uns das Werden der Dinge, sie offenbart, aus welchen Rohstoffen ein Kunstwerk entsprungen ist, sie erlaubt es, Beziehungen zwischen uns und den Dingen zu stiften und eigene Erfahrungen und Weltzugänge einzubringen.
4. Kontemplatives Lernen
Im Mittelalter ist Arbeit noch ganz von Kontemplation durchdrungen. Das bekannte Diktum ora et labora drückt aus, wie die Zeit der Kontemplation, der Muße ihre eigene Bedeutsamkeit entfaltet. Ein Lernen, das sich in beschriebener Weise ausschließlich dem maschinellen Arbeitsprozess angleicht, kennt kein Miteinander von Kontemplation und Arbeit, es kennt nur die leere Pause. „Die vita contemplativa, die betrachtende Lebensweise, wird der M[üßigänger] gegenüber der tätigen vita activa bevorzugen“ (Dischner 2009, S. 150). Byung-Chul Han fasst dies in Anlehnung an Kant zusammen: „Die vita contemplativa ohne Handlung ist blind. Die vita activa ohne Kontemplation ist leer“ (Han 2009, S. 109). Auch Musikunterricht hat durch eine Totalisierung des Tuns das Machen vor die Dinge gestellt, der ehemals betrachtende Hörer wird selbst tätig und zur Arbeit gezwungen: „Die These vom ‚Primat des Hörens‘ – wenn sie denn je berechtigt war – gilt heute nicht mehr“ (Jank 2005, S. 93). Hören begleitet vielmehr das eigene Musizieren und musikbezogene Handeln, „die Schulung des Hörens verläuft parallel, weil nicht sinnvoll musizieren kann, wer nicht hört, was er spielt oder singt“ (ebd.). Hier spricht nicht der Müßiggänger, sondern die vita activa, die kontemplative Momente zwar in sich aufnehmen möchte, aber das „Musizieren als ‚Fundamentalkategorie‘ musikalischer Erfahrung“ (ebd.) betrachtet. Zu diskutieren wäre, ob das eigene Musizieren, gerade im Klassenverband, immer geeignet ist, das Hören zu schulen oder ob der Unterricht hier im Tun erstickt, seine kontemplative Dimension gänzlich verliert und zur puren Aktivität und Arbeit herabsinkt: „Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik“ (Nietzsche 1999, S. 231). Auch das Musizieren kann einladen zum Verweilen, wenn es nicht im Warm-up des eigentlichen Unterrichts separiert wird oder im pausenlosen Immer-Weiter-Machen erstickt, sondern wenn Fragen nach dem ‚Warum‘ und ‚Wohin‘ zugelassen werden, das Machen in einem „kulturerschließenden“ (Gies / Jank / Nimczik 2001, S. 22 u. Jank 2005, S. 113ff.) Unterricht aufgeht und das Verweilen als Wesensschau (theoria) nicht gänzlich vergessen wird: „Im geistigen Erkennen des Menschen gibt es bei den Alten ein Element rein empfangenden Hinblickens, das, wie Heraklit sagt, ‚Hinhorchen auf das Wesen der Dinge‘“ (Pieper 1985, S. 25). Der Bann scheint erst gebrochen, wenn die vita activa die vita contemplativa auf diese Weise in sich aufnimmt und wieder in ihren Dienst stellt.
„Die Haltung der Kontemplation kann ein betrachtender ständiger Reflexionsprozeß sein, kann aber auch meditativ wahrnehmend (‚der Gott ist ganz Wahrnehmung‘ – Xenophanes) zu einer fundamentalen Durchbrechung des Gewohnten und der Gewohnheit führen“ (Dischner 2009, S. 151).
Die Musik selbst kann uns zu solch einem meditativen Verweilen einladen: Eine Bach-Arie kann uns in dem ihr eigenen Dazwischen den Raum für kontemplative Beschaulichkeit und Nachdenklichkeit öffnen. Sie tut dies, indem sie den Handlungsverlauf anhält, dem Unterwegssein ein Ziel gibt, Abstand schafft und zugleich Anschlüsse an jenes bereithält, was sie auf Abstand bringt. Sie tut dies nicht, wenn sie in Hast und Eile zum Entschlüsseln eines Kataloges rhetorischer Figuren degradiert wird und zu einer Erledigungswut führt, die sich aus einer falsch verstandenen Vorstellung von exemplarischem Lernen (hierzu Wallbaum 2007, S. 109) zudem noch auf die ersten acht Takte beschränkt.
5. Vertiefen und wiederholen
„Unverzichtbar jedoch ist die Wiederholung in Bildungsprozessen. ‚Die Wiederholung ist die Mutter, nicht bloß des Studierens, auch der Bildung‘, schreibt Jean Paul in seiner Erziehungslehre von 1807. Keine Erziehung kann auf schöpferische, bildungswirksame Wiederholung verzichten. Doch das scheint in unseren Tagen in Vergessenheit geraten zu sein. [...] Doch weder in der Erziehung noch in der Bildung gilt es, Zeit zu ‚bewirtschaften‘, sie zu sparen, Prozesse zu beschleunigen, zu straffen und sie zu verkürzen. In Bildung und Erziehung geht es vor allem darum, Zeit klug zu ‚verlieren‘“ (Geißler 2012, S. 58f.). Wer sich mit Musik beschäftigt, kennt sich wiederholende Klänge mit ihren kleinen Elastizitäten, mit Spielräumen für Neues und Überraschendes ordnen sie das Zeitliche. Der Hörer braucht diese Wiederholungen, er verfängt sich in das, was wiederholt wird, umso mehr kann er sich auf Neues und ein Anderes einstellen. Musik macht erst durch Wiederholung Sinn, und dieses menschliche Bedürfnis nach Wiederholung, nach Ritualen und festen Orientierungen gilt auch für Bildungsprozesse: „Produktive Wiederholung, wie sie Grundlage des Bildungsprozesses ist, ist Erinnerung nach vorne“ (Geißler 2012, S. 60). Platon versteht unter Bildung eine ‚Umwendung des Blicks‘, der Mensch sieht durch Wiederholung die Welt in einem anderen Licht, weil er erst durch sie weiß, wonach er suchen muss: „In der Wiederholung sind die Ideen durch die irdische Färbung für den Wiedererinnernden nicht folgenlos. Kierkegaard unterscheidet die Wiederholung von der bloßen Erinnerung, sofern sich die Wiederholung nicht ‚rücklings‘, sondern ‚vorlings‘ erinnere“ (Dörpinghaus / Uphoff 2012, S. 119).
Grundprinzipien der Wiederholung, die zu kulturellen Wurzelerfahrungen führen, können im Musikunterricht in verschiedenen didaktischen Modellierungen auftreten: Produktive Wiederholungen, Erinnerungen nach vorn, ergeben sich durch die bereits beschriebene Orientierung an elementaren Gestaltungsprinzipien, die kein mechanisch-stumpfes Wiederholen, sondern – mit Peter Handtke ausgedrückt – ein „Sich-Wieder-Herholen“ (zit. nach Geißler 2012, S. 60) initiieren. Eine „Umwendung des Blicks“ geschieht auch, wenn Musik aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird, die immer wieder neue Anblicke freilegen. Reinhold Brinkmann zeigt dies an Brahms‘ 2. Sinfonie, indem er verschiedene „Grundperspektiven und Erfahrungsschichten“ (Brinkmann 1990, S. 3) freilegt und anhand des dritten Satzes verschiedene Perspektiven „einkreisend diskutiert“ (ebd. S. 91): Die Stilisierung der Tanzcharaktere, Prinzipien der entwickelnden Variation, melancholische Tonfälle und deren Aufhellungen können nur herausgearbeitet werden, wenn dem „Horchen auf Zwischentöne“ (S. 100) genügend Zeit für ein Verweilen eingeräumt wird, wenn diese Schattierungen auch in einem hier gebotenen kreativen und tätigen Umgang erarbeitet werden, wenn die Musik nicht vorschnell verzehrt und analytisch verköstigt wird.
6. Über Pausen und das Wartenkönnen
„Bildung ist Wartenkönnen“ (Adorno, zit. nach Vogelsang 2012, S. 41), bemerkt Adorno in seinem Nachlass. Ein unzeitgemäßer, fast anachronistischer Gedanke in einer Welt, in der wir Zeit effektiv bewirtschaften und das Warten als vertane Zeit einen schlechten Ruf genießt. Auch Lernen scheint heute nicht mehr auf diese Umständlichkeiten angewiesen zu sein. Warten ist ein aktives Tun, bedeutet – so lehrt das Grimm`sche Wörterbuch – ‚wohin schauen‘, ‚seine Aufmerksamkeit auf etwas richten‘, ‚versorgen‘, ‚pflegen‘. Auch in der Musik sind Pausen nicht nichts, sondern Leerstellen, in denen Bedeutsames geschieht, als laut-loser Grund ist Stille das konstitutive Element der Musik. Wie die Pause in der Musik hat auch das Warten ganz unterschiedliche Qualitäten, die zum Lernen wie zum Leben existenziell dazugehören: „Die qualitätslose Rechenmarke ‚Geld‘ raubt dem Warten jeglichen situationsspezifischen, besonderen Charakter und seinen jeweiligen Eigensinn. Beglückung, Freude, Erwartung, Entzücken. Diese und andere Gefühle, die das Warten bei Menschen auszulösen fähig ist, spielen keine Rolle“ (Geißler 2012, S. 74f.).
Es sind Bedingungen eines Zulassens, die gestaltet werden möchten und sich gegen den Zeitdruck der Beschleunigung stellen. Es scheint, als hätte Thomas Mann das heutige Schicksal des Wartens bereits vorausgesehen: „Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs; man erringt sie nicht, man atmet sie ein“ (Mann 1990, S. 339). Vielleicht gilt es einfach, die vielfältigen Gestaltungsspielräume, die uns unser Fach schenkt, zu nutzen und Musikunterricht als ein ‚Geschenk der Freiheit‘ anzunehmen, nicht in ‚Fron und Plackerei‘, sondern in kontemplativer Beschaulichkeit mit Luft zu atmen.
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