Musik-Kultur-Pädagogik. Kulturwissenschaftliche Fragen und Perspektiven

Artikel-Metadaten

von Barbara Hornberger

Erscheinungsjahr: 2020/2017

Abstract

Musikpädagogik wird traditionell oft als Vermittlung musikalischer Fähigkeiten und Ästhetik verstanden und praktiziert. Man konzentriert sich auf instrumentale und vokale Fertigkeiten sowie ein kanonisiertes Repertoire und befasst sich selten mit den historischen, soziologischen, politischen Hintergründen der einzelnen Musikstücke. Dabei ist Musik, genau wie auch Literatur oder Bildende Kunst, eine Form von Kultur und kultureller Praxis. Musik als Kultur wahrzunehmen, erfordert aber eine Sichtweise, die beides sieht: Musik in ihrer Spezifik und Musik als kultureller Ausdruck neben anderen.
Der Beitrag beginnt mit der Frage nach dem Einfluss des cultural turn in den Diskursen und Programmatiken der Musikwissenschaft und Musikpädagogik. An zwei Beispielen zeigt der Beitrag, dass eine kulturwissenschaftliche Orientierung interdisziplinäres Denken ermöglicht und erfordert und damit eine andere Konzeptionierung von Musik zur Folge hat, die sowohl in analytischer Hinsicht als auch in musikpädagogischen Handlungspraxen Auswirkungen haben kann. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive führt außerdem zu einer Haltung der Selbstreflexion in zweierlei Hinsicht: zum einen reflexiv in Bezug auf den (wechselnden) Gegenstand, zum anderen aber auch in Bezug auf die eigene Position in der Kultur und deren potentiell hegemoniale Diskurse.

Musik ist, mehr als die meisten anderen Künste, in unserem täglichen Leben präsent und zeigt sich darin als facettenreiches und komplexes kulturelles Phänomen: Musik kann Selbstausdruck sein und Geräuschtapete, Alltagskultur und Hochamt der Kunst, Schulfach und Freizeitspaß, Gotteslob und Spiel mit dem Bösen, Quelle des subjektiven Vergnügens und des nachbarschaftlichen Rechtstreits. So wie die Funktionen und Erscheinungsformen unterscheiden sich auch die Perspektiven, die zudem jeweils eigene Bewertungskategorien mit sich bringen: Musik lässt sich beispielsweise aus handwerklicher Sicht betrachten, dann treten Fragen nach Virtuosität, Intonation und rhythmischer Präzision in den Vordergrund. Diese Perspektive ist im Instrumentalunterricht, der vor allem eine Ausbildung am Instrument ist, traditionell sehr präsent: Ziel ist, besser zu spielen oder zu singen. Etwas anders gelagert ist die Perspektive der Ästhetik, mit der weniger nach den technischen Fertigkeiten und mehr nach dem Gesamteindruck gefragt wird. Dabei spielen sowohl ästhetische Traditionen – etwa die Vorstellung eines schönen Tons – als auch Genre-Konventionen – nicht zufällig gibt es den Begriff der Jazz Police – sowie persönlicher Geschmack eine Rolle. Über Ästhetik lässt sich darum lange und im Zweifel auch ergebnislos streiten. Eine weitere Perspektive fragt nach der Bedeutung und Funktion von Musik. Sie kann die Fragen nach Handwerklichkeit und Ästhetik ergänzen, überblenden oder sogar ausblenden, weil sie sich, anders als die beiden ersten, auf Musik als Kultur und damit in letzter Konsequenz immer auf Gesellschaft bezieht. Diese Perspektive ist vor allem im Bereich der populären Musik sehr präsent, weil hier die Fragen nach Handwerklichkeit und Ästhetik häufig den tradierten Normen widersprechen und stattdessen Funktionalität – z.B. Tanzbarkeit – und Diskursivität – z.B. in Formen des Protests und der Abweichung durch Musik- und Lebensstile – zentral werden.

Musik als Kultur wahrzunehmen, erfordert daher einen Blick, der sowohl Musik in ihrer Eigenart als auch Musik als eine Kultur unter vielen sieht bzw. der, wie Simon Frith es bereits 1992 fordert, soziologische Zugänge mit ästhetischer Theorie verbindet (Frith 1992). Es ist daher naheliegend, auf eine Disziplin zurückzugreifen, die zunächst weniger eine eigene Disziplin als eine transdisziplinäre Perspektive darstellt: die Kulturwissenschaft. Sie hat es in Forschungsanträgen, Stellenausschreibungen und Tagungskonzeptionen in den letzten 10 bis 15 Jahren zu einiger Prominenz gebracht, mit ihr scheint eine zeitgemäße und progressive Ausrichtung garantiert. Allerdings bleibt im konkreten Fall oft unklar, was mit kulturwissenschaftlich gemeint ist. Das Problem beginnt bereits mit dem Numerus: Kulturwissenschaft oder Kulturwissenschaften? Damit verbunden ist die Frage nach einem disziplinären Kern und ausfransenden Rändern, nach Einheit oder Vielfalt, die sich durchaus unterschiedlich beantworten lässt. Zudem finden sich unterschiedliche nationale und lokale Ausprägungen: Im deutschsprachigen Raum reichen Kulturwissenschaft und -schaften von philosophischer Theorie bis zu ethnologischer Feldforschung, vom Erforschen kanonisierter Texte bis zum künstlerischen Experiment, je nach Standort und Tradition. Aus dem internationalen Wissenschaftsraum kommen insbesondere die britischen und amerikanischen Cultural Studies und der französische Poststrukturalismus hinzu. Die Kulturwissenschaft/en stehen aufgrund dieser Komplexität häufig im Verdacht, nur ein schickes Label für ein buntes, aber letztlich oberflächliches Sammelsurium verschiedener Einzeltheorien und -methoden zu sein. Kulturwissenschaftler*innen, so ein gelegentlich zu hörender Vorwurf, könnten zwar vieles, aber eben nichts richtig.

Dieser Eindruck lässt sich aus der Sicherheit einer Disziplin mit Tradition heraus – und als solche lassen sich sowohl Musikwissenschaft als auch Musikpädagogik beschreiben – durchaus nachvollziehen. Wer sich mehr oder weniger gleichzeitig mit Theaterwissenschaft, Medienwissenschaft, Musikwissenschaft, Cultural Studies, Soziologie, Philosophie etc. befasst, wird in jedem einzelnen Bereich weniger gelesen haben als die Spezialist*innen, wird in selektiver Wahrnehmung ganze Diskursstränge ignorieren, wird zusammenfügen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört und damit Ordnungen durcheinander und orthodoxe Vertreter diverser Disziplinen zur Verzweiflung bringen. Universaldilettantismus ist in diesem Zusammenhang selten ein positiv gemeintes Etikett – die Betonung liegt auf dem Dilettantismus. Die Forderung nach kulturwissenschaftlicher Ausrichtung kann vor diesem Hintergrund durchaus als Bedrohung disziplinärer Seriosität wahrgenommen werden. Die Zeit der Universalgelehrten ist überdies lange vorbei. Wer sich für vieles interessiert und sich breiter aufstellt, muss notwendigerweise Abstriche an anderer Stelle machen. Andererseits ist die Sicherheit, die eine abgrenzbare Disziplin verheißt, aus diversen Gründen ebenfalls erschüttert. Selbst in einem Fach lässt sich längst nicht mehr alles Neue und Wichtige rezipieren, die Spezialisierung der Spezialisten ist akademische Normalität. Dem gegenüber verspricht die Kulturwissenschaft den Horizont zu weiten, größere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und die Einzelphänomene stärker in ihrem Kontext und in ihrer Verbindung wahrzunehmen. Dafür muss freilich die Deutungshoheit über das, was die Kultur ist, aufgegeben werden. Denn egal, ob Kulturwissenschaft als Einzeldisziplin oder Kulturwissenschaften als Ensemblebegriff, – ihre Spezialisierung liegt in der „Perspektive, die für die Beobachtung von ‚Kulturen‘ im Plural entwickelt wird“ (Böhme 2001:7). Die Kulturwissenschaften haben „keine eigene Gestalt, weil sie eng mit den je spezifischen historischen und sozio-kulturellen Bedingungen verwoben sind, aus denen sie hervorgingen“ (Assmann 2004:4). Sind sie zunächst eine Reaktion auf eine Krise der Geisteswissenschaften, werden sie zugleich zu deren Modernisierung. Kulturen – der Wechsel zum Plural ist paradigmatisch – werden nun konzipiert als „symbolische Reproduktionssysteme […], die die Aufgabe haben, in einer Welt von Wandel, Kontingenz und Flüchtigkeit wiedererkennbare Gestalten auszubilden und gleichzeitig elastisch auf Wandel zu reagieren.“ (Assmann 2004:13) Dieser plurale und diverse Begriff von Kulturen und Kulturwissenschaften integriert die verschiedenen ehemaligen Kunst- und Geisteswissenschaften, löst sie aber nicht auf. Deren Stärken lassen sich vielmehr ohne weiteres zusammendenken mit einer Kerndisziplin Kulturwissenschaft, die den kulturtheoretischen Diskurs führt und vorantreibt. Im besten Fall ist kulturwissenschaftliche Forschung dann sowohl Arbeit an den Schnittstellen, den Überlappungen, den disziplinären Lücken und Sollbruchstellen als auch an der Frage, welche Bedeutung und Funktion Kultur für Individuen und Gesellschaft generell hat.

Tradition versus Cultural Turn

Wenn man nach dem Verhältnis von Musikpädagogik und Kulturwissenschaft fragt, ist es naheliegend, zunächst einmal auf die Musikwissenschaft zu blicken. Welchen Rahmen bieten deren Konzepte und Diskurse zu und über Musik, welche Traditionen und Impulse gehen von ihr aus? Da es sich bei Musik ohne Zweifel um Kultur handelt, ist auch die Musikwissenschaft – hier verstanden als Übergriff für methodisch und inhaltlich durchaus sehr vielfältige Musikwissenschaften – eine Disziplin, die sich mit Kultur beschäftigt. Dies bedeutet allerdings noch nicht, dass sie sich auch als Kulturwissenschaft begreift. Tatsächlich hat sie später und verhaltener als andere Geisteswissenschaften auf den Cultural turn und die damit einhergehenden weiteren turns reagiert. Die Literaturwissenschaft etwa hat sich nach dem „Tod des Autors“ (Barthes 1967/2000) neu aufgestellt, von der Autorität des schöpferischen Schriftstellers Abschied genommen und die Idee von Text und Literatur neu konzeptioniert. Die Theaterwissenschaft, selbst ein wissenschaftliches Gegenmodell zum Primat des Dramas (Fischer-Lichte 2005), hat das Postdramatische in den Blick genommen (Lehmann 1999), womit das Sprechtheater seine Funktion als Regelfall verlor und Autorschaft auch im Theater neu – häufig kollektiv – gedacht wurde. Der Blick richtete sich nicht mehr auf ein Werk, sondern auf das Performative und Diskursive. In beiden Fällen wurde die Seite der Rezeption nicht mehr nur als Empfänger, sondern als Mit-Produzent wichtiger. In der traditionellen Musikwissenschaft hingegen hielt sich das Primat des Werks, in der Regel vorliegend in Form des Notentexts, deutlich stabiler, genauso wie die Priorisierung eines historischen Kanons abendländischer Kunstmusik, der häufig an Vorstellungen von Zweckfreiheit, Autonomie, Virtuosität oder Authentizität gekoppelt war. Insbesondere die im 19. Jahrhundert favorisierte Idee von Musik als von einer von allen Zwecken befreiten Kunst hat dazu geführt, dass ihr Gebrauch, ihre sozialen Funktionen und ihrer Ökonomien in der wissenschaftlichen und pädagogischen Beschäftigung mit Musik marginalisiert wurden und werkimmanente Fragen im Zentrum standen. So wurde Musik einerseits enorme Bedeutung als Bildung in Form einer Veredelung des menschlichen Charakters zugesprochen und andererseits die gesellschaftliche Dimension dieses Bildungsvorgangs weitgehend ignoriert (vgl. dazu auch Schläbitz 2016). Begünstigt durch die Spezialcodierung der Notation war Musik als Kunst und als Wissenschaft zudem stets vor einem Zugriff durch Fachfremde geschützt, was transdisziplinäre Einflussnahmen erschwerte und die Selbstverständigungsprozesse innerhalb der Disziplin homogenisierte. Eine Durchsetzung eines weiten, kulturwissenschaftlich geprägten Textbegriffs bedeutet für die Musikwissenschaft zwar nicht die Aufgabe, aber die Relativierung dieser verbindlichen Größe Noten, weil an die Stelle von Musik in Form eines fixierten und streng reglementierten Zeichengefüges ein „lockerer Zusammenhang unterschiedlicher symbolischer Codes“ (Assmann, 2004:19) tritt, der Musik nicht mehr als notiertes Werk, sondern als breites kulturelles Feld konfiguriert – das im Zweifel auch unter Umgehung der Zugangshürde Notensystem erforscht werden kann, z. B. über eine ethnografische Feldstudie zu Fankulturen.

