Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen. Der Forschungsstand zur kulturellen Teilhabe in Deutschland
Die Gesellschaft in Deutschland leistet sich für mehrere Milliarden Euro pro Jahr eine öffentlich geförderte Kulturlandschaft. Seit vielen Jahren scheint es aber so, dass vor allem bei der an Einrichtungen gebundenen Kultur ein gewisser Optimierungsbedarf existiert: Die großen Museen, Theater und Konzerthäuser haben an gesellschaftlicher Relevanz verloren, die Besucherzahlen sind nicht immer befriedigend, in Zeiten knapper öffentlicher Kassen schwebt die Angst vor Mittelkürzung über den freiwilligen Leistungen und es werden Legitimationsgründe für eine weitere Förderung gesucht. Daher wird in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, weshalb im Gegensatz zum kulturpolitischen Anspruch von Kultur für alle (Hoffmann 1981) nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung regelmäßig öffentlich geförderte Kulturveranstaltungen besucht und welche Maßnahmen Kulturpolitik und Kulturmanagement entwickeln können, um diese Form kultureller Teilhabe zu fördern. Diesen Überlegungen liegt ein recht enger Kulturbegriff zu Grunde: Es geht um die öffentlich geförderten Kultureinrichtungen. Denn Theater, Konzerthäuser, Museen und Bibliotheken erhalten den Großteil der öffentlichen Fördergelder, wodurch „das verfügbare Budget durch die institutionelle Förderung weitgehend ausgeschöpft wird“ (Mandel 2009:26).
Nicht-BesucherInnenforschung scheint innerhalb des Kulturbetriebs beliebt zu sein: 2012 bezeichnet der Theaterexperte Thomas Schmidt die Nicht-BesucherInnen als „die momentan beliebteste Zielgruppe der Besucherforschung“ (Schmidt 2012:57). Diese Beliebtheit zeichnet sich allerdings weniger durch tatsächlich existierende Forschungsaktivitäten aus. Vielmehr reiht sich die Aussage in eine Folge von Wünschen nach mehr Forschung ein. Seitdem das Publikum von Kultureinrichtungen einigermaßen systematisch untersucht wird (vgl. Glogner und Föhl 2010) stellen ForscherInnen regelmäßig ein Defizit fest, was an der Entwicklung der Museumsforschung skizziert werden kann. Bereits Anfang der 1980er Jahre schreibt der Sozialwissenschaftler Hans-Joachim Klein nach einer ersten großen Untersuchung des Museumspublikums in Deutschland:
„Wir wollen abschließend zu den Nichtbesucher-Studien feststellen, daß wir sie für dringend erforderlich und bislang vernachlässigt halten.“ (Klein, H.-J. et al. 1981:86)
Mitte der 1990er Jahre merkt sein Kollege Volker Kirchberg dann an, dass Kleins Feststellung „auch nach 15 Jahren noch nichts von ihrer Aktualität verloren hat“ (Kirchberg 1996:152). In dieser Zeit weisen auch VertreterInnen des Museumsmanagements wie z.B. der damalige Leiter des Hauses der Geschichte Hermann Schäfer auf „allergrößte Defizite“ bei der „Erforschung der Nicht-Besuchergruppen“ hin (Haus der Geschichte 1996:281). Und auch noch 2010 schickt Nora Wegner ihrer Zusammenfassung der bestehenden Erkenntnisse von Museumsbesucherstudien voraus, „dass wenige Studien bekannt sind“, die sich mit „möglichen Barrieren“ (Wegner 2010:131) und somit mit der Perspektive auf die Nicht-BesucherInnen von Museen beschäftigen.
