Pädagogische Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre: Konzept zur kulturellen Personal- und Unterrichtsentwicklung

Artikel-Metadaten

von Bettina-Maria Gördel

Erscheinungsjahr: 2019/2018

Peer Reviewed

Abstract

Der Begriff Ästhetik geht auf das altgriechische Wort aisthesis, Wahrnehmung, zurück. Unter dem Begriff Ästhetik wird somit auch die sinnliche Seite von Wahrnehmung im Sinne von Beobachtung, Erfahrung und Gefühl sowie die bewusste Reflexion dieser Wahrnehmungen bzw. ästhetischen Erfahrungen gefasst. Daraus hat sich eine gesamte Erkenntnistheorie bzw. Wahrnehmungslehre entwickelt, die als Methode in die qualitative Schulforschung Eingang gefunden hat und die sich gerade auch für die Beobachtung von kulturellen Schul- und Unterrichtsprozessen und deren Entwicklung anbietet. Um diese auf der Ästhetik gründenden Erkenntnistheorie und Wahrnehmungslehre geht es in dem Artikel und zwar in ihren theoretischen und empirischen Grundlagen und ihren praktischen Auswirkungen für die kulturelle Personal- und Unterrichtsentwicklung. Die Argumentation mündet in der These, dass die Anwendung des Konzepts der ästhetischen Wahrnehmungslehre einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Schulentwicklung leisten kann.

1   Einleitung

Der Begriff Ästhetik geht auf das altgriechische Wort aisthesis, Wahrnehmung, zurück. Mithin wird unter Ästhetik die sinnliche Seite von Wahrnehmung, insbesondere von ästhetischer Erfahrung gefasst; sie wird daher auch als Erkenntnistheorie bzw. Wahrnehmungslehre verstanden. Der erkenntnistheoretische Begriffsgehalt von Ästhetik umfasst Aspekte wie Beobachtung, Erfahrung und Gefühle sowie die bewusste Reflexion dieser Wahrnehmungen.

Die qualitative Beobachtung als Methode der Erkenntnisgewinnung kann dementsprechend auch unter dem Begriff der Ästhetik gefasst werden, v. a. dann, wenn sie bestimmte Merkmale des Ästhetischen und der ästhetischen Erfahrung erfüllt: überrascht und irritiert zu werden. Eine ästhetische Wahrnehmungslehre als Konzept zur kulturellen Personal- und Unterrichtsentwicklung könnte somit als ein Ansatz der pädagogischen Beobachtung verstanden werden, um das Fremde und Neue im vertrauten Unterrichtsalltag zu entdecken und so pädagogisches Lernen der Lehrerinnen und Lehrer zu ermöglichen und Ansätze der Unterrichtsentwicklung zu erkennen.

Bei der pädagogischen Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre geht es um eine Kultivierung der Sinne, um dem, was im Unterricht geschieht und den einzelnen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Damit entspricht das Konzept den Anforderungen von kultureller Schulentwicklung und einer Kulturschule und ihren leitenden Prinzipien des Ästhetischen und der Subjektorientierung (Fuchs 2017).

Das hier vorgestellte Konzept der pädagogischen Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre orientiert sich an der qualitativen Beobachtungsmethode der Sozialwissenschaften (siehe Kap. 2.1) und dem Beobachterhabitus der Ethnografie (siehe Kap. 2.2). Dabei werden die ästhetischen Momente von pädagogischer Beobachtung und ihre wesentliche Bedeutung für den Erkenntnisgewinn herausgearbeitet. Sie werden anschließend hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung (siehe Kap. 3) und zur Gestaltung von kultureller Personal- und Unterrichtsentwicklung (siehe Kap. 4) vorgestellt.