Interessanterweise hat die Technik der Notation in Teilen der musikalischen Praxis erheblich an Wert verloren, ganz besonders, seit es breit verfügbare auditive Aufzeichnungsmedien gibt. In den Writers Camps der Musikindustrie jedenfalls wird höchstens noch der Songtext notiert, die Komposition hingegen wird direkt in das Aufnahmegerät (Smartphone, Computer) eingesungen und eingespielt. Notieren dauert schlicht zu lange, in der direkten Einspielung lassen sich außerdem die interpretatorischen Parameter viel präziser festhalten. Die Übersetzung eines klanglichen Geschehens in Noten ist für populäre Musikformen oft nicht mehr zeitgemäß und wird so als das sichtbar, was sie naturgemäß immer schon war: eine keineswegs verlustarme Form der Archivierung von Musik in Form eines Codes, der, anders als das Alphabet, sich immer nur für wenige naturalisiert hat – und sich für bestimmte Musikpraxen sowieso als wenig hilfreich oder überflüssig erweist, weil etwa auf der Grundlage bekannter Schemata improvisiert wird oder die Produktion von Musik, das Wissen über Musik und die Weitergabe dieses Wissens eine Praxis der oral culture ist. Auch die Aufführungs- bzw. Herstellungspraxen elektronischer Tanzmusik – insbesondere das DJing – sind durch Notation nicht erfassbar.

Zwar etwas verspätet, hat die kulturwissenschaftliche „Grenzerweiterung“ (Böhme 2000:358) die Musikwissenschaft durchaus verändert. Die damit verbundene „Entprivilegierung der sogenannten hohen Kultur“ (Böhme 2000:358) fällt zwar in der Musik weniger radikal aus als in anderen Disziplinen, dennoch haben die Erforschung populärer Musik und die interkulturelle Musikforschung, und damit auch andere Zugänge und Perspektiven, deutlich an Einfluss gewonnen. In diesen Feldern sind Einflüsse der Cultural Studies, der Gender Studies, der Postcolonial Studies oder des Poststrukturalismus deutlicher sichtbar als im etablierten Kernbereich der E-Musik. Eine stärkere kulturwissenschaftliche Öffnung bietet jedoch viele Möglichkeiten für die Erkundung jeder Form von Musik. Dies betrifft z. B. die Erweiterung des Quellenkorpus (analog etwa zum New Historicism, vgl. Greenblatt und Cackett 1990), auch und gerade durch nicht explizit musikbezogenes Material; neben Bild- und Wortquellen sind das auch religiöse, ethnische wie soziale Rituale, Lebensstile, habituelle Muster des Agierens, Objekte materieller Kultur etc. Sie alle ergeben als gleichberechtigte Quellen „erst den konstruktiven Rahmen und die Erzeugungsweisen einer Kultur“ (Böhme 2001:10) – die in diesem Fall einen musikalischen Ausdruck findet. Die Musik wird so nicht mehr nur im begründeten Sonderfall (der in der Regel dann ausgerufen wird, wenn der musiktheoretische oder musikhistorische Zugang keine befriedigenden Ergebnisse liefert), sondern grundsätzlich als vernetzter Teil eines Gesamtgefüges wahrgenommen, der letztlich nur interdisziplinär beschrieben und analysiert werden kann. Diese Interdisziplinarität bleibt aber, wie Böhme schreibt, „an entwickelte Disziplinarität gebunden, weil sie sonst ohne spezifisches Gegenstandsfeld und ohne charakteristische Fragestellungen oder nur als Diskurs-Moderator und Lückenfüller an den Rändern der etablierten Fächer operiert“ (Böhme 2001:9). Es geht also nicht um ein Entweder-Oder, Kulturwissenschaft und Musikwissenschaft stehen nicht neben- und schon gar nicht in Opposition zueinander.

Musikpädagogik

Musikpädagogik ist auf die Fachkultur der Musikwissenschaft und ihr Selbstverständnis bezogen. Zugleich hat sie auf diese ihrerseits immer wieder Einfluss genommen, wie etwa durch die Öffnung zur populären Musik seit den 1960er- und 1970er-Jahren. Diese Öffnung folgte dem Bedürfnis einer jungen, mit populärer Musik sozialisierten Generation von Musikpädagog*innen sowie dem der Adressat*innen und veränderte über die Jahre auch die Haltung der Musikwissenschaft. Will die Musikpädagogik der Gegenwart erneut auf eine veränderte musikalische Alltagswelt reagieren, muss sie vor allem zur Kenntnis nehmen, das Musik immer seltener pur, sondern als Teil eines Zusammenhangs – etwa von Film, Werbung oder Computerspielen – in Erscheinung tritt. Durch die technologische Entwicklung ist Musik auf der einen Seite ständig und nahezu überall verfügbar, auf dem Smartphone, im Streamingdienst etc. Sie lässt sich so mit verschiedenen Handlungen und Alltagspraxen verbinden, die auf Musik bezogen sein können, aber nicht müssen. Hier ist Musik vor allem Begleitung: beim Sport, bei der Arbeit, beim Einkaufen. Musik war vermutlich noch nie so allgegenwärtig und so wenig ideologisch aufgeladen. Auf der anderen Seite hat Musik nicht nur – durch Filesharing, durch verlustfreies Kopieren, durch Streamingdienste, also durch diverse Digitalisierungseffekte - an ökonomischem Wert verloren, sondern ihren exklusiven Platz innerhalb der Jugend- und Subkulturen eingebüßt. Prozesse von Identitätsstiftungen, Selbstverständigung und Vergemeinschaftung finden heute nicht mehr nur über populäre Musik, sondern mindestens genauso über TV-Serien oder Games statt.

Dass sie im Kontext bzw. als Teil von etwas auftritt, nimmt der Musik nicht ihre Bedeutung. Diese allerdings wird nicht (mehr) an sich, nur auf der Ebene der Musik selbst, produziert und wahrgenommen, sondern im Zusammenspiel von verschiedenen Ebenen der Artefakte, als Ergebnis eines kommunikativen Prozesses, der die Musik, ihren Kontext, die Hörer und den Diskurs um Musik einschließt. Wenn Musikpädagogik an Musik als Bedeutungsträger festhalten und als Teil von Bildung über eine rein handwerkliche Ausbildung hinaus Relevanz entfalten will, muss sie auf die veränderte musikalische Alltagswelt reagieren und dafür ihre Aufmerksamkeit „verstärkt auf Materialität, Medialität und Tätigkeitsformen des Kulturellen“ richten. Denn dadurch lässt sich nach Bachmann-Medick, „genauer […] erkennen, wie und in welchen Prozessen und kulturspezifischen Ausprägungen Geistiges und Kulturelles in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt produziert werden“ (Bachmann-Medick 2006:9). Weil Musik immer häufiger im Kontext anderer Medien und Praxen erscheint, kann sie auch nur im Rahmen ihrer Kontextualisierung verstanden und vermittelt werden. Das kann in bestimmten Fällen auch bedeuten, dass Musik gar nicht mehr als Musik (verstanden als klangliches Geschehen), sondern als Funktion (etwa der Unterhaltung) verstanden werden muss, um ihre Attraktivität und ihre Wirkung wirklich zu erfassen.

Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Musik –  Zwei Beispiele

Ein Beispiel dafür sind die diversen Musikcastingshows. Sie sind ebenso erfolgreich wie umstritten und ohne Zweifel eines der wenigen verbliebenen TV-Formate, in denen Musik von einem breiten Publikum massenmedial gemeinsam rezipiert wird – und schon aus diesem Grund für die Musikpädagogik relevant. Mit einiger Wahrscheinlichkeit haben zahlreiche Jugendliche, die Gesangsunterricht nehmen, die Kandidat*innen, ihre Songs und Auftritte, vor ihrem inneren Auge. Dem großen Erfolg der Sendungen wird allerdings häufig die Kritik an der Qualität der dargebotenen Musik entgegengehalten. Paul Potts gilt den meisten Klassikfans nicht als konkurrenzfähiger Opernsänger, Daniel Küblböck hielten die meisten für eine Zumutung und Witzfigur, und überhaupt belege, so eine häufig geäußerte Meinung, die Kurzlebigkeit des Erfolgs bei den sogenannten Stars eindeutig, dass sie gar nichts können. Nun mag das aus gesangspädagogischer Perspektive in einigen Fällen zutreffen – nur ändert dies nichts am Erfolg der Sendungen. Aus einer traditionell-konservativen und/oder kulturkritischen Perspektive lässt sich dann nur die Diagnose stellen, dass das Publikum über kein ausreichendes Qualitätsbewusstsein verfügt, sich darum nahezu alles bieten lässt und so in die Fänge der Kulturindustrie gerät –„[n]icht nur fallen die Menschen, wie man so sagt, auf Schwindel herein, wenn er ihnen sei’s noch so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen; sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird“ (Adorno 1967; ed. 2008:206). Mit einer solch kulturkritischen Perspektive ist nicht nur das ästhetische Urteil, sondern gewissermaßen auch (musik-)pädagogisches Handeln bereits disponiert: Über die Frage der Qualität wird nicht vom Publikum, sondern von Expert*innen entschieden. Alle anderen müssen sich, um in ihrem Urteil ernstgenommen zu werden, zu dieser Expertise erst hin entwickeln – was in den meisten Fällen auch mit einer Anpassung an den Kanon und den Expertenhabitus verbunden sein dürfte. Die Frage nach dem kulturellen, ästhetischen, narrativen und sozialen Reiz der Sendungen wird auf diese Weise nicht gestellt und demzufolge auch nicht beantwortet.

Wenn man auf eine Priorisierung der Musik als zentraler Kategorie verzichtet und stattdessen Castingshows kulturwissenschaftlich als mediales Artefakt betrachtet, entsteht ein anderes Bild. Denn Castingshows als TV-Unterhaltungsformate fallen in die Zuständigkeit der Medien- oder Fernsehwissenschaft und nicht der Musikwissenschaft. So lassen sich etwa unter Bezug auf Müller und Goffman Musikcastingshows analog zu anderen TV-Shows als ein Spiel mit Rahmungen beschreiben (vgl. Müller 1999). Rahmungen stellen laut Goffman (1980) Erfahrungsschemata dar, die dazu beitragen, Situationen als sinnhaft wahrzunehmen. Auch in medial geschaffenen Situationen beziehen sich sowohl die Produzenten und Akteure der Sendung als auch das Publikum auf solche Rahmen – um den Kommunikationsprozess zu strukturieren und zu interpretieren. Im Fall von Musikcastingshows bildet den ersten Rahmen die Show. Der zweite Rahmen ist der Wettbewerb, der innerhalb der Show stattfindet. Den dritten Rahmen bilden die narrativen Teile, in denen Kandidat*innen jenseits ihrer Bühnenauftritte gezeigt werden. Jede der Rahmungen ist in der Lage, Wirklichkeit zu konstruieren und dabei die anderen in der Wahrnehmung jeweils zu überlagern. Die Kandidat*innen müssen in allen drei Rahmen überzeugen, um im Spiel zu bleiben und am Ende zu gewinnen. Ihre musikalisch-sängerischen Fähigkeiten spielen nur in einem der Rahmen, nämlich im Wettbewerb, eine Rolle. Weil es sich hier um eine Unterhaltungssendung handelt, werden sie – ebenso wie alle anderen Beteiligten –  daran gemessen, ob sie zur Unterhaltung beitragen, also ihre Funktion im Spiel erfüllen: Die Jury muss bewerten; die Kandidat*innen müssen, sonst funktioniert das Spiel nicht, den Wettbewerb ernsthaft betreiben. Darüber hinausgehend liegt eine weitere Darstellungsaufgabe im Hervorbringen eines medialen Selbst, im performativen Entwickeln einer Medienfigur. Die Teilnehmenden müssen sich im Singen zeigen, aber auch im Scheitern, im Siegen, in der Konkurrenzsituation. Erst wenn beides stimmig ineinanderpasst, gelingt die Unterhaltung, die das Show-Format verspricht und die folglich vom Publikum bewertet wird (vgl.Hornberger 2017). Entscheidend ist darum nicht, wie jemand singt, sondern welche Erzählung dabei entsteht. So hat beispielsweise Daniel Küblböck die mediale Darstellungsaufgabe besser als andere gelöst, auch wenn er gesanglich nicht überzeugte, und damit nicht nur dem Format Show entsprochen, sondern auch eine wichtige Komponente von Stardom gezeigt.