Ökonomische und politische Gründe für das Interesse an Nicht-BesucherInnen
Gründe für die Erforschung der Nicht-BesucherInnen gibt es aber viele: Neben übergeordneten anthropologischen, pädagogischen und sozialen Wirkungsintentionen kultureller Praxis führen seit den 1980er Jahren mehrere ökonomische Entwicklungen zu einer (sach-)zwangsläufigen Auseinandersetzung von öffentlich geförderten Kulturveranstaltern mit ihrem potenziellen Publikum auf betrieblicher Ebene (vgl. Glogner und Föhl 2010). Zum einen nahm die Zahl der öffentlich geförderten Einrichtungen bis heute stark zu, ohne dass die damit verbundenen notwendigen öffentlichen Mittel adäquat gestiegen sind. Verstärkt wird diese Entwicklung gegenwärtig durch die Installation einer ‚Schuldenbremse‘, wonach öffentliche Haushalte keine Schulden mehr aufnehmen können und eine einfache Konsequenz im Abbau von freiwilligen Leistungen liegen könnte (vgl. Schwandner 2014). Die dadurch entstandene Konkurrenz zwischen öffentlich geförderten Kulturveranstaltern wurde zum anderen durch das Aufkommen privatwirtschaftlicher Konkurrenz auf dem Freizeitmarkt verschärft (vgl. Glogner und Föhl 2010). Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft (vgl. Schulze 1993) und das Wegbrechen bestimmter bisher besuchsaktiver Milieus führte dann in den 1990er Jahren zu spürbaren Besucherproblemen in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen.
Unabhängig übergeordneter Zielsetzungen ergibt sich dadurch auf betrieblicher Ebene das Problem, dass bei stagnierenden Fördermitteln und in der Kulturproduktion nur bedingt möglichen Rationalisierungsmaßnahmen (vgl. Baumol und Bowen 1966) letztlich nur über eine ökonomisch sinnvolle Vollauslastung der Platz- bzw. Besucherressourcen – wohlgemerkt bei zahlenden BesucherInnen – dagegen gesteuert werden kann. Diese ökonomische Begründung für eine manageriale Auseinandersetzung mit Nicht-BesucherInnen stößt allerdings an eine inhaltliche Grenze, da es allein quantitativ darum geht das Haus voll zu kriegen nicht aber, in einem qualitativen Sinne, wer kommt oder wer nicht. Diese ökonomischen Entwicklungen setzen zwar die Existenz eines Publikums voraus, rechtfertigen jedoch noch keine kulturpolitische Beschäftigung mit Nicht-BesucherInnen.
Die entscheidende politische Rechtfertigung einer Auseinandersetzung mit Nicht-BesucherInnen resultiert daher aus übergeordneten, also den ordnungs- und förderpolitischen Maßnahmen vorausgehenden Prämissen: Das Selbstverständnis als demokratisches Gemeinwesen führt zu einem Anspruch eben diese Demokratie in allen gesellschaftlichen Subsystemen zu praktizieren – so wie es Akteure der Neuen Kulturpolitik bereits in den 1970er Jahren forderten (Hoffmann 1981:46). Denn „mit der Idee einer demokratischen Rechtssetzung ist […] der Moderne ein Restideal geblieben, dass auf eine breite Zustimmung verweisen kann“ (Beer 2004:42). Das moderne Demokratieverständnis funktioniert nur, wenn alle Individuen an politischen Prozessen teilnehmen können. Sind wesentliche Teile von politischen Entscheidungsprozessen systembedingt ausgeschlossen, so wäre das wichtigste Kriterium von Demokratie nicht erfüllt und es würden andere Systeme, wie z.B. Oligarchien oder Diktaturen, entstehen. Ein demokratisches Gemeinwesen hat also ein Interesse daran, die Strukturen so zu gestalten, dass alle TeilnehmerInnen an systemkonstituierenden Prozessen teilhaben können. In Verbindung mit den auch in Deutschland ratifizierten Menschenrechten und der damit gegebenen Garantie, dass jeder Mensch „sich an den Künsten erfreuen“ kann (Vereinte Nationen 1948:Art. 27), geht also jedem staatlichen kulturpolitischen Handeln die Notwendigkeit voraus, das daraus resultierende Angebot möglichst allen Menschen zugänglich zu machen. Nicht-BesucherInnenforschung wird unter diesen Gesichtspunkten zur sozialen Ungleichheitsforschung:
„Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den „wertvollen Gütern“ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.“ (Hradil 2001:30)
Es geht dann darum, das Nicht-Besuchen von Theatern oder Museen nicht ausschließlich als freie Entscheidung der Individuen zu verstehen, sondern eine ungleiche Verteilung der Teilhabe immer als abbauwürdigen sozialen Missstand, als Exklusion bestimmter Gruppen der Gesellschaft von demokratischen Prozessen zu begreifen. Daraus folgt der wesentliche Auftrag an die Akteure im Kulturbetrieb, ein sozial diverses Publikum und Kultur für alle anzustreben.