2   Die ästhetischen Grundlagen von Wahrnehmung und Beobachtung

2.1  Die Beobachtungsmethode und ihre ästhetischen Grundlagen

Die Entwicklungsgeschichte von Beobachtung als wissenschaftlicher Methode zeigt ihre Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen auf (Reh 2012a). Die Vorstellung objektiv-distanzierter Beobachterinnen oder Beobachter, die ihre Sinneswahrnehmungen und Unvoreingenommenheit methodisch kontrollieren können, um sich so den „objektiven Tatsachen“ anzunähern, konnte nicht aufrechterhalten werden. Beobachtung ist trotz aller Übung, Systematik und technologischer Hilfsmittel immer auch perspektivisch, selektiv, konstruierend und fehlerhaft, ja aufgrund ihrer Selektivität geradezu paradox. Denn mit der Beobachtung wird eine Unterscheidung darüber vorgenommen, welche Dinge in den Blick genommen werden und welche nicht. Dadurch „produziert [die Beobachtung] notwendig einen eigenen blinden Fleck, den sie nicht sehen kann“ (ebd.: 7).

Mit Beobachtung geht somit eine Auswahl und Begrenzung des Beobachtungsgegenstands auf Aspekte einher, die den Beobachter bzw. die Beobachterin interessieren. Als eine solche zielgerichtete Wahrnehmung unterscheidet sie sich von der einfachen Wahrnehmung durch die Aspekte Suchhaltung, Absicht, Selektion, planvolles Vorgehen und Auswertung. Dabei ist die auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete „sinnliche Wahrnehmung als Erfahrung“ (ebd.: 9) ein wichtiger erkenntnistheoretischer Bestandteil des Beobachtungsprozesses und des darüber vermittelten Wissenserwerbs und Lernvorgangs:

„[I]m Begriff der Erfahrung wird […] zumeist […] eine spezifische Qualität menschlicher Begegnung mit etwas Anderem bezeichnet, die denjenigen, der etwas erfährt, auf die eigene Erfahrung sich zurückwenden lässt, damit immer auch einen Wandel des ‚Erfahren könnens‘ bedeutet […]. Erfahrung sei, so Meyer-Drawe, nicht einfach ein erleben, Denken oder gar Informiert-werden; von ihr könne nur die Rede sein, wo etwas Neues zum Vorschein komme, beginne dort, wo das Vertrauen brüchig geworden, aber das Neue nicht zur Hand sei. Sie erklärt weiter: ‚Wenn man Lernen nicht auf Erkennen reduzieren will, sondern im strengen Sinne als Erfahrung begreift, dann kommt der sinnlichen Wahrnehmung eine besondere Stellung zu“ (ebd., Hervorh. B.-M. G.; Meyer-Drawe 2008: 193).

Die Begegnung mit dem Neuen und Fremden, welches die Beobachtungsmethode erst produktiv macht, ist, so die Erfahrung der Ethnografie, bei Beobachtungsgegenständen wie der Schule und Unterricht schwer umzusetzen, da sie mit vielfältigen Eigenerfahrungen und institutionellen Erwartungsmustern besetzt sind. Das Beobachtete wird bezeichnet und interpretiert. Eine unvoreingenommene, offene Beobachtung soll daher durch eine bestimmte Beobachterhaltung erzeugt werden (siehe Kap. 2.2). Ferner argumentieren Vertreter und Vertreterinnen einer Theorie ästhetischer Wahrnehmung (Seel 2003) in der Tradition des Ästhetikdiskurses des 18. Jahrhunderts, dass

„[e]rst ein aufmerksames und offenes Wahrnehmen, das sich auf das Wahrgenommene, den Wahrnehmenden selbst und den Akt der Wahrnehmung, auf das ‚Wahrnehmen-dass‘ richtet, und einen Sinn für die Form, das Erscheinen der Phänomene in ihrer Gegenwart richtet, […] [Hervorh. B.-M. G.] vorschnell bestimmende und begrifflich-kategorisierende Zugriffe, das schnelle ‚Verstehen‘ vermeiden [kann].“ (Reh 2012a: 21)

Demnach wird in dieser Theorielinie eine bestimmte Konzeption von Aufmerksamkeit vertreten, die dem Akt der Wahrnehmung zugrunde liegt (Breyer 2011). Aufmerksamkeit wird im Wahrnehmungsakt wechselseitig zwischen Beobachtungsgegenstand einerseits und Beobachterin bzw. Beobachter andererseits erzeugt, nicht aber einseitig von einem dieser beiden Pole. Das heißt, es bestimmen weder die Dinge die Wahrnehmungen der Subjekte, noch determiniert und konstruiert das Subjekt vollständig die wahrgenommenen Dinge. Diese Wechselseitigkeit der Aufmerksamkeitserzeugung während des sinnlichen Wahrnehmungsakts wiederum ermöglicht die Entdeckung von Neuem und Fremdem im als bekannt vorausgesetzten Alltag wie dem von Schule:

„Aufmerksamkeit stellt sich so gesehen als die grundlegende Bedingung und die konkrete Möglichkeit von Bewegung in der Wahrnehmung und im Denken dar. In dem durch sie geschaffenen Feld ist ihre weitere Funktion, Invarianzen im sensorisch-kinästhetischen Vollzug der Wahrnehmung [Hervorh. B.-M. G.] festzuhalten.“ (Ebd.: 186)

2.2  Der ästhetisch-pädagogische Wahrnehmungs- und Beobachterhabitus

Eine in der Ethnografie schon als forschungsethisches Postulat zu bezeichnende Forderung an den Beobachter und die Beobachterin ist es, einerseits Neugierde andererseits einen Zustand der Distanz gegenüber dem Beobachtungssubjekt bzw. -gegenstand einzunehmen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, Neues im Bekannten entdecken zu können und die Voreingenommenheit auf das Alltägliche zu begrenzen. Diese Haltung wird auch als „Befremdung der eigenen Kultur“ (Amann/Hirschauer 1997: 12) bezeichnet. Die Fremdheit wird durch Distanz zu „Gewissheiten des Alltagswissens“ (Breidenstein 2012: 30) hergestellt. Das eigentlich Vertraute wird als das Fremde betrachtet. Ähnlich wie beim ästhetischen Erfahrungsprozess entzieht sich der Beobachter und die Beobachterin den gesellschaftlichen Funktionserwartungen an seine bzw. ihre Beobachtungssubjekte oder -gegenstände, um sich ganz auf die sinnlichen Gestaltqualitäten der beobachteten Szene einzulassen und einen möglichst reinen Zustand der Offenheit, Unwissenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber Individuum und beobachteter Alltagskultur zu erreichen. So kann er oder sie vom Beobachteten „befremdet“ (de Boer 2012c: 304), d. h. überrascht und irritiert, und durch diese „Differenzerfahrung“ (ebd.: 307) im günstigsten Fall mehr mit Fragen als mit Antworten an dieses beobachtete (Alltags-)Geschehen zurückgelassen werden. Ein Lernprozess kann einsetzen (siehe Kap. 2.1).

Eine pädagogische Beobachtung, die sich die dargelegten Prinzipien zugrunde legt, geht von einem pädagogischen Wahrnehmungs- und Beobachterhabitus aus, der zum einen offen, aber distanzwahrend und auf Unvoreingenommenheit bedacht und zum anderen reflexiv, (hinter-)fragend und forschend ist (Fabel-Lamla/Pietsch 2012). Heike de Boer nennt ihn auch den „Habitus der reflexiven Distanz“ (2012c: 304). Eine solche Haltung schließt in die Beobachtung die Selbstbeobachtung der eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten, Annahmen, Perspektiven und Deutungskonzepte auf pädagogische Zusammenhänge sowie auf die eigenen Handlungsroutinen mit ein. Ebenso verlangt es, die Beobachtungen an theoretische Bezugssysteme rückzubinden und damit einem lebenslangen Lernen ebenso wie dem Aufbrechen von eigenen Lehrroutinen gegenüber offen zu sein.

3   Die pädagogische Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre in der Praxis: Der pädagogische Beobachtungszyklus