Wenn Zuschauer*innen also weniger die musikalische Qualität als den medialen Auftritt wahrnehmen und goutieren, wenn sie nicht über Stimmvolumen und tonale Schwächen sprechen, sondern darüber, wessen Auftritt sie gut finden, wer sie interessiert, an wem sie Anteil nehmen, dann agieren sie adäquat auf der Ebene des Formats, das sie mit ihrer biografisch erworbenen Medien- und Genrekompetenz erkennen. Eine Kritik, die sich auf die Qualität der Musik bezieht, läuft somit ins Leere. Die Musik in Castingshows ist vollständig eingebunden in ihren inszenatorischen Kontext, in die Funktionsweisen von Medien, Genres und Unterhaltung: Sie ist Motor des Wettbewerbs – insofern ist sie nicht verzichtbar, sondern essentiell – und zugleich ist sie nur ein vergleichsweise kleiner Teil eines Gesamtgefüges, das als Ganzes vom Publikum beurteilt wird. Die Castingshow ist also ein Beispiel für Formen alltäglicher Musikrezeption, die nur kulturwissenschaftlich verstanden werden können, weil sie an den Schnittstellen der Disziplinen angesiedelt sind.

Im musikpädagogischen Kontext spielen Musikcastingshows als Teil des medialen und musikalischen Alltags eine wichtige Rolle. Dazu tragen, gerade für Jugendliche, auch die Aneignungsprozesse in der sozialen Umgebung bei. Hier wird kultureller Geschmack als sozialer Wert und als Identitätsfaktor immer wieder neu verhandelt. Wer hier mit rein musikalischen, vielleicht sogar geschmacklichen Wertungen operiert, die die Show und ihre Rezeption entwerten oder sogar angreifen, zeigt sich nicht nur als wenig medienkompetentes Gegenüber, sondern läuft außerdem Gefahr, auch in seiner musikalisch-pädagogischen Rolle an Anerkennung und Status zu verlieren.

Dass sich populäre Musik nur transdisziplinär und nahezu immer in medialen Zusammenhängen verstehen lässt, hat sich als Erkenntnis inzwischen weitgehend durchgesetzt, ebenso wie das Wissen um ihre verschiedenen sozialen Funktionen, sowohl für Individuen als auch für Gruppen und die Gesellschaft. Für den Bereich der E-Musik gilt dies jedoch nicht. Hier ist die Fokussierung auf ein wie auch immer jeweils zu definierendes Werk und seine immanente Struktur noch deutlich präsenter – weniger in der Forschung, aber doch in der musikpädagogischen Praxis. Mit einer kulturwissenschaftlichen und damit breiteren Perspektive lässt sich jedoch auch im Bereich der sogenannten klassischen Musik als Teil eines kulturellen Diskurses und kommunikativer sozialer Prozesse zu verstehen. Diese Perspektive mit ihren Erkenntnismöglichkeiten mag einigen nur als eine mehr oder weniger interessante Ergänzung erscheinen, für einen wesentlichen Teil der zeitgenössischen E-Musik hingegen ist sie notwendig, insbesondere in den Fällen, in denen die Komposition weniger Musik ist als einen Diskurs über Musik führt bzw. Musik als Anlass für eine Diskussion philosophischer und gesellschaftlicher Fragen nutzt.

Ein solcher Diskurs über Musik ist derzeit in Halberstadt zu erleben, wo das Orgelstück Organ2/ASLSP von John Cage aufgeführt wird. Derzeit bedeutet in diesem Fall: gerade jetzt, gestern, vorige Woche und vor 10 Jahren. Denn die Aufführung begann am 5. September 2001 und endet, so ist der derzeitige Stand der Planungen, im Jahr 2640. Folgt man einem theaterwissenschaftlichen Aufführungsbegriff, ist hier aber schon die Bezeichnung Aufführung in Frage zu stellen: Denn dafür ist die leibliche Kopräsenz von Ausführenden und Publikum notwendig (vgl. Fischer-Lichte 2005). In Halberstadt findet aber ein Teil der Aufführung auch ohne die leibliche Anwesenheit von Zuschauenden statt (etwa nachts) und die Töne werden auf einer speziell dafür entwickelten Orgel maschinell erzeugt. Insofern müsste man hier eher von einer Installation sprechen. Es ist also offensichtlich, dass es sich hier um etwas handelt, das aus dem Rahmen des üblichen Konzertbetriebs herausfällt. Statt einer Eintrittskarte kann man Klangjahre erwerben, es gibt keine ausführenden Musiker*innen, und niemand aus dem Publikum wird diese Darbietung des Stücks in Gänze wahrnehmen. Highlight sind die Klangwechsel. Denn dazwischen ist nichts weiter zu hören als der gerade gespielte Klang und die Eigengeräusche des Raums. Funktionsharmonisch lässt sich nichts hören, weil der Akkord kontextlos bleibt und so auf keine Ordnung und kein musikalisches System mehr verweist. Darum kann man ebenso ernsthaft wie provokativ fragen: Ist das, was da gehört werden kann, überhaupt Musik? Und ist das ein Konzert?

Ich denke, dass der Klang, den wir wahrnehmen, auditiv nicht mehr als Teil eines musikalischen Ganzen erkennbar ist. Seit ziemlich genau drei Jahren erklingt ein Akkord aus dis′, ais′ und e″, aber ohne Kenntnis der Partitur können Anwesende beim besten Willen nicht sagen, woher dieser Klang harmonisch kommt, ob er auf dem Grundton liegt oder auf der Dominante, ob die Lautstärke im Verhältnis zum Rest piano oder forte ist, ob eine Viertel oder eine halbe Note gespielt wird und ob diese betont oder unbetont ist. Selbst wer das Stück kennt, wird den Ton in seinem einsamen, dauernden Klang nur als Fragment und nicht als Teil eines Ganzen hören können. Man kann ihn allerdings als Teil eines Ganzen denken, vorausgesetzt, man ist bereit, die Konzeption dieses Projekts stärker zu berücksichtigen als Konvention und Notation. Mit einer musiktheoretischen Analyse lässt sich diese installative Aufführung einer zeitgenössischen Orgelkomposition nicht fassen, sie fordert eine Betrachtung, die vielmehr nach Zeitlichkeit, Raum und Performativität fragt – eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Denn was hier wahrnehmbar wird (und eben gerade nicht gehört werden kann), ist nicht Musik, sondern ein Konzept, die radikale Interpretation einer Spielanweisung, die abgekürzt auch den Titel bildet: „As SLow aS Possible“. Diese Idee wird bis in die Materialität des Instruments hinein sichtbar: Die Orgel, die eigens für dieses Projekt gebaut wird, hat bisher eben nur die Pfeifen, die gebraucht wurden. Das Projekt nimmt seinen Titel wörtlich, reizt ihn aus und muss daran notwendigerweise scheitern: Es ginge schließlich auch noch langsamer, wenn man sich etwas mehr Zeit ließe. Was hier wirksam wird, ist nicht die Raffinesse einer musikalischen Komposition, sondern die einer philosophischen Überlegung, die von ihr ausgeht: „As Slow As Possible“ ist eben potenziell unendlich, so lange jedenfalls, wie die Lebensdauer der zu bespielenden Orgel ist und so lange, wie künftige Generationen existieren und das Projekt zu Ende bringen. Es ist eine Wette auf die Zukunft, eine Ausstellung von Zeitlichkeit und eine Thematisierung des Verhältnisses von Musik und Publikum – aber nur sehr bedingt eine Aufführung von Musik. Man könnte gegen diese Argumentation natürlich einwenden, dass ein moderner Musikbegriff auch solche installativen Formen einschließt. Doch selbst dabei erweist sich eine Fokussierung auf Musik als Klang oder gar als Werk als nur wenig hilfreich. Denn selbst wenn man unter Musik nur das bewusste Anordnen von Klängen und Rhythmen in der Zeit fasst, wäre doch die Wahrnehmung der Zeit, in der diese Anordnungen stattfinden, notwendig – und im Falle des Halberstadter Cage-Projekts gerade durch die enorme Dauer nicht gegeben. Der spezifische Charakter der Halberstadter Cage-Installation, ihre Konzeption, Wirkung und Bedeutung, lassen sich mit einem herkömmlichen Verständnis von Musik nicht adäquat erfassen. Erkenntnisversprechender sind stattdessen die Diskurse um Beschleunigung (vgl. Rosa 2005) und Konzeptionen von Zeitlichkeit sowie die Performance Arts, insbesondere die Durational Performances. Auch mit Konzepten der site specific art lässt sich die Projektkonzeption viel eher erfassen, denn auch der leere Kirchenraum spielt in dieser Installation seine Rolle. Die Musik ist in Halberstadt zwar Anlass, ja sogar Zentrum des Geschehens – allerdings in einer Qualität, die sich vor allem metaphysisch und weniger auditiv vermittelt.

Haltung statt Disziplin

Eine kulturwissenschaftliche Perspektive versucht die Gegenstände in ihrem Kontext, als Teil von etwas oder als zusammengesetztes Gebilde zu verstehen. Dies erfordert intellektuelle und theoretische Flexibilität sowohl in der Entwicklung von Fragestellungen und Positionen, als auch in der Wahl der Methoden. Flexibilität, die, wohlgemerkt, nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. Es ist nicht gleichgültig, mit welchem Analyseinstrumentarium auf welches Material zugegriffen wird. Dass Kulturwissenschaftler*innen, siehe oben, ein breiteres disziplinäres Repertoire haben, heißt eben nicht, dass sie alles gleichermaßen können. Etwas Bescheidenheit bzw. Demut vor dem Gegenstand und die Bereitschaft einer tiefen Beschäftigung mit ihm bleibt wesentlicher Teil des Forschungsprozesses, und dies gilt umso mehr, als die Musikwissenschaft selbst bereits über eine Tradition unterschiedlicher und differenzierter Methoden verfügt. Insofern muss der Kulturwissenschaft als Disziplin, wie Böhme schreibt, ein hohes Maß an Selbstreflexivität inhärent sein: „Die Kultur ist das Objekt einer Wissenschaft, die ihrerseits ein Teil desselben ist.“ (Böhme 2001:2) Eine solche Selbstreflexivität folgt der Einsicht, dass wir permanenter Teil eines Systems sind, das wir gleichzeitig beobachten und gestalten. Darin gibt es keine objektive, externe Position.

Dies gilt für die Kulturwissenschaft, aber noch viel mehr muss es gelten für all das, was sich unter dem Begriff der Kulturellen Bildung fassen lässt – und damit auch für Musikpädagogik. In der kulturwissenschaftlichen Perspektive geraten nämlich nahezu zwangsläufig die basalen Begriffe Kultur und Bildung ins Wanken. Der Kulturbegriff selbst ist nicht mehr fixiert, sondern reflexiv und kontingent, ständigen Veränderungen und Verhandlungen unterworfen, was für die Vermittlungspraxis von Kultur erhebliche Folgen hat. Die Kulturwissenschaft und alle Formen von Kultureller Bildung schreiben an diesen Veränderungen beständig mit, allein schon durch die Art und Weise, wie sie den Begriff verwenden und was unter ihm – offensichtlich oder auch nur implizit – subsumiert wird. Weil aber im Begriff der Kultur die „vergangenen und gegenwärtigen Momente der Selbstauslegung von Gesellschaften“ (Böhme 2001:2) ebenso wie aktuelle Selbstverortungen enthalten sind, sind die „autoreflexiven Momente der Kulturwissenschaft“ immer auch eine „Form der Selbstreflexion der Gesellschaft“ (Böhme 2001:2). Wie wir Kultur denken und dabei stets auch konstruieren, berührt grundsätzliche Fragen des individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses.