Eine Sekundäranalyse der bestehenden Erkenntnisse zu Nicht-BesucherInnen
Was ist nun der Forschungsstand zum Phänomen der Nicht-BesucherInnen? Welche Barrieren verhindern Besuche? Was schafft hingegen Motivation? Die Sekundäranalyse von knapp 100 quantitativen deutschsprachigen (Nicht-)Besucherstudien der letzten 25 Jahre macht deutlich, dass der deutsche Kulturbetrieb noch weit von der Vision einer Kultur für alle entfernt ist. Die Bevölkerung kann in Bezug auf Besuche öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen (wie beispielsweise Theater, Museen oder Konzerthäuser) grob in drei Gruppen unterteilt werden (vgl. Renz 2016):
- Das Potenzial derjenigen, welche regelmäßig Kulturveranstaltungen besuchen, liegt zwischen 5 und 15% der Bevölkerung.
- Der Anteil der GelegenheitsbesucherInnen, welche seltener als einmal pro Monat, aber mindestens einmal pro Jahr Einrichtungen besuchen, liegt zwischen 35 und 45% der deutschen Bevölkerung.
- Etwa 50% der Bevölkerung besucht überhaupt keine Kulturveranstaltungen.
Die meisten quantitativen Nicht-BesucherInnenstudien untersuchen Barrieren, welche potenzielle Besuche verhindern. Als einer der ersten verwendete Hans-Joachim Klein den Begriff im Kontext der Publikumsforschung und definierte Barrieren als „Mechanismen, die einen selektiven Besuchsausfall bewirken“ (Klein/Bachmayer/Schatz 1981:194). Dadurch entsteht ein prozessartiges Modell: Irgendeine Intervention unterbricht einen bestehenden Motivationsprozess. Obgleich in der deutschsprachigen Publikumsforschung nur sehr wenig explizite Nicht-BesucherInnenstudien existieren (Kirchberg 1996; Klein 1997; Deutscher Bühnenverein 2003; Mandel/Renz 2010; Renz 2016) werden besuchsverhindernde Barrieren auch im Rahmen repräsentativer Bevölkerungsstudien untersucht (z.B. Frank et al 1991; Keuchel 2003; Mandel 2013).
Nicht-BesucherInnenforschung als Barrierenforschung
Barrieren, welche von den Kultureinrichtungen selbst ausgehen, sind forschungstechnisch am einfachsten identifizierbar. Das Vorhandensein einer Kultureinrichtung in einigermaßen erreichbarer Nähe ist grundsätzliche Voraussetzung für Kulturbesuche. Dementsprechend stellt eine mangelnde kulturelle Infrastruktur eine wichtige Barriere dar (Eisenbeis 1980:20; Mandel 2006:203; Europäische Kommission 2007:17). Neben verkehrstechnischen Fragen, z.B. der Problematik nach dem Besuch einer kulturellen Veranstaltung wieder nach Hause zu kommen (Gerdes 2000:13), ist in diesem Kontext vor allem die in Deutschland existierende Diskrepanz in der kulturellen Infrastruktur zwischen ländlichen und urbanen Räumen relevant. Die Landbevölkerung besucht entsprechend seltener Kulturveranstaltungen (Opaschowski 2005:212), allerdings ist die bloße Existenz einer Kultureinrichtung noch lange keine Garantie für Besuchsaktivitäten der ansässigen Bevölkerung.
Von allen Studien wird der Eintrittspreis als relevante, oft auch als primäre Barriere benannt (z.B. Kirchberg 2005:292; Eckhardt 2006:281). Von Seiten der Einrichtungen wären kostenlose Angebote oder zumindest Preisvergünstigungen denkbar. Immerhin wünschen sich über 80% der EuropäerInnen kostenlose Kulturangebote (Europäische Kommission 2007:57). Auf internationaler Ebene existieren bereits Studien, welche das Besuchsverhalten bisher kulturferner Zielgruppen vor, während und nach preispolitischen Maßnahmen untersucht haben. Eine schwedische Studie kommt für Museen zum Schluss, dass durch entsprechende Preisreduktion bisher museumsferne Zielgruppen erreicht werden konnten (Nickel 2008:104). Allerdings wird dabei auch immer wieder deutlich, dass der Anstieg der Besucherzahlen vor allem auf eine intensivierte Besuchsaktivität derjenigen zurückzuführen ist, welche als Gelegenheits- oder KernbesucherInnen ohnehin schon zum Publikum gehören.