Häufig entstehen pädagogische Beobachtungen – wie bei der Betrachtung von Kunstwerken oder dem Durchleben eines künstlerischen Prozesses – aus ästhetischen Momenten bzw. eher unvermittelten sinnlichen Wahrnehmungen der Irritation mit der alltäglichen Erfahrung heraus (siehe Kap. 2.1). Typisch irritierende Beobachtungsanlässe in der Schule sind etwa Lernkrisen der Schülerinnen und Schüler, Unterrichtsstörungen oder der Wunsch nach Veränderung des eigenen Unterrichts sowie allgemein das Fremde, Differente. Um einen pädagogischen Lernprozess in Gang zu setzen, bietet es sich an, unterschiedliche Unterrichts- und Lernsituationen in einem Wechsel zwischen Offenheit und Aufmerksamkeitsfokussierung wahrzunehmen. Häufig können erst dann sinnvolle Beobachtungsfokusse und Fragestellungen an sie festgelegt werden. Beobachtung erweist sich dann wie jeder forschende Prozess als zirkulärer Prozess (Abb. 1). Dabei können Strategien der Distanznahme aus der Ethnografie angewendet werden, um einen Zustand der Befremdung und einen ästhetischen Wahrnehmungshabitus gegenüber dem Unterrichtsalltag zu erreichen (siehe unten) (Breidenstein 2012). Melanie Fabel-Lamla und Susanne Pietsch (2012) beschreiben diesen zirkulären Prozess sehr anschaulich an einem Fallbeispiel über eine Lehrerin, die sich den Ursachen eines verhaltensauffälligen Schülers anzunähern versucht, um pädagogische Handlungsstrategien entwickeln zu können.

Goerdel Abb1
Abb. 1: Der pädagogische Beobachtungszyklus

Die systematische Rekonstruktion und Auswertung der beobachteten Handlungen und Interaktionen erfordert die Erstellung eines rein deskriptiv verfassten Beobachtungsprotokolls während oder kurz nach der Beobachtung (Reh 2012b; de Boer 2012a). Dies enthält in der Reinschrift nur Fließtext und keine Stichpunkte mehr, da sonst wichtige Handlungszusammenhänge verloren gehen würden. Aus dem gleichen Grund sind auch Verhalten, Handlungen, Personenkonstellationen, verbale Äußerungen, Mimik und Gestik etc. detailliert und in chronologischer Abfolge zu beschreiben und nicht etwa in globalen Beschreibungen wie „Er nickt, wenn er es richtig macht“, „Sie üben das Gelernte während der nächsten fünf Minuten“ oder „Die Lehrerin sorgt für Ruhe“ zusammenzufassen. Es geht darum das „Wie“ der Handlungen detailgenau zu beschreiben und nicht diese schon zu klassifizieren oder zu bewerten: Was macht er richtig und was falsch? Nickt er tatsächlich immer, wenn er etwas richtig macht? (Heinzel 2012) Wie und womit üben sie das Gelernte? (Rabenstein/Wienike 2012) Was macht die Lehrerin, um Ruhe herzustellen? (Bennewitz 2012)

Beim Beobachtungsvorgang und -protokoll geht es somit darum, noch keine Deutungen und Wertungen vorzunehmen. Strategien der Distanznahme können dabei helfen, sich auf reine Beschreibungen zu kontrollieren. Hierzu gehören die Selbstreflexion des eigenen Beobachterstandpunktes und Beobachtungsprozesses und des daraus entstandenen Beobachtungsprotokolls. Die Überprüfung des Protokolls richtet sich auf Formulierungsfragen: Wie beschreibe ich? Kann ich die Situation auch mit anderen Worten beschreiben? Mit welcher Beschreibung wird weniger bewertet? Falls die Auslassung wertender Begriffe schwerfällt, sollte im Konjunktiv und möglichst vorsichtig formuliert werden, z. B. mir scheint, möglicherweise, wirkt auf mich. Solche Formulierungen eröffnen Deutungsspielräume und können Fehlinterpretationen vermeiden helfen. Subjektive Wahrnehmungen, eigene Gefühle, Interpretationen und Bewertungen sollten zudem möglichst im Austausch mit anderen Personen hinterfragt werden (de Boer 2012b).

Die Rekonstruktion und Auswertung der beobachteten Handlungen und Interaktionen erfolgt über die Analyse des Beobachtungsprotokolls. Auch hier gibt es Strategien, die zur reflexiven Distanzierung und dem Zustand der Befremdung beitragen können. Hierzu gehört, dass das Beobachtungsprotokoll sequenzanalytisch, d. h. Satz für Satz auf die Frage nach dem „Wie?“ hin durchgegangen wird. Dies bedeutet, Verhalten, Handlungsmuster und -routinen, Interaktionen (Reaktionen und Gegenreaktionen), Regeln, Strukturen, Störungsanlässe, Machtverhältnisse etc. zu analysieren. Es geht mithin darum, die immanente Logik eines Geschehens zu erschließen. Die detailgenaue Sequenzanalyse verlangsamt das vormals Beobachtete auf Zeitlupentempo. Durch dieses Mittel der Verlangsamung ergeben sich häufig unweigerlich Distanz und Irritationen. Unverstandenes und Fremdes im Schul- und Unterrichtsalltag wird sichtbar.

An die Analyse des „Wie?“ schließt sich die Frage nach dem „Warum?“ an, d. h. danach, inwiefern die beobachteten Praktiken konkrete Antworten auf alltägliche Probleme sind. Auch hier bietet es sich an, sequenzanalytisch vorzugehen. Handlungen können auf Wertungen, Einstellungen, Motive und Interessen einer beobachteten Person und von Personengruppen hinweisen und damit auf die Gründe von Verhalten. Hierüber können wiederum (auf theoretisches Hintergrundwissen gestützte) Hypothesen gebildet werden, die in weitere differenziertere Beobachtungsfragen münden, bevor überhaupt die letzten beiden Schritte des Beobachtungszyklus, die der Deutung und der Ableitung von Handlungsschlussfolgerungen, durchgeführt werden. Die Beobachtungsmethode als forschender Zyklus formiert sich. Dabei sind auch immer die individuellen, kulturellen und institutionellen (Institution Schule) Rahmungen der beteiligten Personen sowie der Situation (Unterricht, Pausenhof etc.) zu beachten. Vorschnelle Erklärungen und gängige Erklärungstheoreme (z. B. veränderte Kindheit) sollten auch hier vermieden werden, um Fehlinterpretationen vorzubeugen.

Das kritische Hinterfragen von Wertungen, gängiger Rahmungen und Erklärungstheoremen erweist sich als weitere wichtige Strategie der Distanznahme. Gerade mit dieser Strategie können neue Ansatzpunkte für das Verstehen von Problemen und das Finden von didaktischen Lösungsmöglichkeiten gefunden werden (Lehmann-Rommel 2012). Fragen, die gestellt werden können, sind z. B.:

  • Welche Interessen und Wertungen unterliegen den Rahmungen? Nützen sie den Schülerinnen und Schülern und ihrem Lernprozess?
  • Inwiefern führen diese Rahmungen zu Konflikten im konkreten Fall? Inwiefern führt die Nicht-Beachtung von Rahmungen zu Konflikten? Prallen unterschiedliche Rahmungen aufeinander?
  • Deute ich die Rahmungen richtig? Welche Deutungsmöglichkeiten gibt es alle? Welche Rahmungen liegen mir selbst zugrunde, sodass ich vielleicht eine bestimmte Deutungsmöglichkeit vorziehe?
  • Wie sehe ich die Situation, wenn ich meine eigenen sowie die kulturellen und institutionellen Rahmungen auszublenden versuche?

Schließlich sollte das Beobachtungsprotokoll auch noch auf Beobachtungs- bzw. Interpretationsfehler hin analysiert werden, wie z. B. Erst-Eindruck, Voreinstellungen/Vorurteile, Global-Eindruck, Milde-/Härte-Effekt, Fehlattribution, logischer Fehler etc. (Reh 2012b).

Während der letzten beiden Schritte des pädagogischen Beobachtungszyklus ist es dann schließlich explizit erlaubt, die der Prüfung unterzogenen und ihr standgehaltenen Theorien heranzuziehen, um das analysierte Beobachtungsgeschehen vor seinem jeweiligen Deutungshorizont zu verstehen, zu interpretieren und zu bewerten. Bei der Erarbeitung von didaktischen Handlungsoptionen können Theorien und Modelle hinzugezogen werden, die denjenigen entsprechen, nach denen der beobachtete Fall interpretiert und bewertet wurde (Fabel-Lamla/Pietsch 2012). Kann der Fall nicht zufriedenstellend gedeutet werden, sondern ergeben sich vielmehr weitere (Beobachtungs-)Fragen, die zunächst geklärt werden müssen, um eine Bewertung des Falls vornehmen zu können, so schließt sich ein erneuter Beobachtungszyklus oder aber eine andere Form der Problemdiagnose an, mit der die Fragen geklärt werden können (Hesse/Latzko 2011).

4   Kulturelle Personal- und Unterrichtsentwicklung auf Grundlage der pädagogischen Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre

„Die Kulturschule als ästhetischer Erfahrungsraum ist bewusst so gestaltet, dass die Bedingungen erfüllt sind, die für ästhetische Erfahrungen notwendig sind. Dies bedeutet die Möglichkeit zur Konzentration, dies bedeutet das Vorhandensein von Raum und Zeit, dies bedeutet auch, dass man sich an die griechische Ursprungsbedeutung des Wortes Schule wieder erinnert: Muße.“ (Fuchs 2017: 35)

Dieses Zitat beschreibt nicht lediglich die Bedingungen, unter denen Schülerinnen und Schüler in einer Kulturschule als ästhetischer Erfahrungsraum lernen, sondern auch die Bedingungen unter denen Lehrerinnen und Lehrer dort ihre Profession ausüben und weiterentwickeln: Sie sind wesentliche Bedingungen, um ein Professionalisierungskonzept umzusetzen, dass einer pädagogischen Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre folgt. Wie die Bedingungen eines „ästhetischen Erfahrungsraums“ in Bezug auf den Beobachtungszyklus hergestellt werden können, wurde in den vorhergehenden Abschnitten vorgestellt.

Um einen solchen Beobachtungszyklus umsetzen zu können, sind häufig erst Maßnahmen der Personalentwicklung notwendig (de Boer 2012c). Eine Personal- und dadurch angestoßene Unterrichtsentwicklung, die dem Ansatz einer pädagogischen Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre folgt, setzt auf die Wiederauffrischung und Erweiterung des Theoriewissens und der Praktiken, die in der ersten und zweiten Phase der Lehramtsausbildung gelernt und eingeübt wurden. Beobachtung im ethnografischen Verständnis ist ein höchst voraussetzungsvoller Prozess, der kontinuierlich geübt und praktiziert werden muss. Zwar ist die Beobachtung Teil der Lehramtsausbildung, dennoch wird sie zumeist nicht in der Offenheit gelernt, wie oben beschrieben. Es dominieren Beobachtungsansätze, die dem quantitativen Beobachtungsparadigma auf Grundlage von standardisierten Beobachtungsbögen folgen (Helmke et al. 2011). Standardisierungen aber sperren sich gegenüber ästhetischen Erfahrungs- und Lernprozessen bei Lehrerinnen und Lehrern und gegen eine Öffnung, Bewusstwerdung und Schärfung der Sinne. Ebenso kann mit ihr eine Beobachterhaltung der Distanz und Befremdung kaum eingenommen werden.

Vielmehr eignen sich Personalentwicklungsmodelle, die sich an einer pädagogischen Kasuistik, dem forschenden Lernen in der Lehrerbildung und dem Konzept des reflexiven Praktikers bzw. der reflexiven Praktikerin orientieren (König/Herzmann 2016). Diese Professionalisierungsmodelle setzen vielfach bei der qualitativen Beobachtung an und verbinden die beobachteten Fälle mit relevanten Bezugstheorien. Eine schulinterne Personalentwicklung, die diesen Konzepten folgen möchte, kann praxisorientierte Werke der Lehrerbildung mit Videosequenzen, Beobachtungs- und Analyseanregungen sowie Abhandlungen zu Bezugstheorien heranziehen (Kiel 2012; Mühlhausen 2011, 2014; Mühlhausen/Mühlhausen 2016; Mühlhausen/Wegner 2014). Hierzu gehören auch die praxisnahen Artikel zu allgemein- und fachdidaktischen Themen aus dem Sammelband von Heike de Boer und Sabine Reh (2012).

Durch die Reflexion der eigenen Praxis von unterschiedlichen theoretischen Standpunkten aus, wird das Theorie-Praxis-Verhältnis des eigenen pädagogischen Handelns reflektiert. Ein solcher Ansatz der Personalentwicklung folgt dem didaktischen Prinzip des kumulativen Lernens, das sich über die drei Phasen der Lehrerbildung hinweg zieht. Er gleicht dementsprechend auch dem Novize-Experten-Modell (Berliner 2001, 2004), das den Weg vom Novizen bzw. einer Novizin zum Experten bzw. zur Expertin im Lehrerberuf über fünf Stufen hinweg beschreibt. Dieser Weg ist dabei wesentlich durch die Ausbildung einer Theorie-Praxis-Reflexions-Kompetenz im Sinne des reflexiven Praktikers bzw. reflexiven Praktikerin charakterisiert.

Pädagogische Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre bedarf auch des kollegialen Austauschs, um Beobachtungsfehler, Perspektivität, blinde Flecken etc. abzumildern. Im Rahmen einer systematisch angelegten Personal- und Unterrichtsentwicklung, die den Ansprüchen eines „ästhetischen Erfahrungsraums“ folgt, kann der Beobachtungszyklus mit verschiedenen schon existierenden dialogischen und auf Mehrperspektivität setzenden Konzepten der Personal- und Unterrichtsentwicklung verbunden werden. Häufig ist Beobachtung sogar deren notwendige Grundlage, ohne die Unterrichtsentwicklung nicht betrieben werden kann. Dies sind Konzepte wie die kollegiale Unterrichtshospitation und Fallberatung, das Peer Learning, die Szene-Stopp-Reaktion-Methode, das Micro-Teaching, die Supervision oder das Coaching (Helmke 2015). Allen gemein ist die Arbeit am konkreten Fall und dessen Reflexion auf Handlungsmöglichkeiten hin.

Schließlich bedarf es aber auch einer Organisationsentwicklung, die den „ästhetischen Erfahrungsraum“ ermöglicht und den Ansatz einer pädagogischen Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre flankiert. Gibt es keine Zeiten und Räume, in denen die Lehrerinnen und Lehrer Beobachtungen im Rahmen der o. g. Konzepte der Personal- und Unterrichtsentwicklung durchführen können, und wird ihnen nicht die Muße und pädagogische Freiheit zugestanden, die Haltung ästhetisch-forschender, reflexiver Praktikerinnen oder Praktiker einzunehmen, Fragen zu stellen, zu beobachten, diese Beobachtungen niederzuschreiben und im Team auszuwerten, zu reflektieren, zu deuten, zu bewerten und Unterricht und Schule zu gestalten, so können diese Konzepte nicht greifen.

Es zeigt sich, dass eine auf einer ästhetischen Wahrnehmungslehre basierende Personal- und Unterrichtsentwicklung vielen der Handlungsprinzipien der kulturellen Schulentwicklung (Fuchs/Braun/Kelb 2011: 249) folgt. Sie setzt auf

  • Subjektorientierung, indem sie die beobachteten Schülerinnen und Schüler, ihre Lernprozesse und Handlungen in ihrer Individualität und Komplexität ebenso wie die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Gestaltungsfähigkeit ernst nimmt.
  • Lernen auf Grundlage ästhetischer Erfahrungen, ohne vorherige Festlegungen, Vorgaben und gesellschaftliche Funktionserwartungen.
  • Bildung als Prozess der Kultivierung der Sinne: Das scheinbar Vertraute wird befremdet und reflektiert, um Lernen und Veränderung, insbesondere individuelle Förderung und Unterrichtsentwicklung, zu ermöglichen.
  • das Wechselspiel der unterschiedlichen Wesensmerkmale der Person (sinnliche Wahrnehmung, Emotion, Kognition etc.).
  • dialogische und partizipative Erfahrungs-, Lern- und Veränderungsprozesse.
  • die Verschränkung von individuellen und institutionellen Lernprozessen.
  • die schulinterne Selbstreflexion der eigenen Schulkultur und damit auf die Selbstkultivierung der Institution Schule.

 

Verwendete Literatur

  • Amann, Klaus/Hirschauer, Stefan (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Bennewitz, Hedda (2012): Der Blick auf Lehrer/-innen. In Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 203–214.
  • Berliner, David C. (2001): Learning About and Learning from Expert Teachers. In: Educational Research, 35, S. 463–482.
  • Berliner, David C. (2004): Describing the Behavior and Documenting the Accomplishments of Expert Teachers. In: Bulletin of Science, Technology & Society, 24, S. 200–212.
  • Boer, Heike de (2012a): Pädagogische Beobachtung. Pädagogische Beobachtungen machen – Lerngeschichten entwickeln. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 65–85.
  • Boer, Heike de (2012b): Der Blick auf sich selbst. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 215–228.
  • Boer, Heike de (2012c): Beobachtung und Professionalisierung. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 301–311.
  • Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.) (2012): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer.
  • Breidenstein, Georg (2012): Ethnografisches Beobachten. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 27–44.
  • Breyer, Thiemo (2011): Attentionalität und Intentionalität. Grundzüge einer phänomenologisch-kognitionswissenschaftlichen Theorie der Aufmerksamkeit. München: Wilhelm Fink.
  • Fabel-Lamla, Melanie/Pietsch, Susanne (2012): Vom Beobachten zum Handeln im Lehrberuf. Herausforderungen und Prozessstrukturen bei der Bearbeitung pädagogischer Problemsituationen. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 281–300.
  • Fuchs, Max (2017): Kulturelle Schulentwicklung. Eine Einführung. Weinheim: Beltz.
  • Fuchs, Max/Braun, Tom/Kelb, Viola (2011): Auf dem Weg zur Kulturschule. Bausteine zu Theorie und Praxis der Kulturellen Schulentwicklung. München: kopaed.
  • Heinzel, Friederike (2012): Der Blick auf Kinder. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 173–188.
  • Helmke, Andreas (2015):Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. 6., überarb. Aufl. Seelze: Klett-Kallmeyer.
  • Helmke, Andreas/Helmke, Tuyet/Lenske, Gerlinde/Pham, Giang/Praetorius, Anna-Katharina/Schrader, Friedrich-Wilhelm/Ade-Thurow, Manuel (2011): Unterrichtsdiagnostik – Voraussetzung für die Verbesserung der Unterrichtsqualität. In: Bartz, Adolf/Dammann, Maja/Huber, Stephan G./Klieme, Torsten/Kloft, Carmen/Schreiner, Manfred (Hrsg.): PraxisWissen Schulleitung AL 28. Köln: Carl Link.
  • Hesse, Ingrid/Latzko, Brigitte (2015): Diagnostik für Lehrkräfte. 2., überarb. Aufl. Opladen/Farmington Hills: utb.
  • Kiel, Ewald (Hrsg.) (2012): Unterricht sehen, analysieren, gestalten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • König, Johannes/Herzmann, Petra. (2016): Lehrberuf und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Lehmann-Rommel, Roswitha (2012): Bewerten als Zugang zum Beobachten. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 131–150.
  • Meyer-Drawe, Käte (2008): Diskurse des Lernens. München: Fink.
  • Mühlhausen, Ulf (2014): Über Unterrichtsqualität ins Gespräch kommen. Szenarien für eine Virtuelle Hospitation mit multimedialen Unterrichtsdokumenten und Eigenvideos. Baltmannsweiler: Schneider.
  • Mühlhausen, Ulf (Hrsg.) (2011): Unterrichten lernen mit Gespür. Szenarien für eine multimedial gestützte Analyse und Reflexion von Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider.
  • Rabenstein, Kerstin/Wienike, Johanna (2012): Der Blick auf die Dinge des Lernens. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 189–202.
  • Reh, Sabine (2012a): Beobachten und aufmerksames wahrnehmen. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 3–26.
  • Reh, Sabine (2012b): Beobachtungen aufschreiben. In: Boer, Heike de/Reh, Sabine (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer, S. 115–131.
  • Seel, Martin (2003): Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.        

Praxismaterialien: Videofallarchive

  • Universität Hildesheim www.uni-hildesheim.de/forschung/forschungszentren/fachdidaktik/forschung-projekte/hilde0
  • Universität Kassel www.fallarchiv.uni-kassel.de
  • Universität Mainz www.glk.uni-mainz.de/Dateien/P_15_Rohr_Kopf.pdf
  • Universität Münster www.uni-münster.de/Koviu
  • Universität Zürich www.unterrichtsvideos.ch

Anmerkungen

Dieser Beitrag ist erstmalig erschienen in der Veröffentlichung von Max Fuchs/Tom Braun (Hrsg.)(2018): Kulturelle Unterrichtsentwicklung (320 -332). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

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Bettina-Maria Gördel (2019/2018): Pädagogische Beobachtung als ästhetische Wahrnehmungslehre: Konzept zur kulturellen Personal- und Unterrichtsentwicklung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/paedagogische-beobachtung-aesthetische-wahrnehmungslehre-konzept-zur-kulturellen-personal (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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