Eine Reflexion der Komplexität und Kontingenz des Begriffs Kultur erscheint vor allem dann elementar, wenn er mit dem nicht weniger aufgeladenen und umkämpften Begriff der Bildung verknüpft wird – wie eben im Feld der Kulturellen Bildung. Tatsächlich aber wird gerade in dieser Kopplung die diskursive Bedingtheit beider Begriffe tendenziell ausgeblendet, sie erscheinen als eine Art natürliches Paar, in dem das eine – Kultur – den Königsweg zum anderen – Bildung – darstellt. „Kultur macht stark“ behauptet das 230 Millionen Euro Programm des BMBF. Fraglos werden aus diesem Programm zahlreiche sinnvolle und innovative Projekte finanziert. Mit geht es aber nicht um diese Projekte, sondern die programmatischen Setzungen, die auf der zentralen Website sichtbar werden. „Bündnisse für Bildung“ heißt der Untertitel, der die Ausrichtung des Programms beschreibt: Es geht dezidiert um die Kinder und Jugendlichen, die hier als bildungsfern oder bildungsbenachteiligt bezeichnet werden: „89 Prozent der Bündnisse erreichen Kinder und Jugendliche, die in prekären finanziellen oder sozialen Verhältnissen oder in bildungsfernen Elternhäusern leben. Und: In 94 Prozent sind Kinder und Jugendliche dabei, die sonst kaum Berührung mit kultureller Bildung haben“, ist in dem Dokument Stärken entfalten durch kulturelle Bildung! Programm, Projekte, Akteure (BMBF 2016:6) zu lesen und die damals zuständige Ministerin Johanna Wanka verstärkt dies noch einmal:

„Wenn es uns gelingt, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen, die es nicht leicht haben in ihrem Leben, durch die Angebote kultureller Bildung etwas mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und Freude am gemeinsam Erlernten zu vermitteln, haben wir etwas sehr Gutes und Bleibendes auf den Weg gebracht (BMBF 2017).“

Die euphemistische Umschreibung von Armut und systemischer Benachteiligung („Kinder, die es nicht leicht haben in ihrem Leben“ statt: Familien, die von der Gesellschaft ökonomisch und sozial ausgegrenzt werden), die Problembewusstsein und Engagement verspricht, täuscht nur auf den ersten Blick darüber hinweg, was hier impliziert wird: Kultur als gesellschaftlicher Reparaturbetrieb, der in einem nicht näher definierten Automatismus Aufklärung und Emanzipation (und damit Bildung) herstellt und damit den bildungsfernen Kindern und Jugendlichen ebenso automatisch Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung beschert. Kultur macht stark, wenn und weil sie Bildung ist: Das stillschweigende Voraussetzen dieser Einheit ist Kern der Programmatik. Mit dieser Annahme ist das Ministerium nicht allein, sondern folgt einem breiten Konsens: Das Postulat einer Einheit von Kultur und Bildung gehört zum Selbstverständnis der ansonsten durchaus diversen Kulturinstitutionen und der Kulturpolitik und liegt den meisten Programmen wie z. B. auch dem JeKi-Programm, zugrunde, wie etwa auf der Website „JeKi in MV“  zu lesen ist: „Und ein guter Weg, um Menschen zu bilden, ist das Musizieren.“ (JeKi – Musik ist Klasse 2010)

Zwar wird in der Regel nicht ausgeführt, wie genau dieser Transfer von Kultur bzw. hier Musik zur Bildung vonstattengeht, doch die Erfolgsgeschichte der Kulturellen Bildung in den letzten Jahrzehnten ist ohne diese Annahme kaum denkbar. Mehr noch: Die Kopplung von Kultur an die gesellschaftlich meist als relevanter aufgefasste Bildung ist, gerade vor dem Hintergrund ökonomischer Verteilungskämpfe, zu einer wichtigen Legitimations- und Marketingformel geworden: Wenn Kultur gleich Bildung ist, verbieten sich Fragen nach der Notwendigkeit von Orchestern, Musikschulen, Theatern etc. Neben der Begründung dieser begrifflichen Äquivalenzsetzung fehlt außerdem eine Reflexion darüber, welche Formen von Kultur und welche Art von Bildung eigentlich gemeint sind. Auch bleibt offen, was genau unter Stärke verstanden wird – der breitbeinige Cowboy-Gang nach dem Schauen eines Western wird wahrscheinlich ebenso wenig gemeint sein wie die großspurige Attitude eines Gangsta-Rappers.

Die Kopplung Kultur = Bildung erscheint jedoch nicht nur unreflektiert und letztlich unbegründet, sie verschleiert auch, dass gerade über und in der Kultur normative und hegemoniale Prozesse wirken, dass mit Kultur eben nicht nur Emanzipations- und Aufklärungs-, sondern auch Exklusionsvorgänge verbunden sind. Der Kampf um die gesellschaftlich-sittliche Deutungsmacht in Form des Schmutz- und Schundkampfs ist, wie Kaspar Maase gezeigt hat, dafür ebenso ein Beispiel wie die Auseinandersetzungen um Rock’n’Roll (Maase 1992:2012). Ausgerechnet in der Kulturellen Bildung scheint vielen verantwortlichen Akteuren der von Böhme gleichermaßen vorausgesetzte wie geforderte reflexive kulturwissenschaftliche Blick zu fehlen, der solche hegemonialen Kämpfe wahrnimmt. Die Frage, warum Menschen aus den sogenannten bildungsfernen Milieus auch dann nicht ins Theater, ins Konzert oder ins Museum gehen, wenn dies erschwinglich oder sogar kostenlos ist (vgl. hierzu Renz 2015 und 2016 sowie Mandel 2016), lässt sich ohne einen reflexiv-kritischen Blick auf die Kulturinstitutionen und ihre hegemonialen Strukturen kaum beantworten. Die Barrieren liegen nicht im ökonomischen, sondern im kulturellen Kapital: Noch immer signalisiert die Repräsentations- und Herrschaftsarchitektur vieler Institutionen, sagt der Habitus derer, die drin sind, ja, sagt selbst die Art der Einladung oft genug: Nicht für Dich.

Das programmatisch formulierte Ziel, mehr Menschen, gerade junge Leute, für Kultur zu interessieren und zu begeistern, blendet außerdem aus, dass viele dieser Menschen bereits von Kultur begeistert sind. Nur eben nicht von klassischer Musik, von zeitgenössischer Kunst oder von Theater. Stattdessen sind sie vielleicht begeisterte Serienschauer*innen, passionierte Hip Hop-Expert*innen und versierte Gamer*innen. Als solche muss man sie wohl kaum erst für Kultur gewinnen, denn sie sind bereits intensive Kulturnutzer*innen. Es sei denn, und hier liegt die ebenso falsche wie perfide implizite Setzung, der zugrunde gelegte Kulturbegriff ist beschränkt auf institutionell verankerte und kanonisch legitimierte Hochkultur und schließt Alltagskultur und Populäre Kultur aus. Dann nämlich macht ein tradierter und dabei unreflektierter Kulturbegriff aus einem Experten für Techno oder aus einem Schlagerfan einen bildungsfernen Problemfall. Warum aber eine Fanverehrung für Anna Netrebko automatisch gebildeter sein soll als die für Helene Fischer, bleibt offen. Die automatisierte Kopplung der Kultur an Bildung zementiert also geradezu die soziale Ausgrenzung, die die Kulturelle Bildung eigentlich zu bekämpfen glaubt.

Als Idee und Konzept wird Bildung nicht nur auf das Subjekt, sondern auch auf Gesellschaft bezogen und findet damit in einem Rahmen statt, der durch die gesellschaftlichen Machtstrukturen diskursiv und strukturell geprägt ist. Bildung hat daher notwendigerweise eine normative Komponente. Die Verknüpfung von Bildung und Kultur führt dazu, dass dieser normative Anspruch an den Bildungsbegriff auf den Kulturbegriff übertragen wird – mit unerwünschten Nebenfolgen:

Erstens: In der Normierung von Kultur als Bildung liegt ein Machtgefälle begründet, das nicht offengelegt wird. Der Begriff der kulturellen Alphabetisierung macht das ebenso deutlich wie der der ästhetischen Erziehung: Da gibt es – so ist das im Alphabet –richtige bzw. falsche Ästhetik, guten oder schlechten Geschmack, wichtiges und unwichtiges kulturelles Wissen. Zweitens wird das normative Entwicklungsziel Bildung – über dessen Erreichen ein entsprechendes Bildungszertifikat wie etwa ein Schulabschluss nur teilweise befindet – mit einem vermeintlich hohen Anspruch von Kunst kurzgeschlossen. Weil die Erfüllung dieses Anspruchs traditionell der (bürgerlichen) Hochkultur auf der einen und der künstlerischen Avantgarde auf der anderen Seite zugesprochen wird, sind es bis heute vor allem kanonisierte Werke der E-Kultur, die als bildungsrelevant anerkannt werden –nicht nur im Sinne eines kulturellen Bildungskanons, sondern auch im Sinne von Aufklärung und Subjektbildung. Drittens erhält Kultur durch diese Kopplung an Bildung eine erzieherische, ja disziplinierende Qualität, in der sich die Vision einer Verbesserung des Subjekts mit der protestantischen Ethik verbindet: Affektive Überwältigung und sinnliche Freude, die häufig gerade den populäre Formen zugesprochen werden, gelten tendenziell als suspekt(vgl. Hornberger 2017). Nutzloser, verschwenderischer Spaß ist nur Unterhaltung, erst die „Freude am Erlernten“ (vgl. das Statement von Wanka auf der Homepage von „Kultur macht stark“) erscheint als Bildung.

Es zeigt sich, dass im Bereich der Kulturellen Bildung die beiden zentralen Begriffe Kultur und Bildung und ihre normative Kraft nicht immer ausreichend reflektiert und diskursiviert werden, auch die eigene Rolle in der Konzeption und Vermittlung dieser Normen wird zu selten problematisiert. Darüber, was bildende Kultur und was nur Spaß ist, wird in einem hegemonialen Diskurs entschieden, an dem die Mehrzahl der Rezipient*innen nicht beteiligt ist, schon gar nicht diejenigen, die von den mächtigeren Sprechern als bildungsfern oder bildungsbenachteiligt bezeichnet und damit sozial abgewertet werden. Die verschiedenen Institutionen der formalen und non-formalen Bildung und ihre Vertreter*innen hingegen sind daran beteiligt, und viel zu oft bestätigen und perpetuieren sie, oft ohne dies zu bemerken, tradierte Wertungsunterschiede. Zum Beispiel, indem von Künsten gesprochen wird, wenn Kultur gemeint ist und indem Medienrezeption nicht als Wahrnehmen eines kulturellen Angebots definiert ist. Weil Kultur identitätsstiftend wirkt, ist mit solchen Bewertungen von Kultur auch die Frage individueller und gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Nutzer*innen verbunden und damit auch die Frage von Macht.

Musik-Kultur-Pädagogik

Eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Musikpädagogik kann – um nicht zu sagen: sollte – bezüglich ihres Gegenstands, aber auch bezüglich ihrer eigenen Position in der Kultur reflexiv agieren. Erst durch diese doppelt gedachte Reflexivität nach innen und nach außen kann sie auf eine sich ständig verändernde Musikkultur reagieren und sich selbst als Teil dieser Kultur wahrnehmen. Dafür benötigen Musikpädagog*innen auf der einen Seite einen breiten Begriff von Musik, nicht nur was die Genres, sondern auch was ihre Einbettung in Medien, Inszenierungen, Alltagspraxen betrifft. Denn Musik, ob die des 17. oder die des 21. Jahrhunderts, ist mehrfach auf Welt bezogen: Sowohl der Kontext der Produktion als auch der der – historischen oder aktuellen – Rezeption ist durchzogen von gesellschaftlichen und geschichtlichen Strukturen und Wirkungen. Wenn Bildung etwas mit aktuellen Weltverhältnissen zu tun haben soll, dann ist es zwingend, Musik, wenn sie im Kontext Bildung verortet wird, als auf diese Welt bezogen zu verstehen. Dafür braucht die Musikpädagogik Kenntnisse über Ökonomien und Politiken, Kulturen und Praxen der Vergangenheit und - insbesondere - der Gegenwart. Denn dann muss sie mehr vermitteln als Noten, kanonische Werke und instrumentale Fähigkeiten, sie muss kulturpädagogisch-interdisziplinär auch die Bezugsfelder und Kontexte der Musik als gleichwertige Faktoren begreifen. Auf der anderen Seite ist eine kulturwissenschaftlich geprägte Musikpädagogik in der Lage, ihre eigene hegemoniale Position im Diskurs zu reflektieren und gerade darum wahrzunehmen und anzuerkennen, welchen kulturellen Background, welche Wissensbestände, welche Kennerschaften und Kompetenzen diejenigen mitbringen, die häufig leichtfertig als bildungsfern oder als Nicht-Kulturnutzer bezeichnet und zugleich als defizitär abgewertet werden. Eine Musik-Kultur-Pädagogik ist – folgt man der Argumentation Böhmes, dass Kulturwissenschaft notwendigerweise eine selbstreflexive Haltung voraussetze(vgl. Böhme 2001:2) – keine Stellvertreterin eines hegemonialen Kulturbegriffs, der die exkludiert, die er eigentlich ermächtigen will. Zu einer solchen Haltung gehört auch der Verzicht auf ein gewisses Maß an disziplinärer Selbstsicherheit und die Fähigkeit und Bereitschaft, sich zur Disposition zu stellen, sich von einer Position des Wissens auf eine des Fragens und Suchens zu begeben – mit der Chance, durch mehr und andere Perspektiven, in einer gemeinsamen Suche, den eigenen Gegenstand neu zu entdecken.