Ebenfalls interessant ist die vor allem bei Nicht-BesucherInnen verbreitete Unkenntnis der Eintrittspreise öffentlich geförderter Kultureinrichtungen. Bereits Rainer Dollase hat in den 1980er Jahren empirisch bewiesen, wie stark der Subventionsbetrag für klassische Konzerte von der Bevölkerung unterschätzt wird (Dollase 1986:56), was sich bis heute nicht geändert zu haben scheint (Kirchberg 1998:146; Keuchel 2006:81). Deshalb führt eine bloße Preisreduzierung nicht automatisch zur Aktivierung dadurch anvisierter Zielgruppen mit niedrigem Einkommen. Susanne Keuchel kommt daher zum Schluss, dass „attraktive Preisvergünstigungen […] vor allem von den schon erreichten Zielgruppen sehr positiv aufgenommen" werden (Keuchel 2003:227). Sollen Preisbarrieren abgebaut werden um bisherige Nie-BesucherInnen zu aktivieren, so sollte dies mit einer offensiven Kommunikationspolitik verbunden werden.
Dementsprechend kann auch bereits eine unpassende Kommunikation der kulturellen Angebote eine besuchsverhindernde Barriere darstellen. Eine der wenigen verbandspolitisch intendierten Nicht-BesucherInnenstudien vom Deutschen Bühnenverein zeigt zum Beispiel, dass gerade einmal 16% der dort befragten Jugendlichen dem Satz zustimmen, „das Theater bemüht sich aktiv, mich über das Programm zu informieren“ (Deutscher Bühnenverein 2003:4). Damit die Kommunikationspolitik von Theatern oder Museen Einfluss auf die Entscheidungsfindung dieser Zielgruppen nehmen kann, müsste das Informationsverhalten von Nie-BesucherInnen berücksichtigt werden. Bei Nie-BesucherInnen überwiegt tendenziell „ein situativ, spontanes Informationsverhalten“ (Frank et al 1991:217) und die Mund-zu-Mund-Propaganda hat einen noch höheren Stellenwert als bei der Gesamtbevölkerung (Klein 1990: 26). Nicht-BesucherInnen mit niedriger Schulbildung können durch die klassische Medienarbeit, z.B. im Kulturteil von Tageszeitungen, nicht erreicht werden (Keuchel 2003:101).
Das Kunstwerk bzw. das künstlerische Angebot selbst war bislang selten im Sinne einer Barriere Gegenstand der empirischen Publikumsforschung. Zum einen ist das auf die grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit und die daraus resultierende Konsequenz für das Management öffentlich geförderter Kultureinrichtungen zurückzuführen, sich zum Beispiel im Rahmen der Marketingaktivitäten nicht in die „Kunst an sich“ einzumischen. Zum anderen ist die Kunstrezeption im Rahmen quantitativ-standardisierter Erhebungen auch methodisch schwer und in Bezug auf die Komplexität solcher Prozesse nur bedingt zu erforschen. Tendenziell schrecken Nicht-BesucherInnen vor Verständnisschwierigkeiten zurück (Klein/Bachmayer/Schatz 1981:198) und lehnen moderne Ästhetik beispielsweise im Theater (Deutscher Bühnenverein 2003:16) oder im Museum (Frank et al 1991:256) ab. Allerdings beruhen diese Zuschreibungen vor allem bei besuchsunerfahrenen Nicht-BesucherInnen weniger auf dem tatsächlichen Kulturangebot und mehr auf subjektiven Imagezuschreibungen.
Eine qualitative Untersuchung des Autors von GelegenheitsbesucherInnen von Theatern kommt jedoch zu dem Fazit, dass bei deren seltenen Besuchen vor allem eine nicht erfolgreiche Rezeption der Bühnendarstellung problematisch werden kann. In 24 episodischen qualitativen Interviews wurden Personen befragt, welche aufgrund sozio-demografischer Merkmale wie hohe Bildungsabschlüsse, eigentlich statistisch die besten Besuchsvoraussetzungen mitbringen, dennoch nur sehr selten öffentlich geförderte Theater besuchen. Wie nehmen sie in ihren seltenen Besuchen das Bühnengeschehen wahr? GelegenheitsbesucherInnen setzen als zentrale Rezeptionsstrategie das Verstehen des Theatertextes ein. Bereits in der Jugend wird bei durch Schulen organisierten Besuchen dieser Zugang geprägt. In der Regel erfolgt die Hinwendung zum Theater durch die Schule im Rahmen des Deutschunterrichts. Dann wird die Besuchsentscheidung auf AutorIn, Werk und gegebenenfalls Kompatibilität zum Unterrichtsthema reduziert. Wird zudem auch die Rezeption allein auf AutorIn und Text konzentriert, bleibt der Einsatz anderer Theatermittel unbeachtet. Der Theaterbesuch wird lediglich als eine Zugabe zur vorherigen Auseinandersetzung mit dem Theaterstoff im Deutschunterricht empfunden. Die Leistungen des Theaters, vor allem die Darstellung der Interpretation mit verschiedenen Theatermitteln, scheinen gar keine Relevanz in dieser Art von Theatervermittlung zu haben. Diese bereits durch nicht-vermittelte Theaterbesuche mit der Schule eingeübte Rezeptionsstrategie wird von GelegenheitsbesucherInnen auch später bei selbst organisierten angewendet. Die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Interpretation der mit der Bühnendarstellung verbundenen auch abstrakten Zeichen wird von ihnen als Zwang und nicht persönlich gewinnbringend empfunden. Diese wird dann auch nicht als Mehrwert, sondern als Störfaktor empfunden. Wenn die Rezeptionsstrategie des Verstehens nicht erfolgreich ist, werden Theaterbesuche ohne persönlichen Mehrwert und entsprechend negativ erlebt.
Durch den hohen Stellenwert des Theatertextes in der Rezeption verfügen vor allem GelegenheitsbesucherInnen also über keinen Zugang zur Interpretation der Modernisierung historischer und zeitloser Theaterstoffe. Die Neuinszenierung von Klassikern, d.h. von literaturgeschichtlich bedeutsamen Theaterstoffen im Sinne von Dramen und Schauspielen, stellt aber einen wesentlichen Teil des Angebots öffentlich geförderter Theater in Deutschland dar. Ausgehend vom hohen Stellenwert des Textes in der Rezeption durch GelegenheitsbesucherInnen kann dies zu einer nicht unproblematischen Erwartungshaltung führen. Der Einsatz anderer Theatermittel, wie z.B. Requisiten oder Bühnenbild, wird dann an der erwarteten Kompatibilität mit dem bekannten Text gemessen. Wenn eine erwartete Texttreue und die tatsächliche Bühnendarstellung dann nicht zusammenpassen, kann eine Enttäuschung entstehen (vgl. Renz 2016).
Bereits das Beispiel des Rezeptionsverhaltens von GelegenheitsbesucherInnen macht deutlich, dass es fließende Grenzen zwischen vom Angebot ausgehenden und auf persönliche Gründe zurückzuführenden Barrieren gibt. Das Nicht-Verstehen einer Theaterinszenierung kann zum einen auf ein unpassendes Angebot auf Seiten der TheatermacherInnen, zum anderen auf nicht vorhandene Rezeptionskompetenzen auf Seiten der Individuen zurückgeführt werden. Subjektive Barrieren sind forschungstechnisch schwieriger zu ermitteln, auch da mit sozial erwünschten Antwortverhalten in standardisierten Erhebungsinstrumenten zu rechnen ist (Bekmeier-Feuerhahn 2012:56).
Ein negatives Image bildet sich „aus der Summe aller positiven und negativen Einstellungen gegenüber den einzelnen Leistungsbestandteilen“ einer Kultureinrichtung heraus (Butzer-Strothmann 2001:62). Klassischen Kultureinrichtungen und ihren Veranstaltungen wird mehrheitlich ein Image als Bildungseinrichtung zugeschrieben (Mandel 2005), ohne dass dies positiv konnotiert wird. Vor allem stellt die Zuschreibung von „langweilig“ (Keuchel 2006:87) eine besuchsverhindernde Barriere dar. Anders als in älteren Studien ergibt sich aus einem potenziellen Kleiderzwang in Kultureinrichtungen derzeit keine Barriere mehr, obgleich dieser noch bemerkt wird (Damas 1995:102). Ausgehend vom hohen Stellenwert von Kulturbesuchen als sozialer Aktivität, stellt auch fehlende Begleitung, die auf mangelndes Interesse im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zurückzuführen ist, eine relevante Barriere dar (Deutscher Bühnenverein 2003:4; Keuchel 2006:83,87, Renz 2016:226). Vor allem bei Nie-BesucherInnen spielt die soziale Funktion eine bedeutende Rolle in der Freizeitgestaltung. Internationale Studien zeigen, dass dabei vor allem Aktivitäten mit der Familie eine besondere Relevanz zukommt (dcms 2007:15).
Einfacher standardisiert messbar, allerdings auch sehr subjektiv in der Bewertung, ist der Faktor Zeit. Fehlende Zeit ist als besuchsverhindernde Barriere in allen Sparten relevant (Europäische Kommission 2007:17; Mandel/Timmerberg 2008:7). Der Umfang von Freizeit steht dabei nicht zwingend im Zusammenhang mit der Intensität des Interesses und der Nutzung (Frank et al 1991:197). Fehlende Zeit für potenzielle Kulturbesuche entsteht auch durch alternative Freizeitaktivitäten. Wenn also z.B. der neueste Blockbusters im Multiplex-Kino, der abendliche Besuch im Fitness-Studio oder einfach ein gemütlicher Fernsehabend wichtiger als der Besuch einer öffentlich geförderten Kultureinrichtung ist, dann kann das Barrierenmodell vielleicht gar nicht greifen. Denn wenn keine Motivation existiert, kann diese auch nicht durch Barrieren unterbrochen werden.
Nicht-BesucherInnenforschung als soziale Ungleichheitsforschung
Die in den hier ausgewerteten Studien aufgeführten, vom Objekt wie auch vom Subjekt ausgehenden, Barrieren verbindet die Tatsache, dass sie alle einen bestehenden Motivationsprozess unterbrechen. Es wird also theoretisch davon ausgegangen, dass grundsätzlich ein Interesse an Besuchen von Theatern, Konzerten und Museen besteht, welches dann – aus welchen Gründen auch immer – unterbrochen wird. Diese Perspektive ist vermutlich auch auf die Anwendungsorientiertheit vieler Studien zurückzuführen: Es ist weniger ein beispielsweise primär sozialwissenschaftliches, sondern eher ein aus zukünftigen Existenzsorgen der institutionalisierten Kultur ausgehendes Erkenntnisinteresse, auf welchem (Nicht-)BesucherInnenstudien, wie z.B. die des Deutschen Bühnenvereins (2003), aufbauen.
Woran liegt es aber, dass viele Menschen überhaupt keine Grundmotivation haben, das öffentlich bereit gestellte Kulturangebot zu besuchen? Bei solchen Fragen kann auch an das oben erläuterte theoretische Konzept der sozialen Ungleichheitsforschung angeknüpft werden: Es werden Merkmale untersucht, welche kulturelle Teilhabe gesellschaftlich bedingt fördern oder verhindern. Zum anderen kann auf Ebene der politischen Konsequenzen überlegt werden, wie Kulturpolitik und Kulturmanagement mit ihrem Instrumentarium zukünftig positiven Einfluss auf diese Motivationsprozesse haben können oder an welchen Stellen dieses Thema ihren Handlungsspielraum übersteigt. Die dieser Sekundäranalyse zugrunde liegenden Studien zeigen, dass (formal messbare) Bildung der wichtigste Einflussfaktor auf kulturelles Interesse ist und ein hohes Kulturinteresse meist mit den formal höchsten Bildungsabschlüssen einhergeht (Frank 1991:254, 341; Kirchberg 1996:153; Keuchel 2003:102; Mandel 2005; Neuhoff 2007:482; Mandel/Timmerberg 2008:7 u.v.m.). Im Umkehrschluss verfügen formal bildungsferne Menschen auch über wenig Wissen bezüglich der Rahmenbedingungen und des Ablaufs von Kulturveranstaltungen. Die Motivation zum Besuch kultureller Veranstaltungen entsteht am ehesten in Kindheit und Jugend, wobei die Hinführung zu Kunst und Kultur durch die Eltern nachhaltigere Konsequenzen auf das Kulturinteresse hat, als die Aktivitäten der Schulen (Mandel 2008:28, Keuchel 2012). Die Motivation kann sich im Verlauf des Lebens ändern, vor allem Berufseintritt oder eine Veränderung der familiären Situation (Opaschowski 1997:91) kann zu einem Rückgang der Motivation führen (vgl. Renz 2016). Spätestens hier wird deutlich, dass die Motivation auf unterschiedliche Bedürfnisse zurückgehen kann: Kulturbesuche können auf dem Wunsch nach sozialer Interaktion, nach ästhetischem oder inhaltlichem Nutzen oder auch nach einer symbolischen Aufwertung basieren (Mandel 2008:49). Die Motivation, Theater und Museen zu besuchen kann aber auch dann entstehen, wenn ein wie auch immer initiierter Besuch die eigenen Bedürfnisse nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung erfüllte und somit eine Relevanz für das eigene Leben erfahren wurde. Nicht-BesucherInnen haben dabei andere Präferenzen als das Stammpublikum von Kultureinrichtungen: Sie bevorzugen soziales Miteinander im Familienkreis und aktives Mitmachen (Hood 1983:54).
Konsequenzen für Kulturpolitik und Kulturmanagement
Trotz des Anspruchs einer Kultur für alle ist der öffentlich geförderte Kulturbetrieb noch weit vom Zustand ausgeprägter kultureller Teilhabe in Deutschland entfernt. Welche praktischen Konsequenzen können Kulturpolitik und Kulturmanagement nun aus diesem Wissen ziehen? Mit welchen Strategien und Instrumenten kann mehr und sozial diversere kulturelle Teilhabe forciert werden? Auf Ebene der Kulturpolitik kann der bereits geführte Diskurs über neues Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen auf eine Diskussion konkreter Instrumente einer zielorientierten und evidenzbasierten Politik gelenkt werden. Dazu zählen beispielsweise Steuerungsinstrumente wie Zielvereinbarungen, die zum Beispiel (noch) nicht in allen Bundesländern genutzt werden (vgl. Renz 2016). Ziel könnte es sein, dass die Ansprache neuer oder bestimmter Zielgruppen als selbstverständlicher Teil der öffentlichen Kulturpflege verstanden werden würde und nicht – wie bisher – nur in zusätzliche und temporär beschränkte Extraprogramme ausgelagert oder gar an Stiftungen und Sponsoren delegiert wird.
Auf betrieblicher Ebene kann es in Kulturmarketingprozessen darum gehen, zukünftig (noch) kleinteiligere Zielgruppen zu definieren, um mit einem intensiven Segmentmarketing diese individuell anzusprechen. Manchmal scheint hier der Anspruch von Kultur für alle ein modernes Zielgruppenmarketing zu verhindern. In der Aufteilung des potenziellen Publikums in Segmente und in einer durch die eigenen Ressourcen notwendig begrenzt zu bearbeitenden Auswahl dieser Segmente, wird die Gefahr gesehen, dass dadurch nicht mehr ‚alle‘ Menschen in gleicher Weise willkommen wären. Eine Aufteilung des potenziellen Publikums einer Kultureinrichtungen muss vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kritisch hinterfragt werden, ob dadurch – trotz bester Absichten – die soziale Teilung nicht noch manifestiert wird. Auf der anderen Seite zeigt die Marketingforschung, dass der Anspruch „one site fits all“ aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Lebensstile schon lange nicht mehr funktioniert (vgl. Klein 2001). Im Rahmen betrieblicher Marktforschung könnten also zielgruppenspezifische Barrieren individuell für die einzelnen Kulturbetriebe erforscht und abgebaut werden. Allerdings kann es dabei nur um Barrieren gehen, welche auch im Handlungsfeld des Marketings liegen. Somit dürfte die Konsequenz solcher Bemühungen maximal in der erfolgreichen Ansprache von GelegenheitsbesucherInnen liegen.
Entscheidet sich eine Kultureinrichtung jedoch für die Bearbeitung neuer Zielgruppen, zu denen auch bisher nicht kulturaffine Nicht-BesucherInnen zählen, so muss dies auch von der Ebene der Führung der Organisation ausgehen. Mit Audience Development ist ein betriebliches Instrumentarium bekannt, dass verschiedene Ansätze aus Kulturmarketing, Kulturvermittlung und künstlerischer Produktion verbindet und sich insbesondere für die Ansprache bisher nicht besuchsaktiver Zielgruppen eignet (vgl. Mandel 2008). Zum einen können durch individuelle Nicht-BesucherInnenforschung offensichtliche Barrieren (wie z.B. zu hohe Eintrittspreise bei Menschen mit geringem Einkommen oder unpassende Öffnungs- bzw. Aufführungszeiten bei berufstätigen Zielgruppen) erkannt und abgebaut werden. Zum anderen können Kooperationen mit MultiplikatorInnen gesucht werden. Um diese neuen Zielgruppen auch nachhaltig an die eigene Einrichtung anzubinden, ist eine positive Rezeptionserfahrung unumgänglich. Kulturvermittelnde Angebote – mit welcher Zielsetzung auch immer – können diese unterstützen. Solche Aktivitäten werden auch Einfluss auf die Programme der Einrichtungen haben. Allein die Veränderung der Kommunikation wird vermutlich nicht zu einer dauerhaften Integration neuer Zielgruppen führen. Denn bestimmte Sparten und künstlerische Formate sind insofern populärer als andere, da sie den wahrgenommenen Rezeptionsansprüchen der Nicht- und GelegenheitsbesucherInnen eher entsprechen. Im Theater sind das Inszenierungen, welche sich quasi selbst vermitteln. Die Handlung ist ohne notwendige weitere Informationen oder Anregungen nachvollziehbar und eine mögliche Dekodierung theatraler Zeichen ist keine zwangsläufige Voraussetzung für eine gewinnbringende Rezeption bzw. kollidiert zumindest nicht mit den Ansprüchen beispielsweise der ZufallsbesucherInnen. Im Theater betrifft das vor allem Genres wie z.B. Krimis, Komödien, Musicals, aber auch stellenweise bekannte Klassiker der Literaturgeschichte. Eine strategische Ausrichtung der Angebote an der Zielgruppe dieser GelegenheitsbesucherInnen würde dementsprechende Inszenierungen in die Spielplangestaltung integrieren. Denkbar wäre auch, Programme und Produkte verändert zu lassen und durch geeignete direkte Vermittlungsleistungen eine persönlich gewinnbringende Rezeption zu ermöglichen. Kulturvermittlung wäre dann das ‚Ass‘ im Ärmel der Kultureinrichtungen für noch so abstrakte Kunstwerke. Allerdings zeigen Ergebnisse biografischer Forschung, dass vor allem berufstätige GelegenheitsbesucherInnen ihrer Freizeitgestaltung einen hohen Regenerationsanspruch zuweisen (vgl. Renz 2016). Daraus resultiert für abendliche Aktivitäten auch an Wochenenden ein Bedürfnis nach Unterhaltung. Dies kann mit dem Angebot einer öffentlich geförderten Kulturveranstaltung kollidieren, wenn dieses einer zu hohen geistigen Auseinandersetzung bedarf.
Es stellt sich also die Frage für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen, ob und wie sie auf diese Herausforderungen nach Ansprache neuer Zielgruppen im Sinne eines sozial ausgewogeneren Publikums reagieren und inwiefern sie bereit sind, sich selbst und ihre Angebote in Auseinandersetzung mit neuen BesucherInnen kritisch zu hinterfragen. Kultureinrichtungen können sich bewusst dafür entscheiden, Brücken zu bisherigen Nicht-BesucherInnen zu bauen. Dann ginge es darum, die Diskrepanz zwischen bewusst und berechtigt anstrengend, komplex und mehrdeutig gestalteter Kunst auf der Seite der ProduzentInnen und den ebenfalls berechtigten Ansprüchen nach Unterhaltung und Erholung auf der Seite der Nicht-BesucherInnen zu überbrücken. Dafür müssten sich beispielsweise Theater in ihrem Selbstverständnis weiterentwickeln. Denn die grundsätzlichen Probleme einer Programmpolitik, welche nicht mit den erlernten Rezeptionserfahrungen und Freizeitansprüchen von Nicht- und GelegenheitsbesucherInnen zusammenpasst, lassen sich nur bedingt im Rahmen von Marketing- und Vermittlungsmaßnahmen lösen.