Performativität und Improvisation in der Kunstlehrendenbildung
Abstract
In den vergangenen Jahren wurde deutlich, dass besonders kreative Fächer wie Kunst, Musik und Darstellendes Spiel unter den Bedingungen der Pandemie gelitten haben. Abgesehen von technischen Herausforderungen, ist ein Handlungsdruck entstanden, der ein Umdenken von Unterricht gefordert hat. Die Ausbildung einer ästhetisch-performativen Sensitivität erleichtert die Gestaltung von Unterricht, indem sie zum Infragestellen und Verwandeln von routinierten Denk- und Handlungsformen ermutigt und damit den Weg für performatives, prozessorientiertes und ko-kreatives Arbeiten im Unterricht ermöglicht. Die dafür notwendige Risikobereitschaft sowie wesentliche Kenntnisse, Fähigkeiten und ein Verständnis über die Wirksamkeit von Performativität im Kunstunterricht, können Lehramtsstudierende in der Vermittlung von performativen Methoden und Prozessen in Theorie und Praxis ausbilden. In einem breiten Experimentierfeld an der Universität Bremen erproben, beforschen und reflektieren die Studierenden emergente und ko-kreative Situationen, in denen Strukturelemente von Performativität produktiv sind. In dem seit 2019 von Kira Hess laufenden Promotionsprojekt ist die Wirkung von Performativität und Improvisation in der (Weiter-)Entwicklung, Durchführung und Untersuchung (DBR) von (digitalen) Lehr-Lernsettings in der ersten Phase der Lehrendenbildung zentral. Ziel ist die Entwicklung einer ästhetisch-performativen Sensitivität bei den Studierenden. Dazu werden experimentelle Gestaltungs- und Handlungsräume eröffnet, in denen sie sich mit der Konzeption, Durchführung und forschungsorientierten Reflexion von Unterrichtsprozessen und der eigenen Lehrpersönlichkeit kreativ auseinandersetzen.
In den vergangenen Jahren wurde deutlich, dass besonders kreative Fächer wie Kunst, Musik und Darstellendes Spiel unter den Bedingungen der Pandemie gelitten haben. Abgesehen von technischen Herausforderungen, ist ein Handlungsdruck entstanden, der ein Umdenken von Unterricht gefordert hat. Die Ausbildung einer ästhetisch-performativen Sensitivität (Abk. ÄPS) erleichtert die Gestaltung von Unterricht, indem sie zum Infragestellen und Verwandeln von routinierten Denk- und Handlungsformen ermutigt und damit den Weg für performatives, prozessorientiertes und ko-kreatives Arbeiten im Unterricht (auch online und hybrid) ermöglicht. In diesem Artikel wird die Relevanz von performativen Perspektiven auf Unterricht sowie die Notwendigkeit von Improvisation hervorgehoben. Die Darstellung basiert auf praktischen und theoretischen Ansätzen, die im Rahmen der Kunstlehrendenbildung an der Universität Bremen gelehrt und im Rahmen eines seit 2019 laufenden Promotionsprojektes empirisch untersucht werden. Ziel der Arbeit ist die Darlegung von Konzeptionen und Bedingungsfaktoren, welche die Ausbildung einer ÄPS begünstigen und damit eine Weiterentwicklung der Lehr-Lernkultur im Kunstunterricht zu ermöglichen. Die Forschung liefert damit auch einen Beitrag zu der von Juliane Gerland (siehe: Juliane Gerland „Improvisieren – Potenziale für Kulturelle Bildung“, 2023) erkannten Leerstelle bezüglich empirischer Untersuchungen zum erfolgreichen Einsatz und Nutzen von Improvisation in der Bildung. Die Ausführungen sollen einladen, sich einem performativen Handlungsfeld anzunähern und ermutigen, von tradierten Lehr-Lernstrukturen abzuweichen. Im Fokus steht die Erprobung von Inhalten und Methoden, die die Studierenden unterstützen, performative Arbeitsansätze für ihren zukünftigen Kunstunterricht zu erfinden, durchzuführen und zu reflektieren.
Die Lücke zur schulischen Praxis gibt es wirklich!
Der wissenschaftliche Diskurs zeigt kontinuierlich neue methodische Zugänge und Erkenntnismöglichkeiten für die Weiterentwicklung performativer Arbeitsprozesse auf (u.a. Dudek 2022; Lange 2019; Peters 2018; Seumel 2015). Dennoch ist die Umsetzung performativer Handlungs- und Denkformen in den Schulen noch unterrepräsentiert. Die Betrachtung von Unterrichtsprozessen als Elemente einer Aufführung lädt zum Hinterfragen tradierter Lehr-Lernstrukturen ein und bietet Möglichkeiten ihrer Veränderung. Die dafür notwendige Risikobereitschaft sowie wesentliche Kenntnisse, Fähigkeiten und ein Verständnis über die Wirksamkeit von Performativität im Kunstunterricht, können Lehramtsstudierende in der Vermittlung von performativen Methoden und Prozessen in Theorie und Praxis ausbilden. In einem breiten Experimentierfeld an der Universität Bremen erproben, beforschen und reflektieren die Studierenden emergente und ko-kreative Situationen, in denen Strukturelemente von Performativität produktiv sind. Die Vermittlung fachpraktischer Fähigkeiten zur Entwicklung und Durchführung künstlerischer Performances ist dabei nicht Fokus. In der Transformation „performativer Verfahren“ (Peters 2018) in Unterrichtskonzepte geht es vielmehr um die Frage, wie Kunstunterricht als Ganzes durch Improvisation und Performativität in seinen Methoden und Zielen verändert werden kann. Intendiert ist die Ausbildung einer ÄPS als Grundlage jeglichen pädagogischen, künstlerischen und performativen Handelns.
Ästhetisch-performative Sensitivität (ÄPS)
ÄPS wird als eine Schlüsselqualifikation verstanden, die durch ausgewählte Fähigkeiten wirksam und weiterentwickelt werden kann. Diese werden im Folgenden kurz dargestellt und beziehen sich auf ein Körper- und Raumbewusstsein, soziale Interaktionen, Wahrnehmungsvorgänge, Ordnungsprinzipien performativer Prozesse und das Reflexionsvermögen. Der Moment der Reflexion ist allen genannten Bereichen inhärent, die nicht gänzlich voneinander zu trennen sind, sondern ineinandergreifen.
- Fähigkeit zur Improvisation als besondere Form der Aufmerksamkeit und Interaktion
Improvisation wird als eine Grundlage für jede Lehramtsausbildung verstanden, da aus den damit verbundenen Konzeptionen und Erkenntnissen wichtige Entscheidungen für die Gestaltung und Reflexion von Unterrichtsprozessen getroffen werden können. Techniken der Improvisation zeichnen sich durch eine prozessorientierte Arbeitsweise aus. Auch das gezielte Arbeiten mit emergenten Momenten lässt sich auf mögliche Lehr-Lernsituationen übertragen, denen sich (zukünftige) Lehrer*innen ausgesetzt sehen. Es hebt das Denken in Kausalitäten und Linearität auf und fordert eine Akzeptanz und Mut gegenüber dem Unkontrollierbaren ohne an Kompetenz und Sicherheit verlieren zu müssen.
- Fähigkeit zur Ausbildung einer ästhetisch-experimentell-forschenden Haltung
Der Begriff „Haltung“ wird in diesem Zusammenhang als eine Denkweise verstanden, die das Können voraussetzt, eigens gewählte Handlungen zu vollziehen, in ihrem Rahmen zu experimentieren und ihre Wirkung zu beforschen (vgl. Peters 2018:69). Performative Prozesse schaffen die Grundlage für ästhetische Erfahrungen, die eine Auseinandersetzung mit bestehenden Mustern begünstigen und damit herausfordernd wirken. Die Offenheit sich auf das vermeintlich Unbekannte einzulassen, bildet dadurch die Grundlage für forschendes Lernen (vgl. Lange 2013:30f).
- Fähigkeit zur Ko-Kreation: Vom Ich zum Wir
Ko-Kreation wird als Grundlage verstanden, Menschen, die zuvor keine Interaktion hatten oder sogar in Konkurrenz zueinanderstanden, gemeinsam an einem Ziel arbeiten zu lassen, das sie individuell nicht erreichen können (vgl. Ernst 2021:147). Die gemeinsame und aktive Mitgestaltung in ko-kreativen Prozessen sorgt nachhaltig für mehr Zufriedenheit (vgl. Neundlinger et al. 2023:88). Für die Arbeit in Vermittlungsprozessen, ist das aktive Einbeziehen aller Teilnehmenden konstitutiv. Kollaborative und kooperative Prozesse können die gemeinsame Arbeit unterstützen und das Gruppengefühl stärken. Dies schließt auch den produktiven Umgang mit einer positiven Fehlerkultur ein.
- Fähigkeit zum bewussten Einsatz von Ordnungsprinzipien performativer Prozesse
Performative Prozesse unterliegen spezifischen Strukturen, darunter fallen die Anwendung eines zeitlichen Ablaufs und dessen Gliederung in Zeiteinheiten, der Einsatz von sich wiederholenden Aktionsabfolgen und ihrer Variation sowie das Bewusstsein über Handlungs- und Sprachräume, die sich gegenseitig bedingen und Materialität, Lautlichkeit und Körperlichkeit einschließen (vgl. Peters 2018:69ff; Fischer-Lichte 2017:219). Dieses theoretische und praktische Wissen ist Voraussetzung, um sich bewusst von gesetzten Rahmungen zu lösen und neue Möglichkeitsräume zu öffnen. Dazu zählt unter anderem das Initiieren von Anlässen, die das Sammeln und Hervorbringen von Erfahrungen begünstigen.
- Fähigkeit zur Körperwahrnehmung im Sinne von Aisthesis und Propriozeption
Zur Wahrnehmung des Körpers in performativen Verfahren zählt eine aktive Sinnestätigkeit und der aktionsbezogene Einsatz des Körpers in individuellen sowie ko-kreativen Handlungsvollzügen. Das Auflösen einer statischen Position des Körpers begünstigt ein freies, spielerisches und experimentelles Agieren (vgl. Lange 2002:380). Für Studierende ist der Einsatz des Körpers für das Entwickeln ihrer Lehrpersönlichkeit substantiell. Der Körper steht in einer wechselseitigen Abhängigkeit zu Raum, Zeit und Sprache (vgl. Peters 2018:70). Angehende Lehrpersonen müssen sich ihrer Präsenz, ihrer Performanz sowie dem Nutzen von Zeit und Raum bewusst werden, um im Sinne einer Performativität im Kunstunterricht agieren zu können.
- Fähigkeit zur Raumperzeption für Inszenierungsstrategien
Raumperzeption ist für die Betrachtung von geometrischen Räumen konstitutiv. Durch das Verständnis einer „Performativierung des Raums“ (Leeker 2014:150), ergibt sich ein Perspektivwechsel, der es erlaubt, die Potenziale in und von Räumen zu erkennen. Der „performative Raum“ (ebd.:151), organisiert und strukturiert das Verhältnis zwischen den Beteiligten in ihren Bewegungen und Wahrnehmungen (vgl. Fischer-Lichte 2017:187). Dieses Verständnis von Räumlichkeit ermöglicht eine erweiterte Betrachtungsweise und Wahrnehmung von Räumen, in Bezug auf ihre performative Dimension und wirkt Gewohnheiten und Erwartungen entgegen. Ziel ist es, ein kreatives Potenzial in Räumlichkeiten für die Gestaltung von Unterricht zu entdecken.
Zur Performativität im Kunstunterricht
Das Seminar Zur Performativität im Kunstunterricht ist Teil der Module 10 und 11 für Fachdidaktik mit Praxisorientierung des Studiengangs Kunst-Medien-Ästhetische Bildung für Bachelorstudierende der Universität Bremen. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Ausbildung von angehenden Lehrpersonen und die damit verbundene Vorbereitung auf das Entwickeln, Durchführen und Beforschen eines eigenen Kunstunterrichts in der Schule. Die Wirksamkeit von Performativität im Kunstunterricht ist dabei essentiell und bestimmt die Unterrichtskonzeption. Ziel des Seminars ist es Denk- und Handlungsroutinen sowie Lerngewohnheiten bei den Studierenden zu verrücken und dadurch eine kritische Betrachtung von Unterricht zu schaffen. Der Blick durch eine „performative Brille“ soll hierbei Prozesse als performativ begreifen und damit hinterfragen lassen. Dies begünstigt einen Perspektivwechsel und eine daraus folgende Neugestaltung von Lehr-Lernprozessen. Angst und Unsicherheit lösen oftmals den Wunsch nach vermeintlich Bekanntem sowie Altbewährtem aus. Die Ausbildung einer ÄPS ermöglicht den Studierenden eine Entwicklung in ihrer Lehrpersönlichkeit sowie eine Offenheit und Sicherheit emergente Prozesse anzuregen und zu begleiten. Dadurch werden experimentelle, performative und prozessorientierte Gestaltungsräume für Kunstunterricht geschaffen, die in der Kunstdidaktik seit Jahrzehnten so dringlich gefordert werden (u.a. Otto 1999, Kirchner 2006, Inthoff/Peters 2014).
Ko-Kreativität im Vermittlungsprozess
Die Betrachtung von Vermittlungsstrukturen als Aufführung bietet eine notwendige Neubetrachtung von Herangehensweisen an die Gestaltung von Unterricht. In ihrer Aufführungsanalyse verdeutlicht Anna Suchard (publiziert unter Seitz 2021) die Standardisierung von Seminarformaten, die zwar fälschlicherweise eine Sicherheit bezüglich Struktur und Ablauf suggerieren, aber das gemeinsame Arbeiten und den damit verbundenen Konsens außer Acht lassen. Entscheidend ist dabei die Berücksichtigung einer „leiblichen Ko-Präsenz“ (Fischer-Lichte 2017:58), die eine wechselseitige Wahrnehmung der Anwesenden begünstigt (vgl. Seitz 2021:117ff). Das Schaffen von emergenten Struktureinheiten kann ko-kreative Arbeitsprozesse eröffnen, die das Gruppengefühl stärken und Multiperspektivität begünstigen. Indem sich von der Rolle des*der allwissenden Erklärers*Erklärerin verabschiedet wird, gelingt umso mehr eine Offenheit für den weiteren Arbeitsprozess, beispielsweise in der Rolle als Forschende*r, Suchende*r, Mustererkennende*r und/oder Spieler*in (vgl. Lösel 2022:98f). Techniken der angewandten Improvisation können hierbei unterstützend wirken und das Selbstvertrauen stärken in unvorhergesehenen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Das Potenzial der Improvisation hat auch der Psychologe und Jazz Pianist Keith Sawyer erkannt und 2019 in seinem Buch „The Creative Classroom“ für den Bereich Schule ausgeführt. Er beschreibt den Nutzen einer „geführten Improvisation“ (Sawyer 2019:6ff;35ff), der vorrangig auf eine strukturelle und weniger auf eine methodische Gestaltung von Unterricht abzielt. Dies bedeutet für Unterrichtskonzepte, dass eine bewusste Offenheit im Sinne von experimentellen und emergenten Handlungsräumen eingeplant wird und dadurch ein freies Agieren der Lernenden ermöglicht. Lehrpersonen wirken hierbei als Mentor*innen, die die Schüler*innen in ihrem Arbeits- und Lernprozess unterstützen. Hierfür braucht es auch Agilität, um jederzeit vom Unterrichtskonzept zu Gunsten unvorhergesehener Situationen abweichen zu können (vgl. Lösel 2022:99f).
Improvisation als Ausgangsbasis
Für den Nutzen von Improvisation lassen sich drei Schwerpunkte formulieren.
- „Improvisation als Vorbereitung: Das Improvisieren dient zum Warm-up bei Training und Aufführungen, sowie als Methode des Schauspieltrainings.
- Improvisation als Probenmethode: Das Improvisieren wird im Probenprozess mit dem Ziel eingesetzt, das Ergebnis am Ende zu fixieren, das heißt wieder zu einer Inszenierung zu gelangen.
- Improvisation als Aufführungstechnik und Theaterform: Improvisation dient als Mittel zur Hervorbringung einer Theateraufführung“ (Frost/Yarrow 2007:19f; Zit. in: Lösel 2013:23).
Der dritte Schwerpunkt ist für das Verständnis von Unterricht als Aufführung besonders relevant, da Improvisation zum entscheidenden Gestaltungsmerkmal wird und die zentrale Wirkung des Unterrichts in der Improvisation liegt (vgl. Lösel 2013:36f). Hierbei ist die Zusammenarbeit mit Publikum bzw. Schüler*innen, im Sinne der „autopoietischen-feedback-Schleife“ (Fischer-Lichte 2017:61;284) entscheidend. Diese lässt die Aufführung entstehen, ohne deren Ausgang vorhersagbar zu machen (vgl. ebd.:284). Die bewusste Arbeit mit emergenten Momenten sowie experimentellen und ko-kreativen Handlungsräumen wird durch die Fähigkeit zur Improvisation ermöglicht. Sie ist als Grundvoraussetzung für kreative Zusammenarbeit zu verstehen und wird im Folgenden näher erläutert.
Marie-Luise Lange arbeitet in ihren Ausführungen von 2019 das Potenzial der Improvisation als Methode für den Bereich der Kunst heraus und verdeutlicht, dass diese Ausdrucksform mehr ist als vermeintlicher „Klamauk auf der Bühne“ (vgl. Lange 2019:16ff). Die Stärke von Improvisation als besondere Form der Aufmerksamkeit und Interaktion und ihre Anwendung in Bildungsprozessen sowie Businesskontexten gewinnt seit einigen Jahren an Interesse. Der Begriff „Improvisation“ lässt sich auf den lateinischen Begriff „improvisu(m)“ zurückführen. Daraus entstanden ist das italienische Wort „improvviso“, welches als Ausgangsvokabel für das Wort „Improvvisàre“ gilt. Letzteres steht für eine signifikante künstlerische Tätigkeit im italienischen Stegreiftheater. Erst in den 1950er Jahren wandelte sich der Begriff und bezeichnet das Tätigsein als unmittelbaren spontanen Akt (vgl. Meyer 2005:27ff). Jacques Copeau ebnet Anfang 1916 durch seine Idee der Wiederbelebung von Commedia dell’ arte (16. Jhd.) den Weg für das zeitgenössische Improvisationstheater (vgl. Sawyer 2003:19). Copeau bezeichnet seine Vision als „la comédie improvisée“, die vor allem auf Improvisation basiert (vgl. ebd.: 19). Seine Arbeit beeinflusste auch moderne Theatergruppen in England und USA, wofür Keith Johnstone und Viola Spolin als besonders prägende Wegbereitende des Improvisationstheaters stehen (vgl. Lösel 2013:49). Neben den Ansätzen der Chicagoer Schule, sind es Johnstones Auseinandersetzungen, die das moderne Improvisationstheater bis heute prägen. Er setzt sich unter anderem mit der Förderung von Spontanität auseinander, wobei er, wie Spolin, das Potenzial im Kinderspiel sieht (vgl. ebd.:86ff). Spolins Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Spielen, welche noch bis heute im Schauspieltraining Anklang finden. Ihr spielerischer Ansatz verfolgt vor allem die Eigenständigkeit der Teilnehmenden und die damit verbundene Loslösung von der Lehrperson (vgl. Lösel 2013:77). Als weiterer wichtiger Vertreter muss zudem Del Close genannt werden. Für Close stehen vor allem die Idee des Unvorhergesehenen sowie einer kollaborativen Kreativität im Fokus (vgl. ebd.:96ff). Durch eine erhöhte Aufmerksamkeit füreinander und die bedingungslose Akzeptanz verschiedener Ideen und Ansätze kann zwischenzeitig eine „Group Mind“ entstehen (vgl. ebd.:96ff). Diese fördert die Kreativität der Gruppe und lässt Leistungen zu, die von Einzelpersonen nicht hätten erbracht werden können (vgl. ebd.:101). Techniken der angewandten Improvisation schaffen eine Ausgangsbasis, um kollaboratives Handeln im Rahmen von kunstpädagogischer Praxis zu gewährleisten (vgl. Schmidt-Wetzel 2016:8).
Die Fähigkeit zur Improvisation ist ein enormer Mehrwert in der Lehrer*innenbildung und wird als Voraussetzung für den Zugang zu performativer Arbeit verstanden. Für das im Rahmen des Promotionsprojekts durchgeführte empirische Vorgehen, wird sie im Folgenden anhand von sieben Thesen spezifiziert, die auf Basis der Überlegungen und Konzepte u.a. von Gunter Lösel (2013, 2022), Keith Johnstone (1998), Viola Spolin (1963) und Keith Sawyer (2003; 2019) formuliert sind:
Im Prozess der Improvisation verbinden sich Entwurf, Handlung und Spiel. Das fördert eine Bereitschaft, in schnelleren Reaktionen und Interaktionen Risiken einzugehen sowie kooperativ, aufmerksam und fokussiert zu agieren.
- Improvisation als ein spezifischer Modus des Handelns reagiert auf vorgefundene Situationen und bildet in deren Veränderung Fähigkeiten zum Umgang mit dem Unvorhergesehenen, zum agilen Arbeiten in kollaborativen Prozessen und zur Erfindung neuer Formen der Reflexion.
- Improvisation ermöglicht ein Denken und Handeln, das etablierte Vorstellungen und Bewertungen überschreiten kann. Gängige Systeme der Handlungssteuerung und Teile des bewussten Denkens werden im Prozess der Improvisation ausgesetzt. Dadurch eröffnen sich kreative Möglichkeiten zur kritischen Hinterfragung bestehender Strukturen.
- Die Erlaubnis in der Improvisation „zu scheitern“, d.h. Kontrolle abzugeben und dabei Spaß zu haben, reduziert den Druck und schafft Mut und Begeisterung, Neues auszuprobieren.
- Improvisationsfähigkeit, Neugier, Kooperativität und Spielfreude können durch den Abbau erlernter Blockaden und Verhaltensmuster wiedererlangt werden.
- Das Neuerlernen von Improvisation erfordert, sich von Kontrolle zu lösen, Vertrauen zu entwickeln, aufmerksam zuzuhören und das Geschehen zu akzeptieren.
- Improvisation wird als kreative Form des Handelns verstanden, die aktiv und zielgerichtet eingesetzt werden kann, um damit neue Herangehensweisen und Perspektiven in Bildungsprozessen anzuregen.
Ausblick
Das erprobte Seminarsetting unterliegt den gleichen Bedingungen, wie die Gestaltung von Unterrichtskonzepten. Deshalb werden die Abläufe und Impulse im Rahmen der empirischen Untersuchung des Promotionsprojektes stetig zyklisch erweitert, überarbeitet und der jeweiligen Lerngruppe angepasst, um prozessorientiertes und selbstorganisiertes Lernen zu ermöglichen. Das Seminar bietet Anreize und Arbeitsansätze, die eine ästhetisch-performative sowie ko-kreative Zusammenarbeit fordern und fördern und somit die Grundlage für die Ausbildung einer ÄPS bieten. Die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen sollte an den Lehrpersönlichkeiten und den Bedürfnissen der Lerngruppe orientiert sein. Entscheidend ist die Entwicklung einer Offenheit und eines Verantwortungsgefühls, um gemeinsam die Lerninhalte zu gestalten. Ästhetisch-performative Arbeit, emergente Gestaltungsräume und der gezielte Einsatz von Improvisation leisten einen gewinnbringenden Beitrag für die Weiterentwicklung von Vermittlungsprozessen. Das Ausprobieren, Experimentieren und Beforschen ästhetisch-performativer Bildungsansätze bewirkt ein stärkeres Zutrauen auf Seiten der Studierenden in Bezug auf weitere Umsetzungen im zukünftigen Arbeitsalltag. Damit ist ein erster wichtiger Schritt getan, um die wissenschaftlich fundierten Ansätze realistisch im Rahmen der Lehrer*innenbildung zu einer praktischen Umsetzung und vor allem IN die Schule zu bringen. Die Ausbildung einer ÄPS ist damit als grundlegend zu verstehen, um das Potenzial kreativer Fächer voll ausschöpfen zu können und eine verdiente Aufwertung von Kunstunterricht zu ermöglichen.