Musik ist, mehr als die meisten anderen Künste, in unserem täglichen Leben präsent und zeigt sich darin als facettenreiches und komplexes kulturelles Phänomen: Musik kann Selbstausdruck sein und Geräuschtapete, Alltagskultur und Hochamt der Kunst, Schulfach und Freizeitspaß, Gotteslob und Spiel mit dem Bösen, Quelle des subjektiven Vergnügens und des nachbarschaftlichen Rechtstreits. So wie die Funktionen und Erscheinungsformen unterscheiden sich auch die Perspektiven, die zudem jeweils eigene Bewertungskategorien mit sich bringen: Musik lässt sich beispielsweise aus handwerklicher Sicht betrachten, dann treten Fragen nach Virtuosität, Intonation und rhythmischer Präzision in den Vordergrund. Diese Perspektive ist im Instrumentalunterricht, der vor allem eine Ausbildung am Instrument ist, traditionell sehr präsent: Ziel ist, besser zu spielen oder zu singen. Etwas anders gelagert ist die Perspektive der Ästhetik, mit der weniger nach den technischen Fertigkeiten und mehr nach dem Gesamteindruck gefragt wird. Dabei spielen sowohl ästhetische Traditionen – etwa die Vorstellung eines schönen Tons – als auch Genre-Konventionen – nicht zufällig gibt es den Begriff der Jazz Police – sowie persönlicher Geschmack eine Rolle. Über Ästhetik lässt sich darum lange und im Zweifel auch ergebnislos streiten. Eine weitere Perspektive fragt nach der Bedeutung und Funktion von Musik. Sie kann die Fragen nach Handwerklichkeit und Ästhetik ergänzen, überblenden oder sogar ausblenden, weil sie sich, anders als die beiden ersten, auf Musik als Kultur und damit in letzter Konsequenz immer auf Gesellschaft bezieht. Diese Perspektive ist vor allem im Bereich der populären Musik sehr präsent, weil hier die Fragen nach Handwerklichkeit und Ästhetik häufig den tradierten Normen widersprechen und stattdessen Funktionalität – z.B. Tanzbarkeit – und Diskursivität – z.B. in Formen des Protests und der Abweichung durch Musik- und Lebensstile – zentral werden.

Musik als Kultur wahrzunehmen, erfordert daher einen Blick, der sowohl Musik in ihrer Eigenart als auch Musik als eine Kultur unter vielen sieht bzw. der, wie Simon Frith es bereits 1992 fordert, soziologische Zugänge mit ästhetischer Theorie verbindet (Frith 1992). Es ist daher naheliegend, auf eine Disziplin zurückzugreifen, die zunächst weniger eine eigene Disziplin als eine transdisziplinäre Perspektive darstellt: die Kulturwissenschaft. Sie hat es in Forschungsanträgen, Stellenausschreibungen und Tagungskonzeptionen in den letzten 10 bis 15 Jahren zu einiger Prominenz gebracht, mit ihr scheint eine zeitgemäße und progressive Ausrichtung garantiert. Allerdings bleibt im konkreten Fall oft unklar, was mit kulturwissenschaftlich gemeint ist. Das Problem beginnt bereits mit dem Numerus: Kulturwissenschaft oder Kulturwissenschaften? Damit verbunden ist die Frage nach einem disziplinären Kern und ausfransenden Rändern, nach Einheit oder Vielfalt, die sich durchaus unterschiedlich beantworten lässt. Zudem finden sich unterschiedliche nationale und lokale Ausprägungen: Im deutschsprachigen Raum reichen Kulturwissenschaft und -schaften von philosophischer Theorie bis zu ethnologischer Feldforschung, vom Erforschen kanonisierter Texte bis zum künstlerischen Experiment, je nach Standort und Tradition. Aus dem internationalen Wissenschaftsraum kommen insbesondere die britischen und amerikanischen Cultural Studies und der französische Poststrukturalismus hinzu. Die Kulturwissenschaft/en stehen aufgrund dieser Komplexität häufig im Verdacht, nur ein schickes Label für ein buntes, aber letztlich oberflächliches Sammelsurium verschiedener Einzeltheorien und -methoden zu sein. Kulturwissenschaftler*innen, so ein gelegentlich zu hörender Vorwurf, könnten zwar vieles, aber eben nichts richtig.

Dieser Eindruck lässt sich aus der Sicherheit einer Disziplin mit Tradition heraus – und als solche lassen sich sowohl Musikwissenschaft als auch Musikpädagogik beschreiben – durchaus nachvollziehen. Wer sich mehr oder weniger gleichzeitig mit Theaterwissenschaft, Medienwissenschaft, Musikwissenschaft, Cultural Studies, Soziologie, Philosophie etc. befasst, wird in jedem einzelnen Bereich weniger gelesen haben als die Spezialist*innen, wird in selektiver Wahrnehmung ganze Diskursstränge ignorieren, wird zusammenfügen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört und damit Ordnungen durcheinander und orthodoxe Vertreter diverser Disziplinen zur Verzweiflung bringen. Universaldilettantismus ist in diesem Zusammenhang selten ein positiv gemeintes Etikett – die Betonung liegt auf dem Dilettantismus. Die Forderung nach kulturwissenschaftlicher Ausrichtung kann vor diesem Hintergrund durchaus als Bedrohung disziplinärer Seriosität wahrgenommen werden. Die Zeit der Universalgelehrten ist überdies lange vorbei. Wer sich für vieles interessiert und sich breiter aufstellt, muss notwendigerweise Abstriche an anderer Stelle machen. Andererseits ist die Sicherheit, die eine abgrenzbare Disziplin verheißt, aus diversen Gründen ebenfalls erschüttert. Selbst in einem Fach lässt sich längst nicht mehr alles Neue und Wichtige rezipieren, die Spezialisierung der Spezialisten ist akademische Normalität. Dem gegenüber verspricht die Kulturwissenschaft den Horizont zu weiten, größere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und die Einzelphänomene stärker in ihrem Kontext und in ihrer Verbindung wahrzunehmen. Dafür muss freilich die Deutungshoheit über das, was die Kultur ist, aufgegeben werden. Denn egal, ob Kulturwissenschaft als Einzeldisziplin oder Kulturwissenschaften als Ensemblebegriff, – ihre Spezialisierung liegt in der „Perspektive, die für die Beobachtung von ‚Kulturen‘ im Plural entwickelt wird“ (Böhme 2001:7). Die Kulturwissenschaften haben „keine eigene Gestalt, weil sie eng mit den je spezifischen historischen und sozio-kulturellen Bedingungen verwoben sind, aus denen sie hervorgingen“ (Assmann 2004:4). Sind sie zunächst eine Reaktion auf eine Krise der Geisteswissenschaften, werden sie zugleich zu deren Modernisierung. Kulturen – der Wechsel zum Plural ist paradigmatisch – werden nun konzipiert als „symbolische Reproduktionssysteme […], die die Aufgabe haben, in einer Welt von Wandel, Kontingenz und Flüchtigkeit wiedererkennbare Gestalten auszubilden und gleichzeitig elastisch auf Wandel zu reagieren.“ (Assmann 2004:13) Dieser plurale und diverse Begriff von Kulturen und Kulturwissenschaften integriert die verschiedenen ehemaligen Kunst- und Geisteswissenschaften, löst sie aber nicht auf. Deren Stärken lassen sich vielmehr ohne weiteres zusammendenken mit einer Kerndisziplin Kulturwissenschaft, die den kulturtheoretischen Diskurs führt und vorantreibt. Im besten Fall ist kulturwissenschaftliche Forschung dann sowohl Arbeit an den Schnittstellen, den Überlappungen, den disziplinären Lücken und Sollbruchstellen als auch an der Frage, welche Bedeutung und Funktion Kultur für Individuen und Gesellschaft generell hat.

 

Tradition versus Cultural Turn

Wenn man nach dem Verhältnis von Musikpädagogik und Kulturwissenschaft fragt, ist es naheliegend, zunächst einmal auf die Musikwissenschaft zu blicken. Welchen Rahmen bieten deren Konzepte und Diskurse zu und über Musik, welche Traditionen und Impulse gehen von ihr aus? Da es sich bei Musik ohne Zweifel um Kultur handelt, ist auch die Musikwissenschaft – hier verstanden als Übergriff für methodisch und inhaltlich durchaus sehr vielfältige Musikwissenschaften – eine Disziplin, die sich mit Kultur beschäftigt. Dies bedeutet allerdings noch nicht, dass sie sich auch als Kulturwissenschaft begreift. Tatsächlich hat sie später und verhaltener als andere Geisteswissenschaften auf den Cultural turn und die damit einhergehenden weiteren turns reagiert. Die Literaturwissenschaft etwa hat sich nach dem „Tod des Autors“ (Barthes 1967/2000) neu aufgestellt, von der Autorität des schöpferischen Schriftstellers Abschied genommen und die Idee von Text und Literatur neu konzeptioniert. Die Theaterwissenschaft, selbst ein wissenschaftliches Gegenmodell zum Primat des Dramas (Fischer-Lichte 2005), hat das Postdramatische in den Blick genommen (Lehmann 1999), womit das Sprechtheater seine Funktion als Regelfall verlor und Autorschaft auch im Theater neu – häufig kollektiv – gedacht wurde. Der Blick richtete sich nicht mehr auf ein Werk, sondern auf das Performative und Diskursive. In beiden Fällen wurde die Seite der Rezeption nicht mehr nur als Empfänger, sondern als Mit-Produzent wichtiger. In der traditionellen Musikwissenschaft hingegen hielt sich das Primat des Werks, in der Regel vorliegend in Form des Notentexts, deutlich stabiler, genauso wie die Priorisierung eines historischen Kanons abendländischer Kunstmusik, der häufig an Vorstellungen von Zweckfreiheit, Autonomie, Virtuosität oder Authentizität gekoppelt war. Insbesondere die im 19. Jahrhundert favorisierte Idee von Musik als von einer von allen Zwecken befreiten Kunst hat dazu geführt, dass ihr Gebrauch, ihre sozialen Funktionen und ihrer Ökonomien in der wissenschaftlichen und pädagogischen Beschäftigung mit Musik marginalisiert wurden und werkimmanente Fragen im Zentrum standen. So wurde Musik einerseits enorme Bedeutung als Bildung in Form einer Veredelung des menschlichen Charakters zugesprochen und andererseits die gesellschaftliche Dimension dieses Bildungsvorgangs weitgehend ignoriert (vgl. dazu auch Schläbitz 2016). Begünstigt durch die Spezialcodierung der Notation war Musik als Kunst und als Wissenschaft zudem stets vor einem Zugriff durch Fachfremde geschützt, was transdisziplinäre Einflussnahmen erschwerte und die Selbstverständigungsprozesse innerhalb der Disziplin homogenisierte. Eine Durchsetzung eines weiten, kulturwissenschaftlich geprägten Textbegriffs bedeutet für die Musikwissenschaft zwar nicht die Aufgabe, aber die Relativierung dieser verbindlichen Größe Noten, weil an die Stelle von Musik in Form eines fixierten und streng reglementierten Zeichengefüges ein „lockerer Zusammenhang unterschiedlicher symbolischer Codes“ (Assmann, 2004:19) tritt, der Musik nicht mehr als notiertes Werk, sondern als breites kulturelles Feld konfiguriert – das im Zweifel auch unter Umgehung der Zugangshürde Notensystem erforscht werden kann, z. B. über eine ethnografische Feldstudie zu Fankulturen.

Interessanterweise hat die Technik der Notation in Teilen der musikalischen Praxis erheblich an Wert verloren, ganz besonders, seit es breit verfügbare auditive Aufzeichnungsmedien gibt. In den Writers Camps der Musikindustrie jedenfalls wird höchstens noch der Songtext notiert, die Komposition hingegen wird direkt in das Aufnahmegerät (Smartphone, Computer) eingesungen und eingespielt. Notieren dauert schlicht zu lange, in der direkten Einspielung lassen sich außerdem die interpretatorischen Parameter viel präziser festhalten. Die Übersetzung eines klanglichen Geschehens in Noten ist für populäre Musikformen oft nicht mehr zeitgemäß und wird so als das sichtbar, was sie naturgemäß immer schon war: eine keineswegs verlustarme Form der Archivierung von Musik in Form eines Codes, der, anders als das Alphabet, sich immer nur für wenige naturalisiert hat – und sich für bestimmte Musikpraxen sowieso als wenig hilfreich oder überflüssig erweist, weil etwa auf der Grundlage bekannter Schemata improvisiert wird oder die Produktion von Musik, das Wissen über Musik und die Weitergabe dieses Wissens eine Praxis der oral culture ist. Auch die Aufführungs- bzw. Herstellungspraxen elektronischer Tanzmusik – insbesondere das DJing – sind durch Notation nicht erfassbar.

Zwar etwas verspätet, hat die kulturwissenschaftliche „Grenzerweiterung“ (Böhme 2000:358) die Musikwissenschaft durchaus verändert. Die damit verbundene „Entprivilegierung der sogenannten hohen Kultur“ (Böhme 2000:358) fällt zwar in der Musik weniger radikal aus als in anderen Disziplinen, dennoch haben die Erforschung populärer Musik und die interkulturelle Musikforschung, und damit auch andere Zugänge und Perspektiven, deutlich an Einfluss gewonnen. In diesen Feldern sind Einflüsse der Cultural Studies, der Gender Studies, der Postcolonial Studies oder des Poststrukturalismus deutlicher sichtbar als im etablierten Kernbereich der E-Musik. Eine stärkere kulturwissenschaftliche Öffnung bietet jedoch viele Möglichkeiten für die Erkundung jeder Form von Musik. Dies betrifft z. B. die Erweiterung des Quellenkorpus (analog etwa zum New Historicism, vgl. Greenblatt und Cackett 1990), auch und gerade durch nicht explizit musikbezogenes Material; neben Bild- und Wortquellen sind das auch religiöse, ethnische wie soziale Rituale, Lebensstile, habituelle Muster des Agierens, Objekte materieller Kultur etc. Sie alle ergeben als gleichberechtigte Quellen „erst den konstruktiven Rahmen und die Erzeugungsweisen einer Kultur“ (Böhme 2001:10) – die in diesem Fall einen musikalischen Ausdruck findet. Die Musik wird so nicht mehr nur im begründeten Sonderfall (der in der Regel dann ausgerufen wird, wenn der musiktheoretische oder musikhistorische Zugang keine befriedigenden Ergebnisse liefert), sondern grundsätzlich als vernetzter Teil eines Gesamtgefüges wahrgenommen, der letztlich nur interdisziplinär beschrieben und analysiert werden kann. Diese Interdisziplinarität bleibt aber, wie Böhme schreibt, „an entwickelte Disziplinarität gebunden, weil sie sonst ohne spezifisches Gegenstandsfeld und ohne charakteristische Fragestellungen oder nur als Diskurs-Moderator und Lückenfüller an den Rändern der etablierten Fächer operiert“ (Böhme 2001:9). Es geht also nicht um ein Entweder-Oder, Kulturwissenschaft und Musikwissenschaft stehen nicht neben- und schon gar nicht in Opposition zueinander.

 

Musikpädagogik

Musikpädagogik ist auf die Fachkultur der Musikwissenschaft und ihr Selbstverständnis bezogen. Zugleich hat sie auf diese ihrerseits immer wieder Einfluss genommen, wie etwa durch die Öffnung zur populären Musik seit den 1960er- und 1970er-Jahren. Diese Öffnung folgte dem Bedürfnis einer jungen, mit populärer Musik sozialisierten Generation von Musikpädagog*innen sowie dem der Adressat*innen und veränderte über die Jahre auch die Haltung der Musikwissenschaft. Will die Musikpädagogik der Gegenwart erneut auf eine veränderte musikalische Alltagswelt reagieren, muss sie vor allem zur Kenntnis nehmen, das Musik immer seltener pur, sondern als Teil eines Zusammenhangs – etwa von Film, Werbung oder Computerspielen – in Erscheinung tritt. Durch die technologische Entwicklung ist Musik auf der einen Seite ständig und nahezu überall verfügbar, auf dem Smartphone, im Streamingdienst etc. Sie lässt sich so mit verschiedenen Handlungen und Alltagspraxen verbinden, die auf Musik bezogen sein können, aber nicht müssen. Hier ist Musik vor allem Begleitung: beim Sport, bei der Arbeit, beim Einkaufen. Musik war vermutlich noch nie so allgegenwärtig und so wenig ideologisch aufgeladen. Auf der anderen Seite hat Musik nicht nur – durch Filesharing, durch verlustfreies Kopieren, durch Streamingdienste, also durch diverse Digitalisierungseffekte - an ökonomischem Wert verloren, sondern ihren exklusiven Platz innerhalb der Jugend- und Subkulturen eingebüßt. Prozesse von Identitätsstiftungen, Selbstverständigung und Vergemeinschaftung finden heute nicht mehr nur über populäre Musik, sondern mindestens genauso über TV-Serien oder Games statt.

Dass sie im Kontext bzw. als Teil von etwas auftritt, nimmt der Musik nicht ihre Bedeutung. Diese allerdings wird nicht (mehr) an sich, nur auf der Ebene der Musik selbst, produziert und wahrgenommen, sondern im Zusammenspiel von verschiedenen Ebenen der Artefakte, als Ergebnis eines kommunikativen Prozesses, der die Musik, ihren Kontext, die Hörer und den Diskurs um Musik einschließt. Wenn Musikpädagogik an Musik als Bedeutungsträger festhalten und als Teil von Bildung über eine rein handwerkliche Ausbildung hinaus Relevanz entfalten will, muss sie auf die veränderte musikalische Alltagswelt reagieren und dafür ihre Aufmerksamkeit „verstärkt auf Materialität, Medialität und Tätigkeitsformen des Kulturellen“ richten. Denn dadurch lässt sich nach Bachmann-Medick, „genauer […] erkennen, wie und in welchen Prozessen und kulturspezifischen Ausprägungen Geistiges und Kulturelles in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt produziert werden“ (Bachmann-Medick 2006:9). Weil Musik immer häufiger im Kontext anderer Medien und Praxen erscheint, kann sie auch nur im Rahmen ihrer Kontextualisierung verstanden und vermittelt werden. Das kann in bestimmten Fällen auch bedeuten, dass Musik gar nicht mehr als Musik (verstanden als klangliches Geschehen), sondern als Funktion (etwa der Unterhaltung) verstanden werden muss, um ihre Attraktivität und ihre Wirkung wirklich zu erfassen.

 

Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Musik –  Zwei Beispiele

Ein Beispiel dafür sind die diversen Musikcastingshows. Sie sind ebenso erfolgreich wie umstritten und ohne Zweifel eines der wenigen verbliebenen TV-Formate, in denen Musik von einem breiten Publikum massenmedial gemeinsam rezipiert wird – und schon aus diesem Grund für die Musikpädagogik relevant. Mit einiger Wahrscheinlichkeit haben zahlreiche Jugendliche, die Gesangsunterricht nehmen, die Kandidat*innen, ihre Songs und Auftritte, vor ihrem inneren Auge. Dem großen Erfolg der Sendungen wird allerdings häufig die Kritik an der Qualität der dargebotenen Musik entgegengehalten. Paul Potts gilt den meisten Klassikfans nicht als konkurrenzfähiger Opernsänger, Daniel Küblböck hielten die meisten für eine Zumutung und Witzfigur, und überhaupt belege, so eine häufig geäußerte Meinung, die Kurzlebigkeit des Erfolgs bei den sogenannten Stars eindeutig, dass sie gar nichts können. Nun mag das aus gesangspädagogischer Perspektive in einigen Fällen zutreffen – nur ändert dies nichts am Erfolg der Sendungen. Aus einer traditionell-konservativen und/oder kulturkritischen Perspektive lässt sich dann nur die Diagnose stellen, dass das Publikum über kein ausreichendes Qualitätsbewusstsein verfügt, sich darum nahezu alles bieten lässt und so in die Fänge der Kulturindustrie gerät –„[n]icht nur fallen die Menschen, wie man so sagt, auf Schwindel herein, wenn er ihnen sei’s noch so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen; sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird“ (Adorno 1967; ed. 2008:206). Mit einer solch kulturkritischen Perspektive ist nicht nur das ästhetische Urteil, sondern gewissermaßen auch (musik-)pädagogisches Handeln bereits disponiert: Über die Frage der Qualität wird nicht vom Publikum, sondern von Expert*innen entschieden. Alle anderen müssen sich, um in ihrem Urteil ernstgenommen zu werden, zu dieser Expertise erst hin entwickeln – was in den meisten Fällen auch mit einer Anpassung an den Kanon und den Expertenhabitus verbunden sein dürfte. Die Frage nach dem kulturellen, ästhetischen, narrativen und sozialen Reiz der Sendungen wird auf diese Weise nicht gestellt und demzufolge auch nicht beantwortet.

Wenn man auf eine Priorisierung der Musik als zentraler Kategorie verzichtet und stattdessen Castingshows kulturwissenschaftlich als mediales Artefakt betrachtet, entsteht ein anderes Bild. Denn Castingshows als TV-Unterhaltungsformate fallen in die Zuständigkeit der Medien- oder Fernsehwissenschaft und nicht der Musikwissenschaft. So lassen sich etwa unter Bezug auf Müller und Goffman Musikcastingshows analog zu anderen TV-Shows als ein Spiel mit Rahmungen beschreiben (vgl. Müller 1999). Rahmungen stellen laut Goffman (1980) Erfahrungsschemata dar, die dazu beitragen, Situationen als sinnhaft wahrzunehmen. Auch in medial geschaffenen Situationen beziehen sich sowohl die Produzenten und Akteure der Sendung als auch das Publikum auf solche Rahmen – um den Kommunikationsprozess zu strukturieren und zu interpretieren. Im Fall von Musikcastingshows bildet den ersten Rahmen die Show. Der zweite Rahmen ist der Wettbewerb, der innerhalb der Show stattfindet. Den dritten Rahmen bilden die narrativen Teile, in denen Kandidat*innen jenseits ihrer Bühnenauftritte gezeigt werden. Jede der Rahmungen ist in der Lage, Wirklichkeit zu konstruieren und dabei die anderen in der Wahrnehmung jeweils zu überlagern. Die Kandidat*innen müssen in allen drei Rahmen überzeugen, um im Spiel zu bleiben und am Ende zu gewinnen. Ihre musikalisch-sängerischen Fähigkeiten spielen nur in einem der Rahmen, nämlich im Wettbewerb, eine Rolle. Weil es sich hier um eine Unterhaltungssendung handelt, werden sie – ebenso wie alle anderen Beteiligten –  daran gemessen, ob sie zur Unterhaltung beitragen, also ihre Funktion im Spiel erfüllen: Die Jury muss bewerten; die Kandidat*innen müssen, sonst funktioniert das Spiel nicht, den Wettbewerb ernsthaft betreiben. Darüber hinausgehend liegt eine weitere Darstellungsaufgabe im Hervorbringen eines medialen Selbst, im performativen Entwickeln einer Medienfigur. Die Teilnehmenden müssen sich im Singen zeigen, aber auch im Scheitern, im Siegen, in der Konkurrenzsituation. Erst wenn beides stimmig ineinanderpasst, gelingt die Unterhaltung, die das Show-Format verspricht und die folglich vom Publikum bewertet wird (vgl. Hornberger 2017). Entscheidend ist darum nicht, wie jemand singt, sondern welche Erzählung dabei entsteht. So hat beispielsweise Daniel Küblböck die mediale Darstellungsaufgabe besser als andere gelöst, auch wenn er gesanglich nicht überzeugte, und damit nicht nur dem Format Show entsprochen, sondern auch eine wichtige Komponente von Stardom gezeigt.

Wenn Zuschauer*innen also weniger die musikalische Qualität als den medialen Auftritt wahrnehmen und goutieren, wenn sie nicht über Stimmvolumen und tonale Schwächen sprechen, sondern darüber, wessen Auftritt sie gut finden, wer sie interessiert, an wem sie Anteil nehmen, dann agieren sie adäquat auf der Ebene des Formats, das sie mit ihrer biografisch erworbenen Medien- und Genrekompetenz erkennen. Eine Kritik, die sich auf die Qualität der Musik bezieht, läuft somit ins Leere. Die Musik in Castingshows ist vollständig eingebunden in ihren inszenatorischen Kontext, in die Funktionsweisen von Medien, Genres und Unterhaltung: Sie ist Motor des Wettbewerbs – insofern ist sie nicht verzichtbar, sondern essentiell – und zugleich ist sie nur ein vergleichsweise kleiner Teil eines Gesamtgefüges, das als Ganzes vom Publikum beurteilt wird. Die Castingshow ist also ein Beispiel für Formen alltäglicher Musikrezeption, die nur kulturwissenschaftlich verstanden werden können, weil sie an den Schnittstellen der Disziplinen angesiedelt sind.

Im musikpädagogischen Kontext spielen Musikcastingshows als Teil des medialen und musikalischen Alltags eine wichtige Rolle. Dazu tragen, gerade für Jugendliche, auch die Aneignungsprozesse in der sozialen Umgebung bei. Hier wird kultureller Geschmack als sozialer Wert und als Identitätsfaktor immer wieder neu verhandelt. Wer hier mit rein musikalischen, vielleicht sogar geschmacklichen Wertungen operiert, die die Show und ihre Rezeption entwerten oder sogar angreifen, zeigt sich nicht nur als wenig medienkompetentes Gegenüber, sondern läuft außerdem Gefahr, auch in seiner musikalisch-pädagogischen Rolle an Anerkennung und Status zu verlieren.

Dass sich populäre Musik nur transdisziplinär und nahezu immer in medialen Zusammenhängen verstehen lässt, hat sich als Erkenntnis inzwischen weitgehend durchgesetzt, ebenso wie das Wissen um ihre verschiedenen sozialen Funktionen, sowohl für Individuen als auch für Gruppen und die Gesellschaft. Für den Bereich der E-Musik gilt dies jedoch nicht. Hier ist die Fokussierung auf ein wie auch immer jeweils zu definierendes Werk und seine immanente Struktur noch deutlich präsenter – weniger in der Forschung, aber doch in der musikpädagogischen Praxis. Mit einer kulturwissenschaftlichen und damit breiteren Perspektive lässt sich jedoch auch im Bereich der sogenannten klassischen Musik als Teil eines kulturellen Diskurses und kommunikativer sozialer Prozesse zu verstehen. Diese Perspektive mit ihren Erkenntnismöglichkeiten mag einigen nur als eine mehr oder weniger interessante Ergänzung erscheinen, für einen wesentlichen Teil der zeitgenössischen E-Musik hingegen ist sie notwendig, insbesondere in den Fällen, in denen die Komposition weniger Musik ist als einen Diskurs über Musik führt bzw. Musik als Anlass für eine Diskussion philosophischer und gesellschaftlicher Fragen nutzt.

 

Ein solcher Diskurs über Musik ist derzeit in Halberstadt zu erleben, wo das Orgelstück Organ2/ASLSP von John Cage aufgeführt wird. Derzeit bedeutet in diesem Fall: gerade jetzt, gestern, vorige Woche und vor 10 Jahren. Denn die Aufführung begann am 5. September 2001 und endet, so ist der derzeitige Stand der Planungen, im Jahr 2640. Folgt man einem theaterwissenschaftlichen Aufführungsbegriff, ist hier aber schon die Bezeichnung Aufführung in Frage zu stellen: Denn dafür ist die leibliche Kopräsenz von Ausführenden und Publikum notwendig (vgl. Fischer-Lichte 2005). In Halberstadt findet aber ein Teil der Aufführung auch ohne die leibliche Anwesenheit von Zuschauenden statt (etwa nachts) und die Töne werden auf einer speziell dafür entwickelten Orgel maschinell erzeugt. Insofern müsste man hier eher von einer Installation sprechen. Es ist also offensichtlich, dass es sich hier um etwas handelt, das aus dem Rahmen des üblichen Konzertbetriebs herausfällt. Statt einer Eintrittskarte kann man Klangjahre erwerben, es gibt keine ausführenden Musiker*innen, und niemand aus dem Publikum wird diese Darbietung des Stücks in Gänze wahrnehmen. Highlight sind die Klangwechsel. Denn dazwischen ist nichts weiter zu hören als der gerade gespielte Klang und die Eigengeräusche des Raums. Funktionsharmonisch lässt sich nichts hören, weil der Akkord kontextlos bleibt und so auf keine Ordnung und kein musikalisches System mehr verweist. Darum kann man ebenso ernsthaft wie provokativ fragen: Ist das, was da gehört werden kann, überhaupt Musik? Und ist das ein Konzert?

Ich denke, dass der Klang, den wir wahrnehmen, auditiv nicht mehr als Teil eines musikalischen Ganzen erkennbar ist. Seit ziemlich genau drei Jahren erklingt ein Akkord aus dis′, ais′ und e″, aber ohne Kenntnis der Partitur können Anwesende beim besten Willen nicht sagen, woher dieser Klang harmonisch kommt, ob er auf dem Grundton liegt oder auf der Dominante, ob die Lautstärke im Verhältnis zum Rest piano oder forte ist, ob eine Viertel oder eine halbe Note gespielt wird und ob diese betont oder unbetont ist. Selbst wer das Stück kennt, wird den Ton in seinem einsamen, dauernden Klang nur als Fragment und nicht als Teil eines Ganzen hören können. Man kann ihn allerdings als Teil eines Ganzen denken, vorausgesetzt, man ist bereit, die Konzeption dieses Projekts stärker zu berücksichtigen als Konvention und Notation. Mit einer musiktheoretischen Analyse lässt sich diese installative Aufführung einer zeitgenössischen Orgelkomposition nicht fassen, sie fordert eine Betrachtung, die vielmehr nach Zeitlichkeit, Raum und Performativität fragt – eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Denn was hier wahrnehmbar wird (und eben gerade nicht gehört werden kann), ist nicht Musik, sondern ein Konzept, die radikale Interpretation einer Spielanweisung, die abgekürzt auch den Titel bildet: „As SLow aS Possible“. Diese Idee wird bis in die Materialität des Instruments hinein sichtbar: Die Orgel, die eigens für dieses Projekt gebaut wird, hat bisher eben nur die Pfeifen, die gebraucht wurden. Das Projekt nimmt seinen Titel wörtlich, reizt ihn aus und muss daran notwendigerweise scheitern: Es ginge schließlich auch noch langsamer, wenn man sich etwas mehr Zeit ließe. Was hier wirksam wird, ist nicht die Raffinesse einer musikalischen Komposition, sondern die einer philosophischen Überlegung, die von ihr ausgeht: „As Slow As Possible“ ist eben potenziell unendlich, so lange jedenfalls, wie die Lebensdauer der zu bespielenden Orgel ist und so lange, wie künftige Generationen existieren und das Projekt zu Ende bringen. Es ist eine Wette auf die Zukunft, eine Ausstellung von Zeitlichkeit und eine Thematisierung des Verhältnisses von Musik und Publikum – aber nur sehr bedingt eine Aufführung von Musik. Man könnte gegen diese Argumentation natürlich einwenden, dass ein moderner Musikbegriff auch solche installativen Formen einschließt. Doch selbst dabei erweist sich eine Fokussierung auf Musik als Klang oder gar als Werk als nur wenig hilfreich. Denn selbst wenn man unter Musik nur das bewusste Anordnen von Klängen und Rhythmen in der Zeit fasst, wäre doch die Wahrnehmung der Zeit, in der diese Anordnungen stattfinden, notwendig – und im Falle des Halberstadter Cage-Projekts gerade durch die enorme Dauer nicht gegeben. Der spezifische Charakter der Halberstadter Cage-Installation, ihre Konzeption, Wirkung und Bedeutung, lassen sich mit einem herkömmlichen Verständnis von Musik nicht adäquat erfassen. Erkenntnisversprechender sind stattdessen die Diskurse um Beschleunigung (vgl. Rosa 2005) und Konzeptionen von Zeitlichkeit sowie die Performance Arts, insbesondere die Durational Performances. Auch mit Konzepten der site specific art lässt sich die Projektkonzeption viel eher erfassen, denn auch der leere Kirchenraum spielt in dieser Installation seine Rolle. Die Musik ist in Halberstadt zwar Anlass, ja sogar Zentrum des Geschehens – allerdings in einer Qualität, die sich vor allem metaphysisch und weniger auditiv vermittelt.

 

Haltung statt Disziplin

Eine kulturwissenschaftliche Perspektive versucht die Gegenstände in ihrem Kontext, als Teil von etwas oder als zusammengesetztes Gebilde zu verstehen. Dies erfordert intellektuelle und theoretische Flexibilität sowohl in der Entwicklung von Fragestellungen und Positionen, als auch in der Wahl der Methoden. Flexibilität, die, wohlgemerkt, nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. Es ist nicht gleichgültig, mit welchem Analyseinstrumentarium auf welches Material zugegriffen wird. Dass Kulturwissenschaftler*innen, siehe oben, ein breiteres disziplinäres Repertoire haben, heißt eben nicht, dass sie alles gleichermaßen können. Etwas Bescheidenheit bzw. Demut vor dem Gegenstand und die Bereitschaft einer tiefen Beschäftigung mit ihm bleibt wesentlicher Teil des Forschungsprozesses, und dies gilt umso mehr, als die Musikwissenschaft selbst bereits über eine Tradition unterschiedlicher und differenzierter Methoden verfügt. Insofern muss der Kulturwissenschaft als Disziplin, wie Böhme schreibt, ein hohes Maß an Selbstreflexivität inhärent sein: „Die Kultur ist das Objekt einer Wissenschaft, die ihrerseits ein Teil desselben ist.“ (Böhme 2001:2) Eine solche Selbstreflexivität folgt der Einsicht, dass wir permanenter Teil eines Systems sind, das wir gleichzeitig beobachten und gestalten. Darin gibt es keine objektive, externe Position.

Dies gilt für die Kulturwissenschaft, aber noch viel mehr muss es gelten für all das, was sich unter dem Begriff der Kulturellen Bildung fassen lässt – und damit auch für Musikpädagogik. In der kulturwissenschaftlichen Perspektive geraten nämlich nahezu zwangsläufig die basalen Begriffe Kultur und Bildung ins Wanken. Der Kulturbegriff selbst ist nicht mehr fixiert, sondern reflexiv und kontingent, ständigen Veränderungen und Verhandlungen unterworfen, was für die Vermittlungspraxis von Kultur erhebliche Folgen hat. Die Kulturwissenschaft und alle Formen von Kultureller Bildung schreiben an diesen Veränderungen beständig mit, allein schon durch die Art und Weise, wie sie den Begriff verwenden und was unter ihm – offensichtlich oder auch nur implizit – subsumiert wird. Weil aber im Begriff der Kultur die „vergangenen und gegenwärtigen Momente der Selbstauslegung von Gesellschaften“ (Böhme 2001:2) ebenso wie aktuelle Selbstverortungen enthalten sind, sind die „autoreflexiven Momente der Kulturwissenschaft“ immer auch eine „Form der Selbstreflexion der Gesellschaft“ (Böhme 2001:2). Wie wir Kultur denken und dabei stets auch konstruieren, berührt grundsätzliche Fragen des individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses.

Eine Reflexion der Komplexität und Kontingenz des Begriffs Kultur erscheint vor allem dann elementar, wenn er mit dem nicht weniger aufgeladenen und umkämpften Begriff der Bildung verknüpft wird – wie eben im Feld der Kulturellen Bildung. Tatsächlich aber wird gerade in dieser Kopplung die diskursive Bedingtheit beider Begriffe tendenziell ausgeblendet, sie erscheinen als eine Art natürliches Paar, in dem das eine – Kultur – den Königsweg zum anderen – Bildung – darstellt. „Kultur macht stark“ behauptet das 230 Millionen Euro Programm des BMBF https://www.bmbf.de/de/kultur-macht-stark-buendnisse-fuer-bildung-958.html. Fraglos werden aus diesem Programm zahlreiche sinnvolle und innovative Projekte finanziert. Mit geht es aber nicht um diese Projekte, sondern die programmatischen Setzungen, die auf der zentralen Website sichtbar werden. „Bündnisse für Bildung“ heißt der Untertitel, der die Ausrichtung des Programms beschreibt: Es geht dezidiert um die Kinder und Jugendlichen, die hier als bildungsfern oder bildungsbenachteiligt bezeichnet werden: „89 Prozent der Bündnisse erreichen Kinder und Jugendliche, die in prekären finanziellen oder sozialen Verhältnissen oder in bildungsfernen Elternhäusern leben. Und: In 94 Prozent sind Kinder und Jugendliche dabei, die sonst kaum Berührung mit kultureller Bildung haben“, ist in dem Dokument „Stärken entfalten durch kulturelle Bildung! Programm, Projekte, Akteure“(BMBF 2016:6) http://www.kulturmachtstark-sh.de/fileadmin/download/Infomaterialien/160411_BMBF-118_Kultur_macht_stark_BARRIEREFREI.pdf  zu lesen und die damals zuständige Ministerin Johanna Wanka verstärkt dies noch einmal:

„Wenn es uns gelingt, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen, die es nicht leicht haben in ihrem Leben, durch die Angebote kultureller Bildung etwas mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und Freude am gemeinsam Erlernten zu vermitteln, haben wir etwas sehr Gutes und Bleibendes auf den Weg gebracht.“ (Wanka, in BMBF:2017).

Die euphemistische Umschreibung von Armut und systemischer Benachteiligung („Kinder, die es nicht leicht haben in ihrem Leben“ statt: Familien, die von der Gesellschaft ökonomisch und sozial ausgegrenzt werden), die Problembewusstsein und Engagement verspricht, täuscht nur auf den ersten Blick darüber hinweg, was hier impliziert wird: Kultur als gesellschaftlicher Reparaturbetrieb, der in einem nicht näher definierten Automatismus Aufklärung und Emanzipation (und damit Bildung) herstellt und damit den bildungsfernen Kindern und Jugendlichen ebenso automatisch Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung beschert. Kultur macht stark, wenn und weil sie Bildung ist: Das stillschweigende Voraussetzen dieser Einheit ist Kern der Programmatik. Mit dieser Annahme ist das Ministerium nicht allein, sondern folgt einem breiten Konsens: Das Postulat einer Einheit von Kultur und Bildung gehört zum Selbstverständnis der ansonsten durchaus diversen Kulturinstitutionen und der Kulturpolitik und liegt den meisten Programmen wie z. B. auch dem JeKi-Programm, zugrunde, wie etwa auf der Website „JeKi in MV“

https://www.jeki-in-mv.de  zu lesen ist: „Und ein guter Weg, um Menschen zu bilden, ist das Musizieren.“ (JeKi – Musik ist Klasse 2010) Zwar wird in der Regel nicht ausgeführt, wie genau dieser Transfer von Kultur bzw. hier Musik zur Bildung vonstattengeht, doch die Erfolgsgeschichte der Kulturellen Bildung in den letzten Jahrzehnten ist ohne diese Annahme kaum denkbar. Mehr noch: Die Kopplung von Kultur an die gesellschaftlich meist als relevanter aufgefasste Bildung ist, gerade vor dem Hintergrund ökonomischer Verteilungskämpfe, zu einer wichtigen Legitimations- und Marketingformel geworden: Wenn Kultur gleich Bildung ist, verbieten sich Fragen nach der Notwendigkeit von Orchestern, Musikschulen, Theatern etc. Neben der Begründung dieser begrifflichen Äquivalenzsetzung fehlt außerdem eine Reflexion darüber, welche Formen von Kultur und welche Art von Bildung eigentlich gemeint sind. Auch bleibt offen, was genau unter Stärke verstanden wird – der breitbeinige Cowboy-Gang nach dem Schauen eines Western wird wahrscheinlich ebenso wenig gemeint sein wie die großspurige Attitude eines Gangsta-Rappers.

Die Kopplung Kultur = Bildung erscheint jedoch nicht nur unreflektiert und letztlich unbegründet, sie verschleiert auch, dass gerade über und in der Kultur normative und hegemoniale Prozesse wirken, dass mit Kultur eben nicht nur Emanzipations- und Aufklärungs-, sondern auch Exklusionsvorgänge verbunden sind. Der Kampf um die gesellschaftlich-sittliche Deutungsmacht in Form des Schmutz- und Schundkampfs ist, wie Kaspar Maase gezeigt hat, dafür ebenso ein Beispiel wie die Auseinandersetzungen um Rock’n’Roll (Maase 1992:2012). Ausgerechnet in der Kulturellen Bildung scheint vielen verantwortlichen Akteuren der von Böhme gleichermaßen vorausgesetzte wie geforderte reflexive kulturwissenschaftliche Blick zu fehlen, der solche hegemonialen Kämpfe wahrnimmt. Die Frage, warum Menschen aus den sogenannten bildungsfernen Milieus auch dann nicht ins Theater, ins Konzert oder ins Museum gehen, wenn dies erschwinglich oder sogar kostenlos ist (vgl. hierzu Renz 2015 und 2016 sowie Mandel 2016), lässt sich ohne einen reflexiv-kritischen Blick auf die Kulturinstitutionen und ihre hegemonialen Strukturen kaum beantworten. Die Barrieren liegen nicht im ökonomischen, sondern im kulturellen Kapital: Noch immer signalisiert die Repräsentations- und Herrschaftsarchitektur vieler Institutionen, sagt der Habitus derer, die drin sind, ja, sagt selbst die Art der Einladung oft genug: Nicht für Dich.

Das programmatisch formulierte Ziel, mehr Menschen, gerade junge Leute, für Kultur zu interessieren und zu begeistern, blendet außerdem aus, dass viele dieser Menschen bereits von Kultur begeistert sind. Nur eben nicht von klassischer Musik, von zeitgenössischer Kunst oder von Theater. Stattdessen sind sie vielleicht begeisterte Serienschauer*innen, passionierte Hip Hop-Expert*innen und versierte Gamer*innen. Als solche muss man sie wohl kaum erst für Kultur gewinnen, denn sie sind bereits intensive Kulturnutzer*innen. Es sei denn, und hier liegt die ebenso falsche wie perfide implizite Setzung, der zugrunde gelegte Kulturbegriff ist beschränkt auf institutionell verankerte und kanonisch legitimierte Hochkultur und schließt Alltagskultur und Populäre Kultur aus. Dann nämlich macht ein tradierter und dabei unreflektierter Kulturbegriff aus einem Experten für Techno oder aus einem Schlagerfan einen bildungsfernen Problemfall. Warum aber eine Fanverehrung für Anna Netrebko automatisch gebildeter sein soll als die für Helene Fischer, bleibt offen. Die automatisierte Kopplung der Kultur an Bildung zementiert also geradezu die soziale Ausgrenzung, die die Kulturelle Bildung eigentlich zu bekämpfen glaubt.

Als Idee und Konzept wird Bildung nicht nur auf das Subjekt, sondern auch auf Gesellschaft bezogen und findet damit in einem Rahmen statt, der durch die gesellschaftlichen Machtstrukturen diskursiv und strukturell geprägt ist. Bildung hat daher notwendigerweise eine normative Komponente. Die Verknüpfung von Bildung und Kultur führt dazu, dass dieser normative Anspruch an den Bildungsbegriff auf den Kulturbegriff übertragen wird – mit unerwünschten Nebenfolgen:

Erstens: In der Normierung von Kultur als Bildung liegt ein Machtgefälle begründet, das nicht offengelegt wird. Der Begriff der kulturellen Alphabetisierung macht das ebenso deutlich wie der der ästhetischen Erziehung: Da gibt es – so ist das im Alphabet –richtige bzw. falsche Ästhetik, guten oder schlechten Geschmack, wichtiges und unwichtiges kulturelles Wissen. Zweitens wird das normative Entwicklungsziel Bildung – über dessen Erreichen ein entsprechendes Bildungszertifikat wie etwa ein Schulabschluss nur teilweise befindet – mit einem vermeintlich hohen Anspruch von Kunst kurzgeschlossen. Weil die Erfüllung dieses Anspruchs traditionell der (bürgerlichen) Hochkultur auf der einen und der künstlerischen Avantgarde auf der anderen Seite zugesprochen wird, sind es bis heute vor allem kanonisierte Werke der E-Kultur, die als bildungsrelevant anerkannt werden –nicht nur im Sinne eines kulturellen Bildungskanons, sondern auch im Sinne von Aufklärung und Subjektbildung. Drittens erhält Kultur durch diese Kopplung an Bildung eine erzieherische, ja disziplinierende Qualität, in der sich die Vision einer Verbesserung des Subjekts mit der protestantischen Ethik verbindet: Affektive Überwältigung und sinnliche Freude, die häufig gerade den populäre Formen zugesprochen werden, gelten tendenziell als suspekt (vgl. Hornberger 2017). Nutzloser, verschwenderischer Spaß ist nur Unterhaltung, erst die „Freude am Erlernten“ (vgl. das Statement von Wanka auf der Homepage von „Kultur macht stark“) erscheint als Bildung.

Es zeigt sich, dass im Bereich der Kulturellen Bildung die beiden zentralen Begriffe Kultur und Bildung und ihre normative Kraft nicht immer ausreichend reflektiert und diskursiviert werden, auch die eigene Rolle in der Konzeption und Vermittlung dieser Normen wird zu selten problematisiert. Darüber, was bildende Kultur und was nur Spaß ist, wird in einem hegemonialen Diskurs entschieden, an dem die Mehrzahl der Rezipient*innen nicht beteiligt ist, schon gar nicht diejenigen, die von den mächtigeren Sprechern als bildungsfern oder bildungsbenachteiligt bezeichnet und damit sozial abgewertet werden. Die verschiedenen Institutionen der formalen und non-formalen Bildung und ihre Vertreter*innen hingegen sind daran beteiligt, und viel zu oft bestätigen und perpetuieren sie, oft ohne dies zu bemerken, tradierte Wertungsunterschiede. Zum Beispiel, indem von Künsten gesprochen wird, wenn Kultur gemeint ist und indem Medienrezeption nicht als Wahrnehmen eines kulturellen Angebots definiert ist. Weil Kultur identitätsstiftend wirkt, ist mit solchen Bewertungen von Kultur auch die Frage individueller und gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Nutzer*innen verbunden und damit auch die Frage von Macht.

 

Musik-Kultur-Pädagogik

Eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Musikpädagogik kann – um nicht zu sagen: sollte – bezüglich ihres Gegenstands, aber auch bezüglich ihrer eigenen Position in der Kultur reflexiv agieren. Erst durch diese doppelt gedachte Reflexivität nach innen und nach außen kann sie auf eine sich ständig verändernde Musikkultur reagieren und sich selbst als Teil dieser Kultur wahrnehmen. Dafür benötigen Musikpädagog*innen auf der einen Seite einen breiten Begriff von Musik, nicht nur was die Genres, sondern auch was ihre Einbettung in Medien, Inszenierungen, Alltagspraxen betrifft. Denn Musik, ob die des 17. oder die des 21. Jahrhunderts, ist mehrfach auf Welt bezogen: Sowohl der Kontext der Produktion als auch der der – historischen oder aktuellen – Rezeption ist durchzogen von gesellschaftlichen und geschichtlichen Strukturen und Wirkungen. Wenn Bildung etwas mit aktuellen Weltverhältnissen zu tun haben soll, dann ist es zwingend, Musik, wenn sie im Kontext Bildung verortet wird, als auf diese Welt bezogen zu verstehen. Dafür braucht die Musikpädagogik Kenntnisse über Ökonomien und Politiken, Kulturen und Praxen der Vergangenheit und - insbesondere - der Gegenwart. Denn dann muss sie mehr vermitteln als Noten, kanonische Werke und instrumentale Fähigkeiten, sie muss kulturpädagogisch-interdisziplinär auch die Bezugsfelder und Kontexte der Musik als gleichwertige Faktoren begreifen.

Auf der anderen Seite ist eine kulturwissenschaftlich geprägte Musikpädagogik in der Lage, ihre eigene hegemoniale Position im Diskurs zu reflektieren und gerade darum wahrzunehmen und anzuerkennen, welchen kulturellen Background, welche Wissensbestände, welche Kennerschaften und Kompetenzen diejenigen mitbringen, die häufig leichtfertig als bildungsfern oder als Nicht-Kulturnutzer bezeichnet und zugleich als defizitär abgewertet werden. Eine Musik-Kultur-Pädagogik ist – folgt man der Argumentation Böhmes, dass Kulturwissenschaft notwendigerweise eine selbstreflexive Haltung voraussetze(vgl. Böhme 2001:2) – keine Stellvertreterin eines hegemonialen Kulturbegriffs, der die exkludiert, die er eigentlich ermächtigen will. Zu einer solchen Haltung gehört auch der Verzicht auf ein gewisses Maß an disziplinärer Selbstsicherheit und die Fähigkeit und Bereitschaft, sich zur Disposition zu stellen, sich von einer Position des Wissens auf eine des Fragens und Suchens zu begeben – mit der Chance, durch mehr und andere Perspektiven, in einer gemeinsamen Suche, den eigenen Gegenstand neu zu entdecken.

Verwendete Literatur

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  • Assmann, A. (2004): Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften. Mit einem nachfolgenden Briefwechsel (= Hildesheimer Universitätsreden, N.F., Heft 2). Hildesheim: Universitätsverlag.
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  • BMBF (2017): Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung, Bundesministerium für Bildung und Forschung. Verfügbar unter: http://www.buendnisse-fuer-bildung.de/. [16.04.2017].
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  • Frith, S. (1992): Zur Ästhetik der Populären Musik. In: PopScriptum: 01 – Begriffe und Konzepte. Hrsg. vom Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin. Verfügbar unter: https://www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst01/pst01_frith.pdf [07.05.2017].
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  • Lehmann, H.-T. (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren.
  • Maase, K. (1992): BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren (= Schriftenreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung) (1. Aufl.). Hamburg: Junius.
  • Maase, K. (2012): Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt am Main: Campus.
  • Mandel, B. (Hrsg.) (2016): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens (= Kultur- und Museumsmanagement). Bielefeld: transcript.
  • Müller, E. (1999): Paarungsspiele. Beziehungsshows in der Wirklichkeit des neuen Fernsehens (= Sigma-Medienwissenschaft, Bd. 25). Berlin: Ed. Sigma.
  • Renz, T. (2015): Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development (= Kultur- und Museumsmanagement). Bielefeld: transcript.
  • Renz, T. (2016): Nicht-Besucher im Kulturbetrieb. Ein Überblick des aktuellen Forschungsstands und ein Ausblick auf praktische Konsequenzen der Publikumsforschung in Deutschland. In: B. Mandel (Hrsg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens (= Kultur- und Museumsmanagement) (61–78). Bielefeld: transcript.
  • Rosa, H. (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (=Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1760). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Schläbitz, N. (2016): Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen. Vom Neuhumanismus als Leitkultur, von der »Wissenschaft« der Musik und von anderen Missverständnissen. Göttingen: V&R Unipress.

Anmerkungen

Dieser Beitrag erschien erstmals in: Cvetko, Alexander J,/Rolle, Christian (Hrsg.) (2017): Musikpädagogik und Kulturwissenschaft (19-36). 1. Aufl. Münster; New York : Waxmann. Kubi-online dankt den Herausgebern und dem Verlag für die Veröffentlichungsrechte des Beitrags auf www.kubi-online.de.

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Barbara Hornberger (2020/2017): Musik-Kultur-Pädagogik. Kulturwissenschaftliche Fragen und Perspektiven. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/musik-kultur-paedagogik-kulturwissenschaftliche-fragen-perspektiven (